Читать книгу Blut für Gold - Billy Remie - Страница 14
Kapitel 10
ОглавлениеEs regnete am nächsten Tag in Strömen, als hätte der starke Sturm am Vortag die Winterkälte vertrieben. Prasselnd schlugen die dicken Tropfen auf den Pflastersteinen der Straße auf, es wurde den ganzen Tag über nicht richtig hell, sodass im Haus die Laternen und Kerzen brannten.
»Bei dem Wetter kommt nie jemand rum, ihr könnt euch ohne Vorsicht frei bewegen«, hatte Elmer am Morgen gesagt und Darcars Blick gesucht.
Doch Darcar hatte brütend seinen Haferschleim gelöffelt, seit dem Vortag vermied er es trotzig, Elmer wahrzunehmen, er blieb wütend.
»Sturkopf«, hatte Veland ihn genannt, ihm war die angespannte Stimmung natürlich nicht entgangen, doch niemand erzählte ihm, was zwischen ihnen vorgefallen war. Dennoch schimpfte er nur mit Darcar, als ob es immer seine Schuld wäre, wenn er mit jemandem stritt. »Du bist eben ein Hitzkopf und regst dich über alles auf! Es ist fast unmöglich, dich nicht zu verärgern!«
Veland äffte damit nur die Worte ihres Vaters nach, trotzdem brachte es Darcar zum Denken. Nachts konnte er ohnehin nicht schlafen, immer wieder wachte er aus Alpträumen auf und wälzte sich unruhig umher. Staubi die Spinne leistete ihm dabei Gesellschaft. Er nannte sie so, weil sie immer ganz verstaubt war, wenn sie aus ihrer Ritze krabbelte, ihr Körper sah dann aus wie eine einzige Staubfluse. Veland mochte das Vieh nicht, doch das hielt ihn nicht ab, dicht gedrängt an Darcar zu schlafen. Sie hatten beide nicht gerade Angst vor Spinnen, allerdings hatten sie auch keine nennenswerte Zuneigung ihnen gegenüber.
Am Morgen und auch am Mittag war Darcar noch immer nicht bereit, Elmer zu verzeihen. Er wusste, dass er zu stur, zu schnell eingeschnappt war, das hatte ihn zusätzlich zu gewissen anderen Tatsachen immer wieder in Schwierigkeiten mit anderen Kindern gebracht. Doch jedes Mal, wenn er den Entschluss fasste, Elmer zu signalisieren, dass er ihm nicht grollen wollte, kam er nicht aus sich heraus und reagierte mit seiner üblichen, abweisenden Art, obwohl er gar nicht mehr wütend sein wollte. Es fiel ihm schwer, Fehler einzugestehen, den ersten Schritt zu machen.
Sie durften sich im Haus umsehen, Elmer war es gleich. Darcar erklomm mit Veland die Stufen, während der Regen so hart und schwer auf das Dach einschlug, dass es beinahe wie Hagel klang. Das Prasseln übertönte sogar die knarzenden Stufen der Treppe.
Oben war es sehr staubig und verlassen, Elmer war wirklich nicht oft in diesen Räumen. Es gab eine winzige Kammer, in der noch ein Keramiktopf für die Notdurft stand, und zwei Schlafzimmer, dort fanden sie eingebrochene Betten ohne Matratzen vor, einen zerbrochenen Stuhl, über den sich mehr von Staubis Artgenossen hergemacht hatten. Dicke, weiße Spinnenweben zogen sich über alles und eine fette Staubschicht lag auf den Kommoden. Das meiste war ausgeräumt, geplündert. Doch in einem der Zimmer endeckten sie ein paar von Elmers Kisten. Veland machte sich sofort neugierig darüber her, seine Augen leuchteten, als er einen Blick hineinwarf.
»Darc! Schau nur!«
Darcar leuchtete in die Kiste, verstaubte Bücher stapelten sich darin. Märchensammlungen, wie Veland sie in der Bibliothek gefunden hatte.
»Oh die kenne ich noch nicht!« Begeistert hob er ein Buch nach dem anderen heraus und las sich über die verschiedenen Titel.
»Sie sehen sehr alt aus«, bemerkte Darcar, »glaube, sie stammen aus Zeiten, lange bevor Vater – sogar bevor Großvater geboren war.«
Das brachte Velands Augen nur umso mehr zum Leuchten. Wie einen Schatz drückte er ein paar der heraus genommenen Bände an sich und sah hoffnungsvoll zu Darcar auf. »Meinst du, ich darf sie lesen?«
Bestimmt, Elmer schlug Veland überhaupt nichts ab, ließ sich ständig um den Finger wickeln. »Fragen wir ihn.« Darcar lächelte mutmachend, dann gab er Veland die Laterne, um die Kiste aufzuheben und nach unten zu tragen.
»Habt ihr was gefunden?« Elmer kam gerade durch die Tür, lüftete seinen triefendnassen Umhang, als sie die Treppe wieder hinabstiegen.
»Bücher«, erklärte Darcar knapp.
»Darf ich sie lesen, Elmer? Ich bin auch ganz vorsichtig, versprochen! « Veland sprang die letzten Stufen aufgeregt hinunter und blickte mit großen Augen zu Elmer auf, der ihm lächelnd die nasse Hand auf den Kopf legte. »Natürlich. Sie gehören dir, wenn du willst. Ich hab sie ohnehin ganz vergessen, nachdem ich sie hundertmal durchgelesen habe.« Er lachte auf.
Darcar stellte die Kiste an die Kellertreppe, er würde sie später runtertragen. Veland konnte sein Glück kaum fassen und kniete sich neben seine neue Errungenschaft, aufgeregt kramte er darin herum und suchte, als könnte er sich nicht entscheiden, welches er zuerst lesen wollte.
Darcar ging unsicher und mit stockendem Gang hinüber zu Elmer, der seinen Umhang auszog und an den Haken neben der Tür hing. Freundlich sah er Darcar entgegen.
»V… V liebt Märchen.« Darcar wusste nicht, was er sonst sagen sollte, er zuckte mit den Achseln und stellte sich neben Elmer, sie beobachteten Veland, der sie auszublenden schien, in seiner eigenen Welt war. Ihnen gab er einen Grund, sich nicht ansehen zu müssen.
»Haben wir die nicht alle geliebt?« Elmer schmunzelte auf eine freundliche Art, die Darcar ganz besonders intensiv in eine andere Richtung blicken ließ.
»Ja, nein, aber er…« Darcar seufzte leise. »Er liebt sie wirklich, nicht wie andere Kinder, er könnte stundenlang lesen und lesen, ohne müde zu werden. Ich glaube, er wird sie auch noch lieben, wenn er alt und faltig ist.« Er verstummte, als ihm klar wurde, dass sie vermutlich niemals so alt werden würden. Alter war plötzlich etwas, das nicht mehr selbstverständlich schien, sondern Luxus war.
