Читать книгу Blut für Gold - Billy Remie - Страница 12

Kapitel 8

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Er hielt es für einen Traum. Oder das Eindringen in die Unendlichkeit des Todes. Da war etwas, das ihn packte. Waren es Hände? Klauen? Der Schlund eines Monsters? Er wusste es nicht, er war auch nicht im Stande, etwas dagegen zu unternehmen. Sein Körper wollte sich nicht bewegen und sein Verstand war wie in Öl versunken, finster, zähflüssig und träge. Ihm war kalt, so kalt, dass er an nichts anderes denken konnte. Da war nur die beißende Kälte, die sich wie Nadeln in ihm verhakt hatte.

Etwas in seinem Inneren brannte stetig, es dauerte lange, bis er verstand, dass es seine Lungen waren. Er atmete offensichtlich, doch konnte er nicht begreifen, wieso. Darcar hatte Wasser verschluckt, viel Wasser, doch er war so müde in den Kanal gesunken, dass ihn das nicht mehr gekümmert hatte. Nun war es, als erwachte er immer mal wieder aus einem sehr tiefen Schlaf. Da war nur Dunkelheit, er konnte nichts sehen, nur sehr bedingt fühlen. Manchmal hörte er Stimmen, doch sie drangen kaum zu ihm durch. Er fühlte sich, als würde er weiterhin unter Wasser schweben. Vielleicht war dem auch so.

Jemand zog ihn aus der Schwerelosigkeit auf etwas Hartes, seine Kleider pressten ihn regelrecht darauf, sie waren bleischwer von der triefenden Nässe. Der Augenblick dauerte nicht lange, er schaffte es nicht, die Lider zu öffnen, und schlief sofort wieder ein.

Als er das nächste Mal erwachte, spürte er, wie man ihm die Kleider vom Leib zerrte. Instinktiv klammerte er sich an seinen Mantel, glaubte, dass der Rattenkönig zurückgekommen war, um ihn auszurauben, zu foltern und dann zu töten. Panik erfasste ihn, doch das machte seinen Verstand auch nicht klarer. Flüchtig gelang es ihm zu blinzeln, er sah warmes Licht, eine Balkendecke, einen hellen Schopf und dachte sofort an den Blonden mit der Wollmütze. »Nein, nicht…« Da driftete sein Verstand bereits wieder ab. In diesem Moment spürte er zum ersten Mal den heißen Schmerz in seiner Magengrube.

Als er wieder ohnmächtig wurde, hörte er noch am Rande jemanden sagen: »Er hat von dem Wasser getrunken. Schnell, gib mir das braune Fläschchen dort!«

Kurz darauf zwang jemand seine Lippen auf, er wusste, dass er hustete, doch er spürte es gar nicht. Ein ekelerregender Geschmack rann ihm die Kehle hinab, so bitter wie verfaulte Zitronen. Hilflos ließ er zu, dass ihm die dicke Flüssigkeit eingeflößt wurde, dabei sackte er wieder in sich zusammen.

Krämpfe weckten ihn erneut. Er wusste nicht, wie lange er ohne Bewusstsein gewesen war, es kam ihm gleichzeitig vor wie eine Ewigkeit und eine Sekunde. Im Schlaf hatte er sich unwillkürlich zusammengekrümmt, die Arme um den Bauch geschlungen. Die Krämpfe kamen stoßweiße, wie die Wellen auf dem Meer am Hafen. Er kämpfte verzweifelt gegen die Übelkeit an, doch es war zwecklos. Noch immer so gut wie blind, weil sich seine Lider zu schwer anfühlten, würgte er unterdrückt.

»Es geht los«, sagte jemand in seiner Nähe, Schatten fielen über ihn. »Komm her, hilf mir, er muss auf der Seite bleiben.«

Darcar schüttelte den Kopf, wollte sich gegen die Finger wehren, die ihn am Arm fixierten. Dann kam es ihm hoch. Ein ganzer Schwall Flüssigkeit. Jemand hielt ihm eine Schüssel oder Schale unter den Mund, er spürte ihren Rand. Immer und immer wieder krampfte er, übergab sich, zitterte am ganzen Leib. Die Übelkeit raubte ihm den Atem, war die größte Folter. Hilfesuchend krallte er sich an sich selbst, Tränen flossen aus seinen Augen, aus Angst, vor Anstrengung, aus Trauer…

»Shh«, hörte er plötzlich eine vertraute Stimme, sein Herz machte einen Satz. »Ich bin da, Darc. Ich bin bei dir, hörst du?« Veland. Sein kleiner, süßer Veland mit seiner honigwarmen Stimme. Sachte strich er Darcar durchs Haar, schmiegte sich an seinen Rücken, während er sich Leib und Seele auskotzte. »Alles wird wieder gut«, sagte sein Bruder. Und obwohl er jünger war, nur ein Kind, und es eigentlich Darcar sein sollte, der ihn beschützte, fühlte er sich plötzlich geborgen.

