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Kapitel 5

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Darcar schlief kaum in jener Nacht, er hielt Veland im Arm, dessen Kopf auf seinen Beinen ruhte, und bewachte ihn, während er innerlich bei jedem kleinsten Geräusch hellhörig wurde. Wachsam zu bleiben war anstrengend, Angst zu haben noch mehr. Das beklemmende Gefühl hatte sich wie eine Kette um seine Brust gelegt und beschwerte seine Atmung, Schwäche und Nervosität kribbelte durch seine Eingeweide. In der Ferne erklang das Gelächter auf dem Marktplatz, es hielt beinahe die ganze Nacht an. Darcar erlaubte es sich nicht, die Augen zu schließen, er passte auf, dass sie niemand fand. Der Wind pfiff durch die Häuserruinen und es wurde kälter, doch weil er kein Licht erzeugen und auf sich aufmerksam machen wollte, hatte Darcar kein neues Feuer entfacht. So saß er stundenlang im Dunkeln und hielt Veland warm, bis sich die Versammlung – oder was auch immer es gewesen sein mochte – auf dem Marktplatz auflöste. Mit angehaltenem Atem lauschte er den näherkommenden Schritten und Gesprächsfetzen, jemand sang schief und rau, berauscht vom Alkohol. Darcar kannte diese lallenden Gesänge von Männern, die aus Saloons torkelten und die Straße hinauf stapften.

Niemand kam in die Bibliothek, niemand entdeckte sie. Kurz vor dem Morgengrauen wurde es wieder grabesstill in der Stadt, und obwohl Darcar wach bleiben wollte, fielen ihm irgendwann die schweren Lider zu, sodass er ein, zwei Stunden Schlaf fand, bis ihn plötzlich die Morgensonne wachküsste.

Er fühlte sich, als wäre eine Armee über ihn drüber getrampelt, seine Augen brannten, seine Zunge war pelzig und sein Atem schmeckte sauer. Er hatte Durst und Hunger, ihm war kalt und er wusste, dass in wenigen Stunden sein Vater hingerichtet wurde.

Alles in ihm schrie danach, einen Ausweg aus diesem Loch zu suchen, sich eine Waffe zu besorgen und seinen Vater zu befreien. Doch er war nicht allein, er hatte eine Verantwortung für Veland, den er nicht einfach in den Selbstmord mitziehen konnte. Er hatte ein Versprechen gegeben. Außerdem würde er ohnehin nichts ausrichten können, selbst wenn Veland nicht bei ihm wäre.

Er blieb noch eine Weile sitzen, streichelte den Rücken seines kleinen Bruders, dessen Brust sich unter ruhigen Atemzügen dehnte und senkte. Das Gefühl, wie er auf ihm lag, atmete, lebendig war und Schutz suchte, tröstete Darcar. V roch so gut, immer schon, nach Zuhause, nach Familie, dass es Darcar beinahe die Tränen in die Augen trieb.

Vor dem Fenster erhob sich das erste Licht des Tages. Ein schicksalhafter Tag. Darcar lehnte den Kopf an die Wand, von der die Verkleidung abgeplatzt war, und beobachtete, wie sich die Sonne über dem Rattenloch erhob. Er hatte einen dicken Kloß im Hals, und doch wollten ihm keine Tränen kommen. Es wäre leichter gewesen, hätte er weinen können. Denn an diesem Morgen würde man ihn seines Vaters endgültig berauben. Und er saß fest.

*~*~*

Mit dem Topf unter dem Arm und dem Messer unter dem Mantel wagte er es schließlich, im trüben Winterschein hinaus zu gehen. Der Tau hatte die Ruinen weiß getüncht, die Straßen waren glatt vom Frost, und der Himmel hatte sich nach dem Sonnenaufgang beinahe augenblicklich mit hellgrauen Wolken zugezogen. Doch es war windstill geworden, wodurch die feuchte Kälte einigermaßen erträglich war.

Dennoch spürte Darcar deutlich bei jedem Schritt, wie steif seine Gliedmaßen waren, als ob sich der Frost auf seine Gelenke gelegt hätte. Er wusste, dass er und sein Bruder dringend ins Warme und Trockene mussten, eine weitere Nacht würden sie nicht überstehen. Nicht, ohne Schäden zu nehmen. Und er ahnte, dass bereits eine Erkältung sie umbringen könnte, denn sie würden hier wohl kaum eine Apotheke oder einen Arzt finden.

Nein, ihr Leben hatte sich von Grund auf verändert. Es war, als ob man sie in der Wildnis ausgesetzt hätte. Die Gebäudekulisse war nur ein Trugschluss, ebenso gut hätten sie im Wald gestrandet sein können. Bis auf, dass sie in der freien Natur vermutlich viel mehr Pflanzen und Tiere, aber vor allem saubere Wasserquellen gefunden hätten. Das Rattenloch war ein Todesloch.