Elmer sah Darcar an, während er gesprochen und dann geschwiegen hatte, betrachtete ihn seltsam intensiv, als wollte er ihn beschwören, dass er ihn ansah.
»Mutter hat ihm immer vorgelesen. Uns beiden.« Darcar senkte den Blick auf seine Fußspitzen, schluckte vernehmbar einen Kloß im Hals runter.
»Ist sie tot?«, fragte Elmer geradeheraus.
Darcar nickte. »Sie starb im Bett, vor ein paar Jahren, am Fieber, ist nicht mehr aufgewacht.« Warum er das erzählte, wusste er nicht, es war seine Art, sich zu entschuldigen.
Sie schwiegen einen Moment, beobachteten beide Veland, während sie selbst nur untätig im Raum standen. Keiner traute sich, sich zu rühren.
Bis Elmer sich schließlich mit einem Einatmen rührte und sie locker fragte: »Was haltet ihr davon, heute endlich mal zu baden?«
Veland hielt mit zwei Büchern in den Händen inne und blickte Elmer über die Schulter an. Auch Darcar fuhr zu ihrem Gastgeber herum.
»Ich hab den Regen aufgefangen, das Wetter ist echt ein Traum!«, Elmer deutete nach draußen, »Und es sind schon genug Fässer voll, um eine Wanne zu füllen. Was haltet ihr davon?« Er sah Darcar an. »Besonders du könntest ein heißes Bad gut vertragen, der feuchtwarme Dampf wird deiner Lunge guttun.«
Tatsächlich hielt sich der Husten vor allem nachts hartnäckig. Darcar sah zu V und hob die Augenbrauen hoch. »Was meinst du?«
Veland nickte eifrig, doch dabei sah er zwischen ihnen argwöhnend hin und her, als wollte er sich lieber nicht von seinen Büchern lösen.
Elmer bemerkte seinen Blick und lachte. »Keine Sorge, schau du ruhig weiter die Kiste durch, ich bereite das Bad vor, ja? Darcar?«
»Hm?« Er drehte sich wieder zu Elmer um.
»Kannst du in der Küche Holz in den Ofen legen? Mach ihn richtig schön heiß, ja?« Elmer öffnete wieder die Tür, sofort wurde es feuchter im Inneren. »Ich hole die Wanne, dann das Wasser, um es zu erhitzen.«
Darcar nickte und ging in die Küche, froh darüber, etwas zu tun zu haben. Er hatte schon unzählige Male für Magda den Ofen angeheizt, er konnte das beinahe blind. Und für eine Weile war er abgelenkt von all seinen Gedanken und inneren Plänen.
*~*~*
Nachdem er sich um das Feuer gekümmert hatte, saß er mit einem Becher Kräutertee auf der Treppe und lauschte dem Regen. Das Geräusch entspannte ihn, wirkte irgendwie tröstend. Die Tür stand offen, Wasser tropfte wie ein Vorhang vom Vordach, sodass er sich im Haus eingeschlossen aber nicht eingesperrt vorkam. Im Laden standen überall Kerzen, die warmes Licht spendeten, Veland saß in einem alten Sessel hinter dem Tresen und hatte sich die Laterne geschnappt, um in deren kräftigem Schein lesen zu können. Er war völlig versunken. Elmer ging ein paar Mal raus und rein, um einen großen Suppenkessel mit Wasser zu füllen. Wenn er das schwere Gefäß wieder hereintrug, waren seine Arme enorm angespannt, seine Muskeln beinahe bis auf das Doppelte gewachsen. Darcar nippte an seinem Tee und betrachtete immer wieder besonders intensiv Elmers Arme. Dessen ganzer Leib war schlank, aber stark, das fand Darcar ziemlich toll.
Gleichwohl wusste er, dass er mal wieder mit dem Feuer spielte. Er versuchte, nicht zu offensichtlich hinzusehen, senkte immer wieder mit mahlenden Kiefern den Blick. Dass er manchmal zu deutlich andere Jungen anstarrte hatte ihm in der Schule ständig Probleme eingebracht. Dass er zudem ein Hitzkopf war, der sofort auf jede Provokation einging, hatte es natürlich nicht besser gemacht.
Dabei war er eigentlich immer beliebt gewesen, als Stammhalter des Bahnbarons wollten alle seine Freunde sein. Doch Geld regelte nun mal nicht alle Dinge. Später, als seine Freunde dann Fräulein Agathas – ihre Lehrerin – Dekolleté begafft und ständig darüber geredet hatten, wurde alles anders. Denn es wurde sehr schnell sichtbar, dass Darcar ihre neuen Interessen nicht teilte. Und er hatte zuerst nicht verstanden, warum er ihnen etwas hätte vormachen sollen. Zu spät war ihm bewusst geworden, dass seine angeblichen Freunde ihn nur unter gewissen Bedingungen akzeptierten. Er hätte noch so reich sein können, als er nicht auf die Brust ihrer Kalligrafie Lehrerin gesabbert und gewichst hatte, gehörte er nicht mehr dazu. War abnormal. War widerwärtig.
»Hast du mich etwa angegafft, van Brick? Hm? Gefällt dir das besser? Du widerlicher Perverser!«
In ihrer Nachbarschaft lebte ein Paar, ein Arzt und ein Anwalt, beide arbeiteten für seinen Vater. Sie hatten ihn verstanden, als sie zum zehnten Mal seine Platzwunden versorgt und auf Bitten seines Vaters hin nachgeforscht hatten, was auf einmal in der Schule los war. Kinder konnten grausam sein, sagten sie zu ihm, aber später würde es auch nicht viel besser werden. Sie hatten gelacht, wollten ihn aufmuntern. Er war nur wütend.
War es immer noch.
Er konnte einfach nicht verstehen, warum es so gekommen war, wie es kam. Warum man ihn plötzlich mied, anders behandelte, sich vor ihm ekelte. Er hatte sich nicht verändert, im Gegenteil, alle anderen hatten sich verändert, plötzlich waren Mädchen nicht mehr doof und alles drehte sich um heimliches Gefummel auf irgendwelchen Banketten. Darcar war irgendwie stehen geblieben, hatte sich zwar für Jungs interessiert, aber es gab immer Dinge, die wichtiger waren. Gleichwohl er hin und wieder verliebt gewesen war, flüchtig, zaghaft, immer nur ein Sehnen aus der Ferne. Vielleicht, weil seine Mutter in der Zeit, als sich alle um ihn herum veränderten, im Bett gelegen, um ihr Leben gekämpft und den Kampf schließlich verloren hatte.