Die Übelkeit und das Erbrechen waren trotzdem schlimm. Und sie wollten nicht aufhören.

Irgendwann schlief er einfach wieder ein, vollkommen entkräftet.

»Flößen wir ihm Wasser ein.«

Eigentlich wollte er nicht trinken, wollte sich nicht wieder übergeben, aber als das saubere Wasser über seine Zunge floss, trank er gierig, bis er wieder das Bewusstsein verlor.

*~*~*

Ein tiefer Schlaf erfüllte ihn, der hin und wieder von wirren und sinnlosen Träumen durchwogen wurde, jedoch vermochten selbst die bizarren Bilder seines Unterbewusstseins nicht, seine tiefe Ruhe zu stören. Er träumte auch von Rache, das ließ ihn erholsam schlummern. Falls er noch krampfte, zitterte oder sich übergab, bemerkte er es nicht. Er hörte nichts, fühlte nichts, war so tief im Schlafbewusstsein versunken, dass ihn der Weltuntergang nicht hätte aufwecken können.

Umso erstaunlicher erschien es, dass ihm so etwas Leises wie das Knistern eines Feuers ans Ohr drang.

Es war ruhig, friedlich, als er aus dem Schlaf auftauchte. Die Schwere war verschwunden, er versuchte, zu blinzeln. Nur ein leicht flaues Gefühl lag in seinem Magen, doch das rührte eher daher, dass er nichts mehr darin hatte, sein Bauch knurrte hungrig, die Übelkeit war wie fortgespült.

Beim zweiten Versuch gelang es ihm, die Augen etwas länger offen zu halten. Noch sah er verschwommen, ein dunkles Zimmer ohne Fenster, soweit er es erkennen konnte, nur das Licht aus dem Feuer, das leise in einem kleinen Steinkamin knackte, spendete warmes, anheimelndes Licht.

Er lag auf dem Boden, um ihn herum gedrungene Wände aus Gestein, Holz, Balken an der Decke, eine Steintreppe, die zu einer Tür führte, Arbeitstische, Destilliermaschinen, getrocknete Kräuter hingen an den Wänden, Kisten voller Lebensmittel, teilweise faulig, Konserven in Regalen, Einmachgläser und Säcke, die verdächtig nach Mehl aussahen. Ein Keller, ein Vorratslager.

Ein Versteck?

Er lag in der hintersten Ecke zwischen Kisten und Säcken, über ihm hingen dicke Spinnenweben. All das nahm er zuerst wahr, ohne es richtig begreifen zu können. Sein Kopf fühlte sich noch schwammig an, die Gedanken sickerten nur zähflüssig umher. Er schmatze, schluckte. Seine Zunge war pelzig, er hatte auch noch immer Durst. Alles, was er tun konnte, war den Blick umherschweifen zu lassen, es fiel ihm noch zu schwer, das Gesehene richtig zuzuordnen, Angst zu empfinden. Er dachte nicht daran, aufzuspringen und einen Ausweg zu suchen, seine Beine fühlten sich an, als habe ihnen jemand die Knochen ausgesaugt. Schwach und zittrig. Das Atmen fiel ihm schwer, seine Lunge brannte leicht.

Als Nächstes stellte er fest, dass er nackt war. Nackt und in kratzige Decken gehüllt. Unter seinem Kopf lag ein dünnes Kissen, er selbst lag auf Stroh, das jemand mit einem Laken abgedeckt hatte. Es war nicht sonderlich weich, aber besser als nichts.

Und er war nicht allein. Der warme, kleine Körper, der an seine Brust geschmiegt lag, war der Grund, weshalb er nicht sofort alarmbereit aufsprang und eine Waffe suchte. Velands süßer Atem strömte über seine nackte Brust. Er musste sich irgendwann, als Darcar geschlafen hatte, zu ihm unter die Decken gelegt haben. Genüsslich vergrub Darcar die Nase in Velands Löckchen, sog tief seinen lieblichen Duft in die Nase. Wenn er die Augen schloss, war es fast so, als wäre er wieder zuhause.

So verrückt es auch war, obwohl er nicht wusste, in wessen Keller er lag, fühlte er sich zum ersten Mal, seit sie nachts in ihrem Zuhause durch Eindringlinge geweckt und auf die Straße gezerrt worden waren, wieder sicher. Mit diesem Gefühl und mit Veland fest im Arm, schlief er erneut ein.