Seit dem Morgen knurrte Darcars Magen lautstark und unaufhörlich. Obwohl sich seine Glieder steif anfühlten, war er schwach auf den Beinen. Doch er verspürte noch immer keinen Appetit, wenn er an Essen dachte, wurde ihm übel. Nur der Durst war nagend.

»Bleib dicht an meiner Seite«, sagte er zu Veland. Er hatte ihn nicht noch einmal allein lassen können, vermutlich hätte Veland ohnehin lautstark protestiert und wäre ihm einfach gefolgt. Nun liefen sie dicht an dicht durch die leergefegten Straßen. Darcar fühlte sich bei Tag wesentlich sicherer als bei Nacht. Er hoffte darauf, dass die Banden erst bei Einbruch der Dämmerung aus ihren Löchern krochen. Dann würden er und Veland längst wieder in ihrem Versteck sein. Er überlegte auch, die Bibliothek zu verlassen und jeden Tag ein neues Lager in einem anderen Unterschlupf zu suchen, immer wandernd, um das Risiko, entdeckt zu werden, zu minimieren.

Darcar versuchte, sichere Wege zum Kanal zu finden, doch dadurch verlief er sich, da die Ruinen bei Tageslicht anders aussahen als bei Nacht. Wobei er gestehen musste, dass er nicht so clever gewesen war, gestern auf seinen Weg zu achten, er war schlicht vor jedem Geräusch davongelaufen, ohne sich etwas einzuprägen. Schließlich mussten sie doch einige Male über Sackgassenmauern oder durch eingeschlagene Fenster klettern und auf Zehenspitzen verlassene Gebäude durchqueren, um zum Rande des Viertels zu gelangen. Veland beklagte sich nicht darüber, dass Darcar ihn durch die Ruinen führte und ihn immer wieder hochhob, um über Hindernisse zu klettern. Er war dick eingepackt in seinen dunklen Wollpullover und seinen langen Schal, den Darcar so oft um seinen kleinen Hals gewickelt hatte, dass der bauschige Stoff Vs kleinen Kopf regelrecht verschluckte. Rosig, lieblich leuchteten seine zarten Wangen und die Stupsnase, Atemwolken traten aus seinen rissigen Lippen. Darcar wünschte, er hätte Melkfett auftreiben können, um Vs blutige, rissige Lippen damit einzucremen. Hin und wieder blieb er trotzdem stehen, um im warmen Schutz eines verlassenen Hauses Velands kleine Hände in seine zu nehmen, sie sacht zu reiben und solange anzuhauchen, bis sie sich nicht mehr wie Eiszapfen anfühlten. Es war beängstigend, wie schnell sie eiskalt wurden, doch Veland behauptete, es gar nicht zu bemerken, wehrte sich jedoch auch nicht gegen Darcars Führsorge.

Als sie endlich am Kanal ankamen, stahl sich ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und glitzerte auf dem Wasser. Die Nacht war wärmer gewesen als die Nächte zuvor, denn die Eisdecke war aufgebrochen und auf der Wasseropferfläche schwammen nur noch vereinzelte Platten dünnes Eis.

»Bleib hier«, sagte Darcar zu Veland und deutete auf die verrostete Eisenstühlen in romantischer Optik, die noch vor einem verlassenen Kaffeehaus standen. V ging zögerlich dorthin, aber blickte immer wieder zurück zu Darcar, als befürchtete er jeder Zeit, dieser könnte davonlaufen.

»Ich bin direkt hier«, versicherte Darcar und deutete zum Bordstein, der neben dem Wasserkanal entlangführte. »Ich bleib in deinem Blickfeld.« Er wollte nur nicht, dass Veland in das eiskalte Wasser fiel.

Dieser Ort wirkte bei Tag viel größer, die andere Seite, wo sich die Mauer auftat und einen langen Schatten ins Viertel warf, wäre nur mittels eines Bootes oder einer Brücke zu erreichen gewesen. Darcar stand bei diesem Wetter wenig der Sinn, zu schwimmen. Doch selbst, wenn er wagemutig genug gewesen wäre, hinüber zu gelangen, hätte ihn die hohe Mauer vor ein buchstäblich unüberwindbares Hindernis gestellt.

Es gab keinen Ausweg.