Vielleicht, weil er wirklich anders war, kein Tier, kein Schwein, das auf dem Schulhof mit Errungenschaften prahlte und die Ehre einer jungen Dame damit befleckte. Er glaubte ohnehin, dass die Hälfte davon gelogen war. Einer seiner Klassenkameraden hatte behauptet, ein Mädchen aus dem Internat direkt nebenan verführt zu haben. Das Gerücht ging durch die Stadt, das Mädchen hatte sofort einen Ruf als Flittchen weg, bis ihr Vater den Jungen bei einer Stadtversammlung vorgeführt und eingeschüchtert hatte, woraufhin dieser zugab, gelogen zu haben. Trotzdem hatte das Mädchen fortan diesen gewissen Ruf, leicht zu haben zu sein. Und Darcar verstand bis heute nicht, warum nur sie eine Hure sein soll, wenn doch auch der Junge angeblich mit ihr geschlafen hatte. Mädchen durften nicht vor der Ehe befleckt werden, dann wären sie unrein, aber für Jungen konnte es nicht früh genug passieren, dann waren sie die Helden der Stadt.
Er verstand es nicht, nichts davon. Warum bis zur Ehe warten? Warum galt das nur für Mädchen?
Aber genau diese Einstellung hatte ihm noch mehr Hass eingebracht. »Was weiß eine Schwuchtel schon davon?«
Schwuchtel. Darcar hatte das Wort nicht gekannt. Sein Vater sagte, es sei ein niveauloses Wort, das nur von geistlosen Menschen genutzt wurde. Von Raufbolden und Taugenichtsen.
Tja, die Kinder der Elite dieser Stadt hatten Darcar tagtäglich mit diesem Wort beschimpft. So viel zur Elite…
Sein Vater hatte mit ihm nie direkt darüber gesprochen, er schämte sich aber auch nicht für ihn, das zeigte er durch Taten. Darcar hatte ihn jedoch ausdrücklich gebeten – das heißt, ihm eines Abends mit wütendem Gebrüll das Versprechen abgenommen – sich nicht einzumischen. Es war seine Angelegenheit und er schämte sich, wenn sein Vater seine Kämpfe für ihn austragen musste. Er hatte vorgehabt, es durchzustehen. Und ihnen gezeigt, immer wieder aufs Neue, dass er sehr wohl männlich war. Zumindest männlich genug, ihnen die Visagen zu polieren. Es war anstrengend gewesen und Darcar war oft verzweifelt, aber wann immer er traurig in seinem Zimmer gesessen hatte, gerade erst die Mutter verloren und von allen anderen verachtet, war Veland zu ihm gekommen, hatte ihn gekuschelt und ihm einen Schmatzer gegeben, um ihm zu zeigen, dass er ihn nicht widerwärtig fand. Seitdem waren sie nicht nur Brüder, sondern auch beste Freunde. Irgendetwas verband sie, mehr als es sie mit ihrem Vater oder Evi verbunden hatte. Vielleicht war es schlichtes, stummes Verständnis.
Und vielleicht, dachte Darcar nun in Elmers Laden, hatte ihre Verbannung nicht nur schlechte Seiten. Immerhin war er jetzt nicht mehr das Gespräch der Stadt und musste sich dem Hass seiner Mitschüler nicht mehr aussetzen. Na ja, vielleicht war er doch noch Stadtgespräch, aber nun aus völlig anderen Gründen. Gründen, die andere noch bereuen würden, sobald er wusste, wie.
Er hetzte sich nicht, er hatte Zeit. Viel Zeit. Und je mehr Zeit verging, je weniger würden sie damit rechnen. Eigentlich wartete er sogar darauf, dass sie ihn vergaßen.
Wären da nicht die Meuchler, die man auf sie angesetzt hatte. Aber solange Elmer ihnen Schutz bot – und solange Darcar diese wandelnden Schatten noch nicht selbst gesehen hatte – fühlte er sich eigentlich recht sicher.
»Das Wasser ist bereit«, riss Elmer ihn aus seinen Gedanken. Er kam in den Laden und schloss gerade die Haustür. »Kommt!«
Er winkte sie in die Küche und sie folgten ihm wie Entenküken der Mutter. Die Wanne stand in der Mitte des schmalen Raumes und ließ nur wenig Platz. Das Wasser dampfte und roch nach Gewürzen.
»Ein Kräuterbad«, erläuterte Elmer, als er ihre fragenden Blicke und ihr Schnüffeln bemerkte. Er grinste sie stolz an. »Hat meine Großmutter immer für uns gemacht, wenn einer mal eine Lungenentzündung hatte.«
Veland kletterte auf einen Küchenstuhl. »Wie viele Brüder hattest du, Elmer?«
»Sechs!«, antwortete Elmer stöhnend. »fünf ältere, einen jüngeren.«
»So viele!« Veland staunte nicht, er dachte wie immer stirnrunzelnd darüber nach, fast als träumte er plötzlich davon, wie es wäre, mit so vielen Geschwistern zu leben.
»Komm!« Darcar packte ihn sanft an seinem Pullover. »Geh du zuerst, ja?«
»Ihr könnt beide gehen«, meinte Elmer fröhlich und sah in den Kessel, der auf dem Ofen stand. Er machte noch mehr Wasser heiß, um nachgießen zu können. »Die Wanne ist groß genug.«
Das war sie in der Tat, doch Darcar stockte plötzlich nervös. Nicht wegen Veland, er hatte Veland ständig gebadet, vor allem seit Mutter tot war und Magda alle Hände voll zu tun hatte, den kränklichen Evi zu umsorgen. Nein, er stockte, weil er sich nicht vor Elmer ausziehen wollte. Nicht in dessen Gegenwart… Darcar wusste nicht, was das mit ihm machen würde…
Während er wie erstarrt war, hatte Veland sich bereits routiniert ausgezogen und stieg in die Wanne, froh darüber, dass er auch mal als Erster baden durfte. Normalerweise war er immer erst nach Darcar dran, so war es in jedem Haushalt Sitte, die Ältesten durften zuerst.
»Bist du schon wieder zu schüchtern?«, neckte Elmer ihn.
Veland, der in der Wanne hockte und durch die Hitze ganz rot anlief, starrte zu Darcar auf, plötzliches Wissen im Blick. Sorgenvoll runzelte er die Stirn.
Darcar riss sich zusammen, V sollte nichts in sein Zögern hineininterpretieren. »Nein«, sagte er und begann sich fahrig auszuziehen, dabei zitterten seine Hände vor Anspannung.
»Ich hole euch frische Sachen, sind nur kratzige Lumpen von mir, aber sie sind sauber und warm«, sagte Elmer, und Darcar war erleichtert, dass er ging.
Doch als Elmer sich an ihm vorbeidrückte und Darcar gerade bis auf die Unterhose ausgezogen war, stockte dieser und blieb so dicht an ihm stehen, dass Darcar seine Körperwärme spüren konnte.
»Oh verdammt, das sieht man ja immer noch.«
Darcar zuckte heftig zusammen, als Elmers Finger ihn an seiner Hüfte berührten.
»Tut das noch sehr weh?«, fragte dieser sofort besorgt und strich zärtlich über den violetten Bluterguss.
