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Kapitel 7

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Als er diesen Entschluss fasste und seiner Wut Türen und Tore öffnete, schwand das Schwächegefühl aus seinen Beinen. Die Tränen versiegten, sein Schwur gab ihm Trost, und solange er nur daran dachte, fühlte er sich nicht mehr, als würde er haltlos fallen, nachdem man ihm den Boden unter den Füßen fortgerissen hatte.

»Steh auf!« Der Rattenkönig gab ihm einen Tritt, gleichzeitig griff er nach der Kordel, die seine zerfressenen Beinkleider oben hielt. »Los, helft ihm auf die Beine und zieht ihm die Hose aus!«

Grob packten die anderen ihn an den Armen und zerrten ihn zu sich hoch. Da überkam ihn eine brodelnde Wut und er stieß einen der Handlanger mit einem Knurren wütend die Schulter in den Magen. Sie hatten nicht damit gerechnet, hatten ihn für gebrochen gehalten. Darcar trieb ihn über das Gerüst, der Bursche stieß gegen das Geländer, das endgültig nachgab und nach unten segelte. Die verbleibenden Vier zogen erschrocken den Atem ein. Ihr Kamerad versuchte noch, nach Darcar zu greifen, der mehr Glück als Verstand hatte und gerade noch das Gewicht zurückverlagern konnte, ehe er mit in die Tiefe stürzte. Der Schrei erschall lange, länger als gedacht. Der Aufprall war gar nicht zu hören. Nicht dort oben. Irgendwann brach einfach das hilflose Gekreische ab.

Stille trat ein. Darcar atmete schwer, damit hatte er nicht gerechnet, das hatte er nicht einmal gewollt. Als er den Kopf wandte, starrten die anderen ihn verblüfft an. Doch dann trat Zorn in die Augen des Rattenkönigs. »Schmeißt ihn hinterher!«, zischte er.

Darcar warf sich herum und rannte hinein, das wackelige Gerüst hinab. Seine Schritte hallten laut poldern durch den runden Raum des Turmes. Unter ihm schwankten die Stufen stark, als seine Verfolger ihm nachhechteten, sodass er aus dem Gleichgewicht geriet und sich am Geländer festhalten musste.

Er wartete nicht, dass sie ihn einholten, kletterte über die Eisenstangen und sprang von Stahlträger zu Stahlträger, bis er einige Stufen tiefer wieder auf das Gerüst gelangte und mit einem guten Vorsprung weiter rennen konnte. Zwei der Handlanger hatten ihm nacheilen wollen, hingen nun hilflos in der Höhe, während der Rattenkönig und der Blonde mit der Wollmütze ihm auf den Stufen nacheilten.

»Ihr Idioten!«, schimpfte ihr Anführer. »Fangt ihn!«

Darcar stürmte aus dem Turm auf die verlassene Straße. Er rutschte in seiner Hast auf dem Frost aus, der sich schleimig über die Pflastersteine gelegt hatte, gehetzt blickte er über die Schulter, als die Schritte seiner Verfolger erklangen. Sie sahen sich um, fanden ihn auf der Straße.

»Hinterher!« Der Rattenkönig zeigte auf ihn, sie rannten los.

Darcar nahm die Beine in die Hand, er wollte sich gar nicht ausmalen, was sie mit ihm anstellen würden, sollten sie ihn in die Finger bekommen, nachdem er einen von ihnen in den Tod gestoßen hatte. Der Tote lag glücklicherweise auf der anderen Seite, sodass Darcar an dem aufgeplatzten Körper gar nicht erst vorbei kam. Er wollte nicht so genau wissen, wie der Junge jetzt aussah. Aber aufstehen würde er bestimmt nicht mehr, nie mehr.

Darcar wusste gar nicht, wohin er rannte. Einfach nur weg. Sie trieben ihn durch die Straßen, er schlug Haken, bog in Gassen ein, setzte sich zweimal selbst vor eine Sackgasse und entkam durch ein eingeschlagenes Fenster. Doch er schaffte es einfach nicht, genügend Abstand zwischen sich und den Rattenkönig zu bekommen, dass er sich hätte verstecken können.

Irgendwann wurden sie müde, genauso wie er, doch Darcar war beflügelt von Angst und Wut – außerdem hatte er noch immer mehr auf den Rippen als diese dürren Kerlchen, auch wenn er und Veland nichts gegessen hatten.

Als Darcar hinter sich keine polternden Verfolger mehr hörte, erlaubte er es sich, kurz zu verschnaufen. Seine Lunge brannte wie Feuer, sein Durst war nagend. Immer wieder musste er schlucken, doch das befeuchtete seine trockene Kehle keineswegs.