*~*~*

Eine Berührung an seiner Stirn ließ ihn augenblicklich aufschrecken. Verwirrt sah er sich um, da er für einen Moment nicht mehr wusste, wo er war und was geschehen war. Ja selbst an seinen eigenen Namen konnte er sich erst nach zwei verstrichenen Augenblicken erinnern. Er blinzelte, bis das Gesicht vor ihm einigermaßen klar wurde.

»Deine Stirn fühlt sich nur leicht warm an«, sagte der andere Junge. »Du hast kein sehr hohes Fieber, das ist ein gutes Zeichen.«

Darcar brauchte einen Moment, um ihn wiederzuerkennen. »Du bist der Rattenjäger.« Seine eigene Stimme klang so kratzig, dass er selbst erschrak.

»Elmer.« Ein sachtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Und du bist Darcar. Dein Bruder hat mir eure Namen verraten.«

Sofort spürte Darcar, dass Veland nicht mehr neben ihm lag. Er richtete sich erschrocken auf, dabei schmerzte sein Schädel, als ob sein Gehirn haltlos darin rumschwappte. Er griff sich gequält an die Schläfe und fragte mit verschwimmender Sicht: »Wo ist er? Wo ist Veland?«

»Oben«, erklärte Elmer ganz ruhig, während er neben Darcars Lager kniete und einen Lappen in einem Eimer auswrang, als habe er Darcar gerade gewaschen.

Und tatsächlich fühlte sich sein Gesicht sauber und kühl an, befreit von Schweiß. Er rieb sich die Wangen, auf denen fleckartig der erste Flaum spross.

»Es geht ihm gut«, versicherte der andere, »er kommt gleich wieder runter, aber er musste etwas essen. Und du solltest auch etwas zu dir nehmen.« Er stand auf, nahm die Waschschüssel mit und stellte sie auf einen Tisch, auf dem bereits unzählige andere Dinge gestapelt waren. Es war nicht dreckig hier unten, der Boden sauber gefegt, doch die Ablagen strotzten vor Unordnung.

Darcar wollte aufstehen und nach Veland sehen, doch sein schmerzender Kopf und der Schwindel darin ließen ihn wieder ins Kissen sinken.

»Du solltest noch schlafen«, sagte Elmer, während er zu einem Krug griff und etwas Flüssigkeit in einen Becher füllte. »Und du solltest jetzt viel trinken.«

Darcar versuchte, zu schlucken. Es schmerzte ob seiner wunden Kehle. »Du hast mich zum Kotzen gebracht«, erinnerte er sich schemenhaft. Es war Elmers Stimme gewesen, die er im Schlaf immer wieder gehört hatte.

»Und dich vorher aus dem Eiswasser gezogen«, gab dieser verteidigend, aber nicht schnippisch zurück. Er kam zum Lager und reichte Darcar den Becher hinab.

»Was ist das?«, fragte Darcar argwöhnend.

»Kräutertee. Beruhigt deinen Magen. Vielleicht kannst du nachher Eintopf essen.«

Darcar erinnerte sich an die Ratten, die Elmer gejagt hatte. Und das bestimmt nicht nur zum Spaß. Ihm zog sich der Bauch zusammen.

Elmer, dessen aschblondes Haar wild vom Kopf abstand, als hätte er sich ein paar wilde Nächte um die Ohren geschlagen, rollte deutlich mit den Augen, als Darcar weiterhin keine Anstalten machte, zuzugreifen. Demonstrativ hob er den Becher an den Mund und trank einen Schluck, dann hielt er Darcar den Becher erneut hin.

»Du kannst mir vertrauen«, forderte er auf. »Wollte ich dir etwas antun, hätte ich genug Gelegenheiten gehabt.«

Vielleicht stimmte das, vielleicht aber auch nicht. Darcar griff trotzdem nach dem Becher. Nachdem der andere davon getrunken hatte, traute er dem Gebräu. Allerdings musste er sich zusammenreißen, nicht an die geschlachteten Wasserratten zu denken, als er einen Schluck nahm.

Er schmeckte normal, nach Kräutertee wie Magda ihn gerne zubereitet hatte, wenn er mit Magenbeschwerden das Bett hatte hüten müssen. Etwas wässriger, aber normal.

Elmer nickte zufrieden und wandte sich ab. Darcar nippte an seinem Tee und beobachtete ihn, wie er an einen Tisch trat und an Apparaten herumfuchtelte, von denen Darcar nichts verstand.