Darcar schluckte hart, versuchte, den Kopf zu schütteln. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Kalt, hm?« Elmer lächelte zaghaft. »Entschuldige, ich habe immer kalte Finger.« Er beugte wieder den Kopf und umrundete Darcar prüfend, strich über jeden verdammten Bluterguss, über Nieren und über der Rippengegend, auf dem Rücken und dem Bauch. Darcar bekam keine Luft mehr und kämpfte verbissen gegen seine starke körperliche Reaktion. Den Kampf gegen die Gänsehaut verlor er jedoch.
Elmers Berührung tat weder weh, noch war sie zu kalt. Sie war sogar sehr warm, sehr zärtlich – und die erste Berührung, die nicht von einem Familienmitglied kam.
»Diesen Fleck hier cremen wir lieber nach dem Bad noch einmal ein«, entschied er dann und ließ so abrupt von Darcar ab, dass dieser sich vorkam, als würde er plötzlich taumeln.
Elmer ging nach unten, die Kellertreppe knarzte. Aber Darcar brauchte noch einen Moment, ehe er die Hose auszog und dann zu V ins Wasser stieg, wobei er mit einer Hand seinen Schambereich bedeckte.
Veland starrte auf die Wasseroberfläche, während er sich langsam mit einem Stück Seife, das in Griffweite auf dem Tisch gelegen hatte, unter den Achseln wusch.
»Ich mag Elmer«, sagte er auf einmal.
Darcar runzelte die Stirn, er saß V mit eingezogenen Knien gegenüber. »Ich weiß. Ich auch.«
Der Dampf öffnete die Poren auf ihren Gesichtern, Schweißperlen glänzten auf ihren Oberlippen.
»Ja.« Noch immer sah Veland nicht in Darcars Gesicht. »Ich meine nur, ich … würde gerne hierbleiben.«
»Ich habe nie gesagt, dass wir gehen.« Darcar wunderte sich. »Es liegt in Elmers Hand, ob er uns bei sich haben will oder nicht.«
»Aber vielleicht will er uns nicht mehr, wenn …« V brach ab, sah schuldbewusst in Darcars Augen, aber schlug den Blick sofort wieder nieder. Er fügte murmelnd hinzu: »Bitte verlieb dich nicht…«
Darcar konnte es nicht glauben, starrte ihn mit offenem Mund an. »Das wird nicht passieren!«, zischte er.
»Ja. In Ordnung. Ich wollte…«
»Was wolltest du?«, blaffte Darcar ihn an. »Weißt du, wie verletzend das gerade war?« Als ob es seine Schuld wäre, wenn andere ihn wegen dem, was er war, verachteten! Wie konnte V so etwas zu ihm sagen? Nach allem.
Sein kleiner Bruder biss sich auf die Lippe, hatte Tränen in den Augen. »Tut mir leid, Darc. Ich will nur so gern bleiben… wo sonst sollen wir jetzt hin…?«
Darcar versuchte, ihn zu verstehen. Dennoch war er wütend.
Sie badeten schweigend, wobei Darcar sich nicht wusch, weil er V ignorierte und nicht nach dem Stück Seife fragen wollte. Er hatte einen Ellenbogen auf den Wannenrand gestützt und das Kinn auf den Handballen gelegt. In sich versunken starrte er aus dem Fenster und versuchte eisern, die Tränen zurückzuhalten. So … falsch wie in jenem Moment hatte er sich nur selten gefühlt. Als ob mit ihm etwas nicht in Ordnung wäre. Und er grollte V dafür, dass er ihm dieses Gefühl gegeben hatte. Dass er ihm das Gefühl gab, etwas verheimlichen zu müssen, weil etwas schlecht, etwas nicht normal an ihm war.
Elmer kam zurück, nachdem er ihnen ein paar Sachen ausgesucht hatte. Falls er sich wunderte, dass niemand mit ihm sprach und die Luft vor Ärger knisterte, ließ er es sich nicht anmerken. Er machte Wasser heiß und goss hin und wieder etwas davon nach.
Veland stand irgendwann auf, seine Haut war rosig und sauber, aber lange hatte er nicht gebadet. Er trocknete sich selbst ab und versank dann in einem von Elmers Pullovern und Unterhose. Mit einem Handtuch auf dem Kopf ging er aus der Küche, um zu lesen. Obwohl er Darcar noch einen flehenden Blick zuwarf, erwiderte dieser ihn nicht.
»Alles in Ordnung?«, wagte Elmer zu fragen, als sie allein waren.
Darcar brummte nur, sah ihn nicht an.
Elmer lehnte sich zur Seite, dabei sah er aus wie ein halb abgesägter Baum, und suchte Darcars unergründlichen Blick. »Bist du noch böse wegen gestern?«
Stirnrunzelnd wandte Darcar ihm das Gesicht zu. Die grünen Augen trafen ihn unvorbereitet. Er schüttelte den Kopf.
Das erleichterte Elmer, denn er atmete auf und brachte sich wieder in die Gerade. »Gut, das freut mich.« Er krempelte seine Ärmel nach unten. »Ich habe nicht nachgedacht. Es tut mir wirklich leid, ja?«
»Schon gut.« Darcar wollte gar nicht mehr darüber sprechen, er faltete die Hände unter dem Wasser in seinem Schoß und starrte auf die sanften Wellen, die er dabei in der Wanne verursacht hatte.
»Ich wollte dich damit nicht kränken«, fuhr Elmer fort und zog sich wie befürchtet den Pullover aus.
Darcar schloss schluckend die Augen, konzentrierte sich darauf, nicht hinzusehen. Nie im Leben war ihm etwas so schwergefallen!
»Meine Brüder und ich haben uns nicht geküsst – oder auch nur umarmt. Nun ja, den Kleinsten haben wir schon mal hochgenommen, aber mehr auch nicht. Meistens haben wir uns geprügelt, uns herausgefordert. Da war immer Rivalität zwischen uns. Ich bin es einfach nicht gewohnt, wie du mit Veland umgehst.«
»Vielleicht wolltest du ja deswegen von zu Hause abhauen.« Die Worte waren raus, bevor Darcar wusste, was er da sagte. Erschrocken sah er zu Elmer auf.
Doch dieser war gar nicht böse, er lachte sogar und nickte eingestehend. »Gut möglich, ich war nämlich nicht besonders weit oben in der Hackordnung.« Er zwinkerte Darcar zu. Sein Gesicht jedoch wurde wieder ernst. »Vielleicht mochte ich ja deswegen nicht, dass Henning seine eigene Hierarchie gründete und mit Gewalt jeden Frischling unterdrückt.«
Darcar konnte ihm nur noch schwerlich zuhören, denn Elmer zog sich weiter aus, vollkommen ungeniert.
Was für eine Ironie, Elmer kannte körperlich keine Scham, zog sich vor Wildfremden aus und verrichtete ungeniert seine Notdurft, wann immer er musste, aber als Darcar V einen Kuss gab, war das für Elmer nicht normal, ungehörig.