Er lehnte sich einen Moment an eine Hauswand in einer dunklen und feuchten Sackgasse, beruhigte seinen schweren Atem und lauschte dann angestrengt. Er hörte … nichts. Stille.

Vorsichtig lugte er hervor, die Straße war wie leergefegt. Hatten sie aufgegeben? Das glaubte er nicht, viel eher ging er davon aus, dass sie einmal falsch abgebogen waren.

Er schlüpfte hervor, am Ende seiner Kräfte, hustete unterdrückt und taumelte mit schmerzender Brust und Beinen an den Häusern entlang, musste sich abstützen.

Am Ende der Straße wartete der Kanal auf ihn, das trübe Tageslicht spiegelte sich in der verdreckten Wasseroberfläche. Er hatte Durst. So wahnsinnigen Durst, dass er in Betracht zog, das Wasser einfach zu trinken. Alles in ihm schrie förmlich danach. Und obwohl er es besser wusste, konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Nur ein Schluck, sagte er sich. Das würde ihn schon nicht umbringen. Nur einen Schluck, damit es ihm besser ging.

Er sank am Kanal erschöpft auf die Knie und beugte sich hinab, schöpfte mit einer zur Kelle geformten Hand dreckiges Wasser, das abgestanden und faul stank. Es war ihm gleich, auch wie eiskalt es war, war ihm gleich. Er würde einen Schluck trinken und dann nach Veland suchen.

Sein kleiner Bruder war in Sicherheit, das sagte er sich immer wieder vor. Es war am heutigen Tage so viel Grausames geschehen, dass es einfach so sein musste. Wenn nun auch noch Veland etwas geschehen wäre…

Nein, so grausam konnte das Schicksal nicht sein. Nicht einmal zu ihm, obwohl es in den letzten Tagen wirklich übel mit ihm gespielt hatte. Aber Veland ging es gut! Es musste einfach so sein.

Und er würde ihn wiederfinden!

Das Wasser schmeckte erstaunlich normal, solange er den Geruch nicht einatmete, nur der darin schwimmende Dreck war gewöhnungsbedürftig. Er rann kratzend seine Kehle hinunter. Aus dem einem Schluck wurden zwei, dann drei. Er konnte nicht aufhören, sein Durst war gerade erst entfacht. Immer wieder schöpfte er die eiskalte Flüssigkeit, bis ihn ein Tritt in den Rücken geradewegs in den Kanal katapultierte.

Er brach durch die Oberfläche und versank komplett, wusste im ersten Moment nicht, was geschehen war, kam sich unwirklich vor. Der Schmerz war kaum zu beschreiben, das Wasser war zu kalt. Als wäre er in eine Wanne voll Glasscherben gestoßen worden, die durch seine Haut bis zu seinen Knochen schnitten. Unwillkürlich schnappte er nach Luft, doch die schwarzen Wassermassen waren längst über ihm zusammengeschlagen, verschluckten ihn ganz. Er atmete Wasser, es brannte fürchterlich. Blind strampelte er in der schwerelosen Eiseskälte, strampelte, ruderte mit dem Armen, um an die Oberfläche zu gelangen. Sein Mantel wollte ihn nach unten zerren. Panik erfasste ihn, er konnte nichts sehen, nichts hören, spürte etwas an sich vorbei schwimmen. Ratten? Fische? Etwas streifte ihn und er zuckte heftig zusammen.

Mit zwei starken Armzügen, die sich durch die Kälte anfühlten, als wollte er sich einen Berg hinaufzerren, brach er wieder durch die Wasseroberfläche und holte laut Atem, saugte die Luft tief in seine Lungen. Doch die Kälte raubte ihm den Atem sofort wieder.

Dann hörte er das Gelächter und drehte sich um, blinzelte die Tropfen fort, die von seinen nassen, schwarzen Haaren über sein Gesicht perlten. Der Rattenkönig hielt sich vor Gelächter den flachen Bauch, seine verbliebenen Kameraden ebenso. Sie wirkten nicht außerordentlich in Trauer über den Verlust ihres Freundes, aber sie hatten große Freude daran, Darcar weiter zu quälen.

»Ich bring dich um!«, brüllte Darcar wutentbrannt und – an Ermangelung anderer Möglichkeiten – spritzte er ihm eine Fontäne Wasser entgegen, die ihn nicht erreichte.