Unauffällig spähte er zur Tür. Sie stand offen und er erkannte, dass der Raum über ihnen ebenfalls ein Kellergewölbe war, keine Fenster, Balken an den Wänden, eine Laterne an der Wand, ein paar Kisten und Säcke standen herum, aber bei Weitem nicht so zahlreich wie hier unten. Er sah eine Treppe, die nach oben führte, wo Tageslicht herabfiel und er jemanden hantieren hörte. Die Türöffnung war halb verdeckt durch einen nicht ganz zur Seite geschobenen Schrank, dessen Rückwand er nun betrachtete.

Das hier war wirklich ein Versteck. Ein sehr gutes sogar.

»Ich bin nicht einer von denen.«

Überrascht sah Darcar zu Elmer, der sich durch den Raum bewegte, um Holzscheite in das Feuer zu legen, das leise im Kamin prasselte. Er klang ein wenig beleidigt, schien sich rechtfertigen zu wollen.

»Sonst wäre ich ja wohl bei denen, oder?«

Darcar richtete sich auf, setzte sich aufrecht, dabei schwindelte ihm, aber es war auszuhalten. »Wen genau meinst du mit…«

»Ich meine Henning«, erklärte Elmer, während er vor dem Feuer hockte und geübt die Scheite in die Flammen warf. Funken stoben auf wie brennende Glühwürmchen und verglühten in der Luft. »Den Rattenkönig und seine Schar der Verblendeten.«

Darcar verspürte einen tiefsitzenden Hass, als die Sprache auf den Rattenkönig fiel. Unwillkürlich umklammerte er seinen Becher so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

»Wenn du nicht zu ihnen gehörst, wieso haben sie dich dann nicht längt massakriert?« Darcar sah ihn wütend an. »Du wirst uns ausliefern, oder?«

Elmer wirkte gegenüber der Anschuldigung gelangweilt. »Dann hätte ich das längst getan.« Er deutete zur Destille. »Ich gebe ihnen Selbstgebrannten, deshalb lassen sie mich in Ruhe. Henning braucht das Zeug, sonst steht er nicht auf. Zittert wie ein Aal an der Angel. Also gebe ich ihm Schnaps, dafür geht er mir nicht auf den Sack. Nenn es Schutzgeld.«

Darcar dachte darüber nach und kam sich sogleich ein wenig dumm vor, da er sofort mit haltlosen Vorwürfen um sich geworfen hatte.

»Ich hätte dir nicht geholfen«, wandte Elmer dann jedoch seufzend ein, »lege mich nur ungern mit denen an und vertraue auch lieber niemandem. Aber dein Bruder kam angerannt, tränenüberströmt. Also hab ich gewartet, bis sie abgehauen waren, um dich rauszuziehen.« Er schenkte Darcar einen entschuldigenden Blick. »Deshalb musste ich dich hier unten verstecken, die wissen nichts von diesem Raum, ich lasse sie nur oben in den Laden.« Dann riet er ihm noch, während er sich die Hände abklopfte. »Du und dein Bruder sollten nicht mehr in der Stadt rumlaufen, das ist zu gefährlich.«

Darcar blickte in seinen Becher. »Ich …«, gestand er dann mutlos, »…was sollen wir denn sonst tun, wir müssen irgendwo einen sicheren Ort finden. Und Wasser und Essen…«

»Ihr könnt ja erst einmal hierbleiben«, bot Elmer an. Als Darcar überrascht den Blick hob, zuckte er nur gleichgültig mit den Achseln. »Stört mich nicht, wenn ihr hier seid, solange ihr euch versteckt und keinen Ärger mit Henning verursacht. Du musst dich erholen und deinen Bruder mag ich sehr, er hat sich gleich nützlich gemacht.«

Die Aussage verärgerte Darcar. »Wir sind keine Sklaven…«

»Nein«, fiel ihm Elmer sogleich besonnen ins Wort und suchte eindringlich seinen Blick, »keine Sklaven, aber wenn ihr überleben wollt, müsst ihr eben auch mit anpacken. Ich bediene euch sicher nicht. Ihr könnt mir helfen.«

Das leuchtete ihm ein, er wollte sich auch bestimmt nicht auf die faule Haut legen, doch die Vorstellung, wie Veland auf allen Vieren über den Boden kriechen musste, um zu putzen, zerriss ihm das Herz. »Ich helfe, wo ich kann«, erklärte er dann ernst. »Aber Veland darf ein Kind sein, solange er das möchte!«

Elmer schien zu verstehen, er nickte. Darcar wollte sich für das Angebot bedanken, doch er wusste gar nicht so genau, wie, als er dazu ansetzte.