Sie stammten eindeutig aus verschiedenen Welten.
Als Elmer sich hinabbeugte und die Hose dabei von seinen Beinen streifte, wurde Darcar augenblicklich bewusst, dass der andere nicht wartete, bis er fertig gebadet hatte. Umgehend wollte er aufstehen, machte bereits Anstalten, sich zu erheben. Doch dann hielt er erschrocken inne, denn aufzustehen bedeutete, nackt und nass vor Elmer zu treten. Er setzte sich wieder.
Es wurde nicht besser, als Elmer sich aufrichtete und die Hose zur Seite trat. Darcar konnte nicht anders, als hinzusehen. Die Neugierde war zu stark, zu brennend. Er musterte den anderen, der sich vollkommen normal durch den Raum bewegte, als wäre er nicht splitterfasernackt. Und als würde Darcar ihn nicht mit leicht geweiteten Augen anstarren. Nicht, dass er sich vor irgendetwas fürchtete, abgesehen von seinem eigenen Körper, dessen intensive Reaktionen er noch nie unter Kontrolle hatte.
Der nackte Elmer wirkte plötzlich älter, reifer als der angezogene Elmer. Ob es an den weiten Lumpen lag oder schlicht an der Tatsache, dass Darcar ihn sich nicht so … gereift vorgestellt hatte? Elmers Bauch war flach, seine Brustmuskeln hoben sich sacht vom Rest des gertenschlanken Körpers ab, seine Haut war fast so weiß wie Milch, seine Brust war so gut wie haarlos, dafür spross deutlicher Flaum unter seinen Achseln, als hätte er sich Stroh unter die Arme geklemmt. In seinen Lenden lag ein ausgeprägter Muskel, der wie ein Trichter geformt war und nach unten zeigte. Dort hatte Elmer auch deutlich mehr Haare als Darcar es sich vorgestellt hätte. Mehr als er selbst. Das Dreieck zwischen seinen schlanken, aber strammen Schenkeln war vollkommen bedeckt. Aschblond wie das Kopfhaar, schimmerte der Flaum im Schein der Lampe, und darin ruhte, weich und seidig sein Geschlecht. Die Eichel schaute unter makelloser, glatter Haut hervor. Vorwitzig. Provozierend.
Darcar hatte noch nie das Geschlecht eines anderen Jungen so hautnah gesehen. Die seiner Brüder zählten selbstredend nicht. Und er konnte beinahe nicht mehr aufhören, hinzusehen. Erneut hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Erst als Elmer sich frontal zu ihm umdrehte, sah er schnell wieder auf das Wasser in der Wanne und atmete seinen erregten Puls herunter.
»Du hast gar nicht mehr gehustet«, stellte Elmer erfreut fest. »Die Dämpfe scheinen dir wirklich gut zu tun.«
Mehr als ein zustimmendes Brummen bekam Darcar leider nicht mehr hervor.
Mit der Seife in der Hand stieg Elmer erst mit einem schlanken Bein, dann mit dem anderen in die Wanne. Er hatte schöne Waden, stellte Darcar durch einen ungewollten Seitenblick fest. Wohlgeformt und durchtrainiert, fast wie einer dieser Langstreckenläufer, die immer bei den Sommerspielen im Stadtpark antraten.
Mit einem genüsslichen Seufzen setzte Elmer sich Darcar gegenüber. Beide hatten die Beine angezogen, sodass ihre Knie aus dem Wasser ragten und durch die Temperaturunterschiede leicht dampften. Elmer war allerdings größer als Veland, sodass es unvermeidbar war, dass sie sich berührten. Darcar versuchte, seine Beine so nah wie möglich an sich zu ziehen, setzte sich aufrechter hin. Elmer jedoch schien es nichts auszumachen, dass sich ihre Füße und Schienbeine hin und wieder berührten, er fläzte sich entspannt ins Wasser und schloss für einen flüchtigen Augenblick die Augen.
Darcar betrachtete seine sanften Züge. Nicht zum ersten Mal fiel ihm auf, wie freundlich Elmers Gesicht wirkte, unheimlich zart, aber nicht weiblich. Männlich zierlich. Es war ein schönes Gesicht, das ihm immer noch fremd war, aber ihm gleichwohl auch erstaunlich schnell sehr vertraut wurde. Noch immer entdeckte er neue Feinheiten in Elmers Zügen, ein blasses Muttermal, zwei ineinander verstrickte Sommersprossen, die zusammen eine große ergaben, der Schatten eines blonden Schnur- und Kinnbarts, die unglaubliche Dichte und Länge seiner hellen Wimpern… Immer wieder entdeckte er etwas Neues, aber er würde Elmer mittlerweile unter tausenden auf mehrere Meilen Entfernung erkennen können. Denn immer, wenn Darcar nachts aufwachte, betrachtete er heimlich das vom Feuer angestrahlte Gesicht ihres Gastgebers. Anfangs war es unbewusst geschehen, dieses Gesicht hatte seinen Blick magisch angezogen, irgendwann hatte er es ganz bewusst getan und nicht mehr wegsehen wollen. Doch im Schlaf sah Elmer jünger aus, das Gesicht schlaffer, verletzlicher. In diesem Moment dort in der Wanne, wirkte er maskuliner, erwachsener. Darcar mochte dieses Gesicht, ganz gleich was Elmer gerade tat. Ob konzentriert oder lachend. Und das machte Darcar Angst. Er mochte dieses Gesicht nämlich immer, wenn er ehrlich war. Das zu wissen, hatte keine zwei Tage gedauert, Darcar wusste immer sofort, wenn er sich für jemanden faszinierte. Als reicher Schnösel war er es schlicht gewohnt, zu bekommen, was er wollte. Er musste es nur beim Namen nennen. Doch was andere Jungen anging, hatte er auf schmerzhafte Art lernen müssen, dass es Dinge gab, die unerreichbar waren.
V hatte vollkommen Recht, ihm zu misstrauen. Aber früher war nicht heute und er war mittlerweile um einige Erfahrungen reicher. Zudem hatte er ohnehin genug andere Probleme, selbst Elmers hübsches Antlitz konnte ihn nicht davon ablenken. Höchstens für einen kostbaren, winzigen Augenblick, in dem sich plötzlich so etwas wie Normalität einschlich. Es war doch seltsam, dass ihm dieses unerfüllte Sehnen so vertraut vorkam, dass er sich dadurch regelrecht wohlfühlte. Aber diese Momente währten nie lange.
Immerhin hatte er innerhalb eines Atemzugs alles verloren. Vater, Haus, Name, einen seiner Brüder. Sie hatten ihnen alles gestohlen. Diese verdammte Stadt hätte eigentlich so gut wie ihnen gehört, denn durch das Erbe ihres Vaters, hätte ihnen alles zu Füßen gelegen. Aber man hatte es ihnen weggenommen, sie hatten ihnen alles weggenommen! Und Darcar dachte – wenn er nicht gerade nachts Elmers Gesicht anstarrte – unentwegt darüber nach, wie er herausfinden konnte, wer denn überhaupt »sie« waren. Der schwarze Rat? Ilona? Kenneth? Alle Kaufherren der Stadt?