Darcar schwamm an den Rand, es waren nur zwei Züge. Er zitterte so stark am ganzen Leib, dass er sich kaum bewegen konnte, sein Körper wurde steifer und steifer, als ob er langsam zufror. Genauso fühlte es sich an, er erfror. Wenn er nicht sofort aus dem Wasser stieg und sich in eine trockene, warme Decke hüllte, würde niemand mehr nach Veland suchen. Zumindest niemand, der Gutes im Schilde führte.

Doch als Darcar den Rand packte, sprang der Rattenkönig heran und trat ihm auf die Finger. Darcar brüllte auf, zerrte seine Hand unter dem Fuß hervor, dabei schürfte er sich die Haut über den Knöcheln auf.

»Hurensohn!«, spie er aus. Dieses Wort hatte er noch nie in seinen Mund genommen, aber es fühlte sich gut an. »Lass mich raus!«

Der Rattenkönig lachte wieder, dann wurden seine dunklen Augen ernst. »Ich denke nicht im Traum daran, Mistgeburt!«

Der Wichser betrachtete ihn seelenruhig und sah dabei zu, wie Darcar langsam erfror. In seinen Augen konnte man lesen, dass er Freude und tiefste Genugtuung dabei verspürte.

Darcar sah ihn hasserfüllt an, dann versuchte er, an eine Stelle Kanal aufwärts zu schwimmen, selbstverständlich waren die Handlanger des Rattenkönigs schneller dort und wollten ihm wieder auf die Hände treten. Einer von ihnen hob ein paar Kieselsteine auf und bewarf Darcar damit, der einen Arm hochriss, um sein Gesicht zu schützen.

»Fickt euch!«, rief er. Etwas anderes als Beleidigungen blieb ihm nicht mehr übrig. Wenn er nicht aus dem Wasser käme, wäre es ganz schnell vorbei. Er spürte seine Füße kaum noch, sein Herzschlag wurde seltsam langsam, ruhiger. Er fühlte sich müde, vorher schon, aber plötzlich noch mehr.

Er könnte auf die andere Seite schwimmen, dort würden sie ihn nicht erreichen, nur müsste er dann wieder zurückschwimmen, um nach Veland zu suchen. Im Moment blieb ihm nichts anderes übrig, zumindest würde ihn der Kanal dann von dem Rattenkönig trennen.

»Wo willst du hin?«, riefen sie süffisant, lachten noch mehr, als er sich abwandte.

Seine Arme waren so steif, dass er kaum vorankam, die andere Seite schien eine Ewigkeit entfernt und wollte auch nicht näherkommen. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr, Steine prasselten regelrecht wie Regen auf ihn nieder, plumpsten ins Wasser neben ihn. Darcar war so schwach, so eingefroren, dass er immer wieder kurz untertauchte. Sein Kopf schmerzte bald darauf durch das eiskalte Wasser, als habe ihn jemand mit einem Hammer bearbeitet. Immerhin spürte er nun nicht mehr den brennenden Schnitt auf seiner Wange – oder seine schmerzende Nieren- und Magengegend. Genau genommen spürte er plötzlich gar nichts mehr.

»Schwimm ruhig rüber!«, rief ihm der Rattenkönig nach. »Und bleib da, während wir deinen Bruder aus seinem Versteck zerren. Lauf nur davon, Feigling! Nur zu! Dann nehmen wir eben erst ihn!«

Sie wollten, dass er umdrehte. »Ich bin kein Feigling«, knurrte er leise zu sich selbst. Tot würde er Veland allerdings auch nichts nützen. Er schwamm weiter, würde sich etwas einfallen lassen. Noch hatten sie Veland nicht!

Der Rattenkönig lachte ihn aus. »Seht doch wie er schwimmt! Gleich geht er unter wie ein Stein!«

»Und schwimmt dann als Eisscholle weiter«, kommentierte ein anderer.

Ihr Gelächter verstummte plötzlich, als ein seltsames Geräusch in den Straßen ertönte. Darcar nahm es selbst wahr, doch er konnte sich nicht fragen, was es zu bedeuten hatten. Er fixierte sein Ziel und musste sich konzentrieren. Nur mit Mühe und Not hielt er das Kinn über Wasser, plötzlich wurde ihm innerlich ganz seltsam warm, er wurde müde, konnte kaum die Augen aufhalten.

»Scheiße«, zischte der Rattenkönig. »Lasst uns abhauen!«

Schweres Hufgetrampel erhob sich in der Stadt, kam näher. Da rannten die anderen Jungen davon, auf denselben leisen Sohlen, auf denen sie sich an Darcar herangeschlichen hatten.

Darcar wusste nicht, was vor sich ging. Es schien auch gleich, denn als er das nächste Mal untertauchte, schaffte er es allein nicht wieder hochzukommen, er versank einfach.

Blut für Gold

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