Im gleichen Augenblick hörten sie kleine Füße die Holzstufen der Kellertreppe hinabtrampeln und blickten zur Tür. Veland schaute gehetzt hinein, die whiskyfarbenen Augen groß und freudesprühend. »Darcar!«, rief er und stürmte in das Gewölbe hinein, stolperte auf den steilen Steinstufen und nutzte den Schwung, um sich Darcar in die Arme zu werfen.

Darcar legte lachend den Arm um ihn, stellte blind den Becher ab und drückte ihn dann fest an sich, die Finger in seinem Schopf vergraben.

»Du bist wach!« Veland zog die Arme so fest zusammen, dass er Darcar würgte. Elmer lächelte über sie beide, senkte dann aber den Blick, als würde ihn etwas betrüben. »Du bist endlich wach!«

»V…« Darcar atmete erleichtert aus, schloss für einen Moment die Augen und drückte Velands Gesicht an seinen Hals. Es tat so gut, ihn zu halten, ihn zu spüren. So warm, so lebendig.

Jetzt wusste er, dass alles gut war. Ihm fiel ein riesiger Stein vom Herzen, die Erleichterung war groß und ermüdete ihn zugleich.

Elmer schlich zur Tür und machte sich lautlos aus dem Staub, Darcar sah ihm noch kurz nach, war dankbar und argwöhnend zu gleich. Das verunsicherte ihn, er wusste nicht, ob es klug war, dem Fremden zu vertrauen und einfach bei ihm zu bleiben. Sicher würde er irgendetwas dafür verlangen, früher oder später.

»Ich hab dich gerettet!« Veland richtete sich auf und lächelte Darcar stolz und glücklich ins Gesicht.

Darcar legte ihm eine Hand an die warme Wange, strich mit brennenden Augen und einem Kloß im Hals darüber. »Ja«, hauchte er und lächelte liebevoll, »das hast du. Du hast mich gerettet.« Diesen Triumph wollte er ihm nicht nehmen. Veland strahlte noch mehr, überschwänglicher Stolz machte ihn noch niedlicher, noch kindlicher – aber auch so unheimlich jung und verletzlich. Erneut warf er sich an Darcar, barg das Gesicht an der Brust seines großen Bruders, und schien auch nicht mehr loslassen zu wollen.

Darcar ließ sich zurück auf das Kissen fallen, küsste Veland auf den Kopf und genoss dann schlicht seine Nähe und das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Zumindest für den Moment. Er wollte Veland keine Angst einjagen, seine Freude nicht schmälern. Vielleicht hatte Elmer tatsächlich nur gute Absichten.

Doch Darcar vertraute niemandem blind. Niemandem.

Die Bilder der Hinrichtung wollten sich ihm aufdrängen, die Schreie seines Vaters. Er verbannte sie, indem er sich an seinen kleinen Bruder klammerte.

*~*~*

Er musste wieder eingeschlafen sein, doch dieses Mal hielt Velands Nähe die Alpträume nicht fern. Nun, da Darcars Verstand nicht mehr wie wattiert war, schien sein Unterbewusstsein all die Dinge aufzuwirbeln, die er erfolgreich im Wachzustand verdrängt hatte. Der Mord an seinem Vater. Er schwebte über der Stadt, strudelnd in der Luft, versuchte mit Schwimmbewegungen hinab zu gelangen, doch er wurde festgehalten – von geflügelten, riesigen Rattenwesen. Er brüllte, kämpfte, aber es brachte nichts. Er hörte seinen Vater um Hilfe rufen, er sah das Blut, hörte sogar das Brechen der Knochen, obwohl er es in Wahrheit nie vernommen hatte. Sein Traumverstand gaukelte ihm vor, dass sein Vater nie gestorben war, dass er noch am Leben war, dass er gerettet werden konnte. Er kämpfte und kämpfte und kämpfte gegen die Monster, die ihn festhielten, wollte fallen, wollte seinen Vater retten. Es war, als hätte er eine zweite Gelegenheit erhalten, die er nicht vermasseln durfte. Sein Herz raste, er strampelte, konnte nur daran denken, seinen Vater zu retten. Er war erfüllt von zweiter Hoffnung, die umso schmerzhafter erschlagen wurde, da er erneut nicht im Stande war, etwas zu unternehmen. Die Ratten höhnten.

»Darcar!«

Erschrocken fuhr er aus dem Schlaf, saß kerzengerade und schweißüberströmt aufrecht auf dem Lager. Es dauerte einen Moment, bis er klar sehen konnte, sein Herz raste wie verrückt und er schnappte nach Luft.