Er würde es herausfinden, sobald er einen Weg aus diesem Loch gefunden hatte. Eins nach dem anderen – und alles andere war unwichtig. Vs Überleben musste gesichert werden, Rache musste genommen werden. Vielleicht würde er dann wieder schlafen können. Vielleicht würden die Schreie seines Vaters dann verstummen. Und ganz vielleicht würde er dann mit mehr Genuss heimlich Elmers Züge betrachten können. Ganz ohne dieses ungute Gefühl in der Magengrube, nur noch mit der sonst üblichen Angst davor, entdeckt zu werden.
Doch im Moment fühlte sich der Zeitpunkt, um wieder an normale Dinge wie heimliches Begehren zu denken, schlicht falsch an. Unpassend. Respektlos gegenüber seiner Verluste.
Trotzdem sah Darcar Elmer lange an, während er über all das nachdachte und der Dampf Elmers Poren öffnete, ihm den Schweiß aus dem Gesicht trieb, als hätten ihn frische Tautropfen überzogen. Und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er angestrengt darüber nach, wie die Haut eines anderen Jungen wohl schmecken würde. Ob sie heiß war und der Schweiß auf ihr eine salzige Note besaß. Ob es ihm schmecken würde. Allein der Gedanke daran machte etwas mit ihm, sorgte für Unruhe in seinem Inneren.
Elmer blieb sehr lange still und reglos, den Hinterkopf gegen den Wannenrand gelehnt. Falls er Darcars Blick spürte, sagte er nichts dazu, aber nach einer Weile schlich sich ein Schmunzeln auf seine Züge. Ganz sacht, vollkommen unaufdringlich, aber es war da und wollte auch nicht wieder erlöschen.
Erst als Elmers Stimme die Ruhe durchdrang, wurde der zauberhaftstille Moment durchbrochen. »Tut gut, hm?« Er hielt noch immer das Stück Seife in der Hand und fing an, es zwischen den Fingern zu drehen. Obwohl es glitschig vom feuchten Dampf sein musste, rutschte es nicht aus seinem Griff. Er drehte es geschickt und flink, wie ein Ganove einen Revolver. Und Darcar war beeindruckt, beinahe sogar neidisch.
»Ja«, brachte er etwas verspätet hervor und wunderte sich selbst über seine plötzlich raue Stimme.
Elmer zwang ein Auge auf, nur einen Schlitzbreit, und schmunzelte noch etwas deutlicher.
Darcar drehte das Gesicht zur Seite, wollte sich seine Unbeholfenheit und Beklemmung nicht anmerken lassen, er wäre auch gern so lässig und gleichgültig gewesen wie Elmer, denn seine Steifheit verriet ihn vermutlich mehr als jeder Körperkontakt. So ließ er sich wieder etwas tiefer ins Wasser gleiten, auch wenn er dadurch mit seinen Schienbeinen Elmers Schenkel berührte. Ein seltsamer Druck baute sich in seiner Brust auf, aber den konnte Elmer zum Glück nicht sehen.
Sie schwiegen wieder und Darcar blickte gedankenverloren zum Fenster. Der Regen tröpfelte gegen die dünne Scheibe, es klang beinahe so, als ob jemand Kieselsteine dagegen warf.
Da kam Darcar ein Gedanke und er legte die Stirn fragend in Falten. »Elmer?«
»Mhm, ja?« Der genüssliche Laut aus seiner Kehle klang beinahe wie ein raubtierhaftes Schnurren. Aber nur beinahe. Genau genommen, klang es sogar noch besser.
Darcar drehte das Gesicht wieder zu ihm herum. »Wenn du sagst, dass du von zuhause abgehauen bist, wie alt warst du denn dann?«
»Was schätzt du denn?« Er lächelte geheimnisvoll.
»Ich weiß nicht«, gestand er schulterzuckend, »ich glaube kaum, dass du mit zwölf ausgerissen bist, um in der Stadt Arbeit zu suchen.«
»Auf dem Land ist alles etwas anders, da wird man früher erwachsen«, meinte er altklug. »Sobald wir stehen können, arbeiten wir auf der Farm mit, mit fünfzehn werden wir manchmal bereits verheiratet und ziehen aus.« Dann öffnete er die Augen und ein helles Grün schlug Darcar entgegen, so hell wie die Blätter der Laubbäume im Frühling. »Ich schätze, als ich weglief, war ich so alt wie du heute.«
Verwundert runzelte Darcar die Stirn. »Aber ich bin fünfzehn!«
»Dann war ich ein Jahr älter als du«, korrigierte Elmer, wirkte dabei gut gelaunt, vielleicht überspielte er seine Gefühle aber auch nur mit seinem lockeren Grinsen.
Darcar wunderte sich immer mehr, er richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf. »Aber … wie alt bist du denn dann jetzt?«
»Neunzehn.« Elmers Lächeln wirkte mit einem Mal entschuldigend. »Ich sehe jünger aus, ich weiß.«
Darcar brauchte erst einmal einen Moment, um die neue Information richtig zu verstehen. Er hatte Elmer tatsächlich jünger geschätzt, war fest davon überzeugt gewesen, sie wären fast gleich alt. Doch nun ergab vieles so viel mehr Sinn. Sein Wissen über gewisse Dinge, zum Beispiel die Herstellung des Selbstgebrannten und seine Fähigkeiten, zu überleben. Er hatte schon ein paar Jahre länger hier gelebt als Darcar angenommen hatte. Und irgendwie hatte er auch von Anfang an ein wenig erwachsener gewirkt, organisierter, als Darcar es von einem Jungen in seinem Alter erwartet hätte. Nur eines passte jetzt nicht mehr ins Bild.
»Wenn du schon neunzehn bist«, hakte Darcar unsensibel direkt nach, »warum haben sie dich dann nicht schon mitgenommen?«
Vielleicht, weil er mager war, doch das waren hier alle, und Elmers muskulöse Arme zeugten deutlich von seiner Stärke.
Elmers Gesicht verdunkelte sich ein wenig, als ob ein Schatten darüber fiel. Er lächelte nachsichtig, aber nicht sonderlich fröhlich. »Nun ja, es hat auch seine Vorteile, jünger auszusehen.«
Darcar interpretierte seinen seltsamen Gesichtsausdruck falsch. »Du willst, dass sie dich holen?«
Elmer schnaubte. »Nein.«
Dann richtete auch er sich in der Wanne auf, dabei streifte sein Fuß Darcars Wade und brachte ihn innerlich zum Zusammenzucken.
»Das ist das Letzte, was ich will. Wenn sie kommen, bleibe ich im Gewölbe, da finden sie einen nicht, weil es ein Schmugglerversteck war, das natürlich auf den alten Stadtkarten nicht eingezeichnet ist. Es ist der einzig sicherere Ort, wenn sie kommen, und nur ihr und ich kennen ihn.« Elmer rieb sich mit nassen Händen das Gesicht und Darcar starrte ihn an, unfähig, seinen Blick von ihm loszureißen, denn zum ersten Mal hatte er den Eindruck, für einen Moment in Elmers Kopf sehen zu können, hinter die sonst so souveräne Außenfassade, die einfach alles im Griff hatte und alles über das Leben zu wissen schien, was ihm half, zu überleben.
Als Elmer die Hände durch sein Haar gleiten ließ, sorgte die Feuchtigkeit dafür, dass seine blonden Strähnen zu Berge standen. Er senkte die Arme und blickte Darcar unverwandt in die Augen. »Ehrlich gesagt, fürchte ich mich davor, diesen Ort zu verlassen.«
Darcar konnte das überhaupt nicht verstehen, er wünschte, er könnte einfach über die Mauer klettern und dem Rattenloch für immer den Rücken kehren. Doch sie war zu hoch und zu glatt.
»Hier kenne ich mich aus«, erklärte Elmer regelrecht entschuldigend. »Ich weiß, wie ich hier überlebe, was mich erwartet. Ich kenne jede Straße, jedes Gebäude, den Jahresablauf, weiß ganz genau, wie ich überlebe und kenne die Gefahren. Ich weiß vor was und wem ich mich hüten muss. Hier kann ich mich auf mich selbst verlassen. Da draußen … keine Ahnung, was mich da erwartet, wohin sie mich bringen, falls sie mich je in die Finger bekommen. Ob sie mich zwingen, im Krieg gegen die Wilden zu kämpfen, ob ich an der Front überlebe, ob ich es im Ganzen nach Hause schaffe? Und dann? Geht es von vorne los. Ob ich Arbeit finde? Ich? Ein ehemals Verbannter und Kriegsveteran? Mich stellt keiner mehr ein, ich werde wieder irgendwo in irgendeinem Loch landen.« Er schüttelte verdrossen den Kopf. »Selbst wenn wir die Front oder das Kohleschippen in den Dampfschiffen überleben, hört der Kampf um das Überleben für Menschen wie uns niemals auf.« Wieder dieses entschuldigende Lächeln, warm flutete sein Blick in Darcars. »Du bist ab jetzt kein reicher Junge mehr, Darci, dir wird nichts mehr geschenkt. Du bist einer von uns, eine Ratte. Daran kannst du nichts mehr ändern.«
Darcar ließ sich die Worte durch den Kopf gehen, schaute wieder zum Fenster und spürte sowohl Wut als auch Sehnsucht, während er an Zuhause dachte. »Ich bin keine Ratte«, sagte er leise, entschlossen. »Und du bist es auch nicht.«
Er spürte Elmers müdes Lächeln, doch dieser ging gar nicht darauf ein. »Darf ich dich eigentlich Darci nennen?«, fragte er ablenkend mit einem neckischen Grinsen auf den blassen Lippen. »Wenn ich dich Darci nennen darf, darfst du auch El zu mir sagen.«
Darcar wandte ihm wieder das Gesicht zu, kaum eine Reaktion auf den Zügen, wie so oft wirkte er unnahbar und hart, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Doch Elmer brachte das nur immer dazu, ihn deshalb umso freundlicher anzusehen, als wollte er ihm ins Gesicht sagen, dass ihn dieser Blick auf keinen Fall fernhalten konnte. Dass er ihn durschaute.
»Wenn du Darci sagst, dann sage ich Eli«, konterte Darcar trocken. »Oder Elmi.«
Das brachte Elmer zum Lachen. Ein schönes Lachen, kehlig und melodisch, so voller Freude. Und wie seine Augen leuchteten… Da wusste Darcar, was ihn an Elmer faszinierte, es war seine Fähigkeit, völlig normal zu sein, Freude zu empfinden, obwohl sie am wohl traurigsten Ort der Welt waren und nicht mehr tiefer sinken konnten. Elmer hatte nicht sein Lachen verloren. Darcar bewunderte ihn beinahe um seine Stärke, denn er selbst wollte die meiste Zeit einfach nur weinen oder sich die Seele aus Frust aus dem Leib brüllen.
»Wie wäre es mit Darc und El?«, schlug er Darcar dann vor und reichte ihm die nasse Hand. »Oder darf dich nur dein Bruder so nennen?«
Darcar schlug ein, Wasser spritzte hoch. »Abgemacht, El.«
Sie lächelten sich an und Darcar war sich Elmers festem, glitschigem Griff mal wieder überdeutlich bewusst, doch seinem intensiven Blick, der sich in seinen bohrte, sogar noch viel mehr.
Elmer ließ als erster los und lehnte sich sichtlich zufrieden wieder zurück.
Darcar jedoch runzelte ernst die Stirn, während Elmer sich Arme und Schultern mit der Seife schruppte.
»Was ist mit deinem Zuhause?«, fragte er neugierig. Elmer hielt in der Bewegung inne, als wäre er plötzlich zu Stein erstarrt. »Du könntest doch dorthin zurück, wenn du erst einmal hier herauskommst?«
Elmer antwortete zuerst nicht, nachdenklich führte er die Seife über seine Haut, bis sie von einer weißen Schaumspur bedeckt war.
»Ich meine…«, plapperte Darcar weiter, »du könntest dich von der Armee mitnehmen lassen, dann hättest du wenigstens eine Chance, zu entkommen und nach Hause zu gehen.«
Wäre V nicht, wäre dies auch sein Plan gewesen. Er hätte versucht, so schnell wie möglich von diesem Ort fortgebracht zu werden. Wenn er erst einmal wieder auf der anderen Seite der Mauer war, würde er gewiss einen Weg finden, auch den Fängen der Armee zu entkommen. Doch ohne V würde er natürlich nirgendwohin gehen.
»Vielleicht«, gestand Elmer zögerlich, »doch bisher haben es nur wenige Deserteure geschafft, vor der Armee erfolgreich davon zu laufen. Außerdem…« Er seufzte, wich ganz untypisch für ihn Darcars Blick aus. »Ich weiß doch gar nicht, ob sie mich zuhause noch wollen, nach allem, was ich getan habe…«
»Du hast nichts getan!«, warf Darcar verständnislos ein.
Endlich sah Elmer ihn wieder an, ein gerührtes Lächeln auf den Lippen. Doch er konterte: »Ich bin ein verurteilter Mörder.«
Das wollte Darcar gar nicht hören, kopfschüttelnd lehnte er sich ein Stück nach vorne, um Elmer eindringlich anzusehen. »Es war ein Unfall!«
Elmer verzog das Gesicht auf so sanfte, warme Weise, dass es Darcar das Herz stocken ließ. »Danke«, sagte er aufrichtig.