»Du hattest einen Alptraum.«

Elmer! Seine Stimme holte Darcar zurück. Blinzelnd starrte er den anderen an und bemerkte, dass er dessen Oberarme umklammert hielt. Ob ihn festzuhalten oder von sich zu stoßen, wusste er nicht mehr. Es war beinahe dunkel im Raum, nur noch ein heißes Glühen schien aus dem Kamin, die Kerzen ausgeblasen, von oben fiel auch kein Licht herein, obwohl der Schrank beiseitegeschoben war und die Tür zum Kellerraum offenstand.

Es war Nacht.

»Nur ein Traum, ganz ruhig.« Ein Finger streifte Darcars nasse Stirn. »Du bist hier sicher.«

»Was?«, fragte er verwirrt, noch immer ganz erregt.

»Dein Fieber ist angestiegen.« Elmer drückte ihn zurück ins Kissen, erst da bemerkte Darcar, dass dessen Hand auf seiner Brust lag. Genau mittig, warm und kräftig. Er war sich der Berührung plötzlich mehr als gewahr.

Langsam ließ Darcar sich zurückfallen, starrte in das schattige Gesicht, das sich kritisch über ihn beugte. Elmer hatte hellgrüne Augen, das fiel ihm erst in diesem Moment auf.

»Wo ist Veland?«, fragte er sofort, als er bemerkte, dass sein Bruder fehlte.

»Hab ihn rauf geschickt: Tee aufsetzen.« Elmer wandte sich ab, griff nach einer Schale, die er bereits mitgebracht hatte. Wasser plätscherte, er wrang einen Lappen aus und beugte sich dann wieder über Darcars Gesicht. »Er war in Panik wegen dir, du hast ihm mit deinem Geschrei eine Heidenangst eingejagt.«

Darcar schluckte schwer. »Das war nicht meine Absicht«, hauchte er dann.

Ein zaghaftes Lächeln antwortete ihm, das beinahe von der Dunkelheit verschluckt wurde. »Das weiß er doch.«

Er wehrte sich nicht gegen das kühle Abtupfen, er genoss sogar das feuchte Tuch auf seiner erhitzten Haut. Elmer war besonders sanft zu seiner Wunde auf der Wange, tupfte sie zaghaft ab. Der Kratzer brannte, seit der Schweiß hineingelaufen war.

Darcar betrachtete Elmer, wie er geübt und mit professionellem Blick mit dem Tuch hantierte, als habe er schon hundertmal Kranke umsorgt. »Warum hilfst du uns?«, fragte er ihn in die Stille hinein. Er war zu aufgewühlt, zu schwach, um Argwohn zu zeigen.

»Weil ich es kann«, gab Elmer mit einem leichten Lächeln zurück. »Und weil ich so erzogen wurde.«

Darcar hob seine Augenbrauen. Aber diese Erklärung war so gut wie jede andere.

»Außerdem…« Elmer starrte auf seine Hände, faltete den Lappen. »Ich habe auch Brüder, darunter auch einen jüngeren.« Beinahe entschuldigend lächelte er Darcar erneut an. »Und du hast Glück, dass ich weiß, wer ihr seid und warum ihr hier seid.«

Darcar betrachtete ihn einen Moment lang einfach nur und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er schluckte, seine Kehle war noch immer wund, oder schon wieder – vom Schreien.

»Woher weißt du, wer wir sind?«, fragte er schließlich ohne Vorwurf, ohne Argwohn.

Nachsichtig legte Elmer den Kopf schief, gleichzeitig klang seine Stimme einen Hauch pikiert. »So taub und blind sind wir hier nicht, auch wenn ihr Außenweltler das gerne glauben mögt. Aber tatsächlich…« Er seufzte leise, sah über die Schulter, als befürchtete er, Veland könnte sie belauschen, dann sah er Darcar wieder an, senkte ernst die Stimme. »Ihr werdet gejagt. Die Gilde der Meuchler wurde auf euch angesetzt, sie streifen hier durch die Straßen.«

Darcar spürte, wie sich der Knoten in seinem Magen schmerzhaft verstärkte. Er konnte sich vorstellen, dass seine Stiefmutter die Auftragsmörder über Dritte angeheuert hatte, damit kein einziger van Brick mehr übrigblieb, der sich rächen könnte.

»Woher weißt du das?«

»Ein paar Meuchler kamen zu mir und boten mir Vorräte, wenn ich ihnen sage, falls ich euch sehe.«

Sofort riss Darcar die Augen auf.