Und Darcar stieg die Röte ins Gesicht, sodass er sich räuspernd wieder zurücklehnte und den Blick auf die Wasseroberfläche richtete. Nicht, dass er schüchtern gewesen wäre, aber ihm war gerade aufgefallen, wie leidenschaftlich seine wenigen Worte geklungen hatten, nur um Elmer zu verteidigen, obwohl er ihn doch gar nicht kannte.
Was war nur in ihn gefahren?
Und doch glaubte sein Herz daran, dass es ein Unfall gewesen war. Und selbst wenn nicht, dann war es dennoch nicht mehr als Notwehr gewesen, kein vorsätzlicher Mord, vor allem nicht zum Spaß.
»Darf ich die Seife haben?«, fragte er und hob seine Hände mit den Flächen nach oben an, um sie selbst betrachten zu können. »Ich bin schon ganz runzelig…«
Elmer gab sie ihm nicht, er schmiss sie ihm zu. Darcar reagierte instinktiv, blitzschnell, beinahe rutschte ihm das glitschige Stück aus den Fingern, aber schaffte es, die Seife unter seine Kontrolle zu bekommen.
Sie wuschen sich schweigend. Elmer machte sich die Haare nass, indem er an Darcar heran rutschte und dann den Kopf nach hinten lehnte, bis das Wannenwasser über seiner Nase zusammenschlug. Es dauerte nur einen Augenblick, aber lange genug, dass Darcar wieder Atemnot bekam, weil sich ihre Körpermitten beinahe berührten. Elmer schien von Darcars innerem Kampf noch immer nichts mit bekommen zu haben.
Sie teilten sich die Seife, reichten sie hin und her, Elmer schäumte sich die Haare ordentlich ein, dann spülte er sie auf gleiche Weise aus, Darcar war dieses Mal vorbereitet und wich noch weiter zurück, bis er fast mit dem nackten Hintern auf dem Wannenrand saß.
Nachdem Elmer sich gewaschen hatte, erhob er sich. Das Wasser rann ihm über den Leib aus jeder Ritze, als er aufstand und über den Rand trat. »Das Wasser wird langsam kalt«, meinte er fröstelnd. Darcar wusste gar nicht, was er meinte, ihm war sehr warm.
»Soll ich dir noch heißes Wasser nachgießen?«, fragte er, während er nach einem Handtuch griff und sich damit die Haare trocken rappelte. Er tropfte den ganzen Boden voll. »Oder kommst du auch raus?«
Einen Moment lang erlaubte Darcar es sich, verstohlen zuzusehen, wie das Wasser von Elmers Geschlecht tropfte. Es rann über die glatte Haut des weichen Schaftes und sammelte sich an der Spitze zu einem dicken Tropfen, in dem sich das warme Licht der Lampen und Kerzen fing.
»Ich bleibe noch«, sagte er und wandte den Blick ab, kurz bevor Elmer das Handtuch vom Kopf nahm und es sich in den Schritt drückte, um sich zu trocknen. »Komme gleich, ich brauche kein heißes Wasser.«
Elmer goss ihm trotzdem noch einen halben Topf nach. Erneuter Dampf stieg auf, der Kräutergeruch befreite seine Lungen, beruhigte die gereizten Atemwege.
Elmer zog ein vergilbtes Hemd und eine Hose an, die ihm viel zu weit waren und ihn wieder jünger, verletzlicher aussehen ließen, als er eigentlich war. »Ich bin dann nebenan«, sagte er und schaute noch einmal zu Darcar, als fürchtete er, dieser wäre ihm böse, wenn er ihn allein ließ.
»Ja, ich bin auch gleich soweit«, gab er zurück. Er warf noch einen schnellen Blick über die Schulter, als Elmer gegangen war, um sicher zu gehen, dass dieser fort war.
Dann ließ er sich tiefer ins Wasser gleiten, schloss die Augen und fuhr mit einer Hand über seinen bebenden Körper. Er wollte dem Ursprung der seltsamen Hitze in seinen Lenden auf den Grund gehen. Darcar war fünfzehn und wusste natürlich ganz genau, was das Prickeln in seinem Unterleib und Magen zu bedeuten hatte. Das erste Mal gespürt hatte er es mit elf, mit dreizehn hatte er es richtig begriffen. Als seine Finger sein halbsteifes Geschlecht berührten, biss er sich auf die Lippe, sofort wuchs er in seiner eigenen Hand. Es fühlte sich gut an und mit Elmer im Kopf wurde es sogar noch besser. Einen kleinen Moment genoss er es, die Ruhe, das Alleinsein, die neuen Bilder im Kopf und das Drängen, den Druck in seinem Geschlecht. Er brauchte nicht viel Geschick, bis ihm ganz heiß wurde und sein Atem schneller ging. Der Gipfel der Luft war stets ein schnell bestiegener Berg.
Doch dann schlich sich etwas anderes in seine Gedanken. Etwas Dunkles, Grausames.
Darcar öffnete die Augen, das Gesicht hart und kalt wie Eisen. Jeder Funke erlosch und das Fleisch in seiner Hand wurde schlaff.
Er konnte es nicht. Nicht einmal das. Nichts schien ihm vergönnt, kein noch so winziger Augenblick der Ruhe. Kein Schlaf, keine Entspannung, keine Lust. Als ob sein Gewissen an ihm zerrte und ihn drängte, endlich etwas zu unternehmen, ihn sogar verurteilte, weil er nur herumsaß und die Sicherheit in Elmers vier Wänden genoss, statt endlich etwas zu unternehmen.
Angewidert ließ er von sich selbst ab, wusch sich die Haare und stand endlich auf. Er nahm Elmers Handtuch, da er kein frisches entdeckte. Es roch nach ihm und nach der Kernseife, die sie benutzt hatten. Danach schlüpfte er in Elmers Hosen und seinen leicht kratzigen, dunklen Wollpullover. Er kämmte sich das schwarze Haar mit einem Kamm nach hinten, wischte den Boden trocken und trat dann in den Nebenraum, wo Veland in die Seiten eines Märchenbuches versunken war und Elmer hinter dem Tresen stand und eine Lampe mit Öl befüllte, aschblonde Strähnen – noch dunkel vor Feuchtigkeit – hingen ihm schwer und nachlässig im Gesicht.
V sah kurz auf, suchte reuevoll den Blick seines Bruders. Darcar ignorierte ihn, erteilte ihm keine Absolution, seine Augen streiften stattdessen Elmers Gesicht, der ihn kurz musterte und dann voll Zustimmung lächelte. »Siehst fast aus wie ein Gentlemen, wenn du die Haare so trägst«, meinte er. Es schien ihm zu gefallen.
Darcar hob einen Mundwinkel, es schmerzte beinahe und war ein Akt großer, körperlicher Anstrengung. Mehr brachte er an jenem Abend nicht mehr zustande, er blieb still, wortkarg und zog sich innerlich zurück. War allein mit dem, was in seinem Inneren wuchs und wuchs.