»Keine Sorge«, beschwichtigte Elmer, »ich verrate euch bestimmt nicht an Mörder.« Er legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. Darcar starrte ihn an, konnte sich nicht rühren. »Versprochen!«

»Warum bist du hier?«, wollte er wissen. Die Unterhaltung ermüdete ihn und da das Adrenalin in seinen Venen langsam abnahm, spürte er die Erschöpfung wie einen Hammerschlag im Genick. Dennoch wollte er es wissen. Musste es wissen. »Du sagtest, du hättest Brüder, wo sind sie…?«

»Zuhause«, erklärte Elmer. »Ich lief vor ein paar Jahren fort, wollte mehr sehen, wollte wissen, wie es in der großen Stadt so ist.« Er wirkte traurig, schuldvoll. »Ich habe immer mehr gewollt als das, was meine Eltern mir vorlebten, glaubte, es muss mehr geben als diese Einöde da draußen.«

»Du kommst vom Land?«

»Glaubst du denn, ein Stadtjunge hätte einen grünen Daumen, um in dieser unwirtlichen Umgebung Pflanzen ziehen zu können?« Elmer lächelte traurig. »Und ich hab meinem Vater nicht geglaubt, dass Farmer zu sein, wirklich nützlich sein könnte. Mein alter Herr hatte am Ende doch recht…«

»Warum bist du hier?«, unterbrach Darcar die nostalgische Erinnerung.

Elmer sah zur Seite, das Gesicht plötzlich härter, älter. Noch immer hielt er den Lappen in der Hand, schüttelte ihn immer wieder auf, um ihn erneut zu falten. »Ich dachte, ich würde schon Arbeit finden. Habe ich aber nicht, aber Hunger hatte ich trotzdem. Ich wurde dann beim Stehlen einer Geldbörse erwischt.«

»Deswegen bist du im Loch gelandet?« Darcar konnte es nicht glauben, Diebe wurden nicht so hart bestraft, ihnen wurden Finger oder eine Hand abgehackt, aber sie wurden nicht verbannt. Nein, hier landeten nur die Kinder von Verrätern, Steuerhinterziehern und natürlich Mördern.

Elmer hob freudlos die Mundwinkel und blickte Darcar direkt ins Gesicht. »Der Bestohlene verfolgte mich, stellte mich in einer Gasse und bei dem darauffolgenden Handgemenge stieß ich ihn von mir, er fiel hin und brach sich am Bordstein sein Genick.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie sagten, es wäre Mord gewesen. Und hier bin ich.«

Lange sah Darcar ihn an, forschte in seinen hellgrünen Augen. Elmer hielt dem Blick stand, und Darcar wurde immer betroffener. Er wusste nicht wieso, aber er glaubte ihm diese Geschichte, jedes Wort.

Plötzlich fühlte er sich schlecht, schuldig. Er hatte immer angenommen, dass alle im Rattenloch Verbrecher waren und zu Recht hierhergehörten. Dass nur ihm und Veland Unrecht widerfahren war…

Elmer stand auf, nahm die Schüssel mit und tauschte sie gegen ein winziges Keramikgefäß, das bereits gesplittert und nur notdürftig mit Ton geflickt worden war. Er öffnete den weißen Deckel, als er zurückkam, und kniete sich auf ein Kissen neben Darcar.

»Das ist Salbe gegen Wundbrand«, erklärte er. »Rezept meiner Großmutter. Zumindest teilweise, ich habe mich nie an die richtigen Zutaten erinnert, aber wie du siehst, hatte ich nie Wundbrand, also wird es helfen.«

Darcar nickte nur, plötzlich schwach und müde, konnte kaum die Augen aufhalten, vor allem, als Elmers Finger sanft die Salbe auf seinen Kratzer tupfte. Darcar zog scharf die Luft ein, als das grüngelbe Zeug auf seine Wunde traft, es brannte schrecklich. Ohne zu Zögern beugte Elmer sich hinab und pustete auf den Kratzer, bis es besser wurde.

Darcar starrte ihn wieder nur an, spürte seinen Atem, seine Wärme, seine Nähe und war ob dieser ein wenig betreten.

»Wie sieht es mit anderen Wunden aus?«, fragte Elmer trocken, vermied es aber plötzlich, ihm ins Gesicht zusehen.

»Andere Wunden?« Darcar überlegte. »Nur schmerzende Nieren.« Und unzählige Blutergüsse.

Ernst sah Elmer ihm ins Gesicht, schien etwas sagen zu wollen, warf dann aber noch einen prüfenden Blick zur Tür. Veland war noch immer nicht zurück, aber sie hörten ihn oben hantieren, Stühle verrücken, Geschirr aus Schränken nehmen.

»Ich meine…« Elmer nickte auf Darcars Decke. »Blutest du?«

Verwirrt schüttelte Darcar den Kopf, plötzlich war ihm unwohl. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Elmer seufzte. »Hör zu, ich kenne Henning, in Ordnung? Und wenn du verletzt wurdest, dann sag es, das ist wichtig. Du solltest nicht bluten. Nicht … da… das ist sehr gefährlich.«

Noch immer verständnislos starrte Darcar ihn an. »Er hat mich verprügelt, aber nicht aufgeschlitzt.«

»Du musst dich nicht schämen.«

»Ich schäme mich nicht«, gab Darcar zurück, »wofür denn auch?«

»Zwingst du mich echt, es zu sagen?« Elmer ließ schwer die Schultern hängen, als Darcar ihn nur ratlos ansah. »Es ist kein Geheimnis, dass Hennig ihn nicht in der Hose behält.«

Da dämmerte es Darcar. Und sein Gesicht verfinsterte sich. »Er hat mich nicht verletzt«, konterte er leise, bedrohlich. Dass Elmer glaubte, dass… Darcar war schockiert.

Elmer schien nicht überzeugt, er legte den Kopf schief. »Du musst es nicht zugeben, nur … nimm die Salbe, ja?«

Darcar sah entsetzt zu ihm auf, als er sich erhob und abwenden wollte. »Ich meine es ernst, er hat mich nicht angerührt!«

Elmer lächelte traurig. »Es ist nicht deine Schuld.«

Stöhnend strampelte Darcar die Decke von sich, dabei bemerkte er, wie schwach sich seine Gliedmaßen noch immer anfühlten, er brauchte dringend etwas zu Essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Nun jedoch musste er etwas beweisen, denn er wollte diesen mitleidvollen Blick nie wiedersehen.

»Hier!« Er drehte dem verdutzten Elmer den nackten Arsch zu und zeigte ihm seine Unversehrtheit. »Nichts verletzt, kapiert? Oder willst du mit einer Kerze rankommen und genauer hinsehen?«

Für einen Moment war er so still im Gewölbe, dass sie sogar die Mäuse am Stroh knabbern hören konnten. Dann brach Elmer in schallendes Gelächter aus. Darcar rollte sich wieder auf den Rücken.

»Also wer mir so unverfroren den blanken Arsch hinhält, schämt sich seiner wirklich nicht!« Elmer gluckste noch immer, schüttelte amüsiert den Kopf.

Das Lachen des anderen zauberte auch ein Schmunzeln auf Darcars Gesicht. Für einen winzigen Moment lag Sorglosigkeit in der Luft, als ob sie zwei ganz normale fremde Jungen waren, die sich unverhofft auf der Straße begegnet waren und sofort zusammen lachten. Dieser eine wunderbare Moment, da ein Lachen die angespannte Stimmung auflockerte, und man spürte, dass sein Gegenüber gar nicht so übel war, wie man befürchtet hatte.

»Ich … hab meinen nackten Arsch mal aus der Kutsche gehalten«, erinnerte Darcar sich plötzlich, »und ihn Schulkameraden gezeigt. Magda, unsere Haushälterin, hat ihn mir danach versohlt.« Er lachte auf, als ihn die Erinnerungen überkamen, doch mit ihnen hielt auch Bedauern Einzug. Darcar verlor sein Lächeln, er schluckte und musste seine Tränen zurückhalten. Er hatte Heimweh.

Elmer wurde still, senkte den Blick. Unbehaglich schob er die Daumen in seinen lockeren Hosenbund, er war drahtig, beinahe mager. Ein heller Streifen Haut wurde über dem Bund sichtbar, fast so weiß wie Milch. »Es wird leichter«, sagte er unaufdringlich zu Darcar.

Glücklicherweise kam in jenem Moment endlich Veland zurück, etwas schüchtern kam er herein und trug einen schweren, dampfenden Teekessel vor sich her, sehr darauf bedacht, nichts zu verschütten. »Ich habe eine Tasse runter geworfen«, gestand er seine Schuld und schaute traurig zu Elmer auf.

»Schon gut«, beruhigte dieser ihn und ging auf ihn zu, um ihm die Kanne aus der Hand zu nehmen, er strich ihm über den Kopf. »Geh zu deinem Bruder, ich kümmere mich um den Rest.«

Darcar streckte die Hand nach Veland aus, packte ihn an seinem weichen Wollpullover und zog ihn fest in seine Arme, erst dann erlaubte er es sich, zu weinen. Sein kleiner Bruder sagte nichts, fragte nichts, wehrte sich nicht gegen die Umklammerung. Er drückte sich an Darcar und war einfach nur da. Und er war alles, was Darcar jetzt noch hatte. Alles, was noch wichtig schien.

Blut für Gold

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