Und dennoch konnte Darcar nicht aufhören, die Mauer immer wieder kritisch zu betrachten, wie einen Feind, den er studierte. Er ging zum Wasser und hockte sich an den Rand des Kanals. Er musste sich nicht weit hinunter bücken, er war randvoll. Allerdings war der Topf so stark geschwärzt, dass er ihn erst einmal auswaschen musste. Das dauerte länger als vermutet und Darcar verzweifelte bereits, weil er den Ruß trotz aller Mühe nicht weggewaschen bekam. Und das Wasser war so eiskalt, dass es ihm die Finger abzufressen drohte. Immer wieder musste er innehalten und seine Hände unter seinen Achseln aufwärmen. Dass es mal solch eine Tortur sein würde, nur um etwas zu Trinken zu bekommen, hätte er in seinem Leben niemals gedacht. Ein Glas Wasser. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, ein Glas Wasser zu bekommen und es auszutrinken, wann immer er Durst hatte. Nun würde er beinahe töten dafür, um seinen und Velands Durst zu stillen.

Eine Bewegung im Augenwinkel ließ ihn erschrocken das Gesicht herumwerfen, sodass ihm seine schwarzen Haarspitzen in die Stirn fielen. Er blinzelte, da er das Gesehene für eine Illusion hielt. Doch er irrte sich. Was er sah, war vollkommen real.

Ein Junge, etwa siebzehn, aschblondes Haar, das dringend an den Seiten und im Nacken gestutzt werden müsste, balancierte mitten auf dem Kanal auf einem Floß und stach mit einer selbst gebauten Harpune aus alten Eisenresten und einem Fahnenmast nach Ratten, die im Wasser schwammen.

Als Darcar die Tiere bemerkte, die fast so groß wie Katzen waren und von dem anderen Jungen unabsichtlich in seine Richtung getrieben wurden, schnellte er vor dem Kanal zurück, als hätte das Wasser nach ihm geschnappt. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Hintern, den Topf hatte er in der Luft losgelassen, sodass er lautscheppernd neben ihm auf den Boden schlug.

Mit wildpochendem Herzen starrte Darcar erst den Topf an, bis er still liegen blieb, und hob dann nervös den Blick. Der Junge auf dem Floß hatte ihn bemerkt und starrte mit leicht gerunzelter Stirn zu ihm rüber. Er trug abgefressene, braunweiße Lumpen, doch sie wirkten genauso erstaunlich sauber wie sein beinahe milchweißes Gesicht. Sein Blick war nicht sonderlich überrascht, nur neugierig, ein wenig kritisch, aber interessiert.

Darcar kam es so vor, als hätte er ihn schon einmal gesehen und da bemerkte er auch die Mühle am Ende des Kanals. Ihr großes Rad stand still, sah morsch und angefressen aus. Vielleicht war er der Junge, der ihn in der Nacht zuvor angesprochen hatte, und vor dem er geflüchtet war. Bei Tag wirkte er wenig bedrohlich, eher wie ein typischer Straßenjunge, ein Bettler, den man leicht ignorieren konnte. Nicht wie ein schattenhaftes Monster, das ihn sofort angreifen und zum Spaß quälen wollte, wie es ihm sein aufgewühlter Verstand in der Dunkelheit zuerst vorgegaukelt hatte. Nein, kein Mörder, nur ein Junge auf Rattenjagd.

Hatte er etwa vor, die Biester zu verspeisen?

Darcar durchzog ein solch großer Ekel, dass er sich innerlich schüttelte. Er wusste über Ratten nur, dass sie allerlei Krankheiten übertrugen. Für ihn kam es einem Selbstmord gleich, eines dieser Biester zu verzehren.

So verzweifelt war er nicht.

Nun ja… noch nicht.

»Das solltest du nicht trinken«, rief ihm der Junge mit honigwarmer Stimme. »Koch es vorher gut ab, sonst wirst du einer von denen.«

Von denen? Darcar hatte keine Ahnung, was er damit meinen könnte, aber er hatte bestimmt nicht vor, das Wasser einfach so zu trinken!

Böse darüber, dass der andere ihn für einen naiven Dorftrottel hielt, rappelte er sich auf und hob den Topf vom Boden.

»Darc?« Veland stand plötzlich auf der Straße hinter ihm, verloren, winzig, er hatte den Fremden bemerkt und blickte unsicher zwischen ihnen hin und her.

»Bleib, wo du bist!«, befahl Darcar ihm streng, wütend vor Sorge.

Der Fremde kam nicht näher, aber er nickte Darcar zu. »Dein Bruder?«

Darcar antwortete nicht darauf, er warf dem anderen nur einen warnenden, drohenden Blick zu, der mehr als deutlich zu verstehen gab, dass er sie ihn Ruhe lassen sollte, und bückte sich dann wieder in den Kanal, um Wasser zu schöpfen.

»Ich weiß, wer ihr seid.«

Darcar schnaubte. »Das bezweifle ich«, erwiderte er, jedoch so leise, dass er es nicht für möglich gehalten hatte, dass der andere ihn verstehen konnte.

»Ihr seid die Neuen. Das Frischfleisch. Die … von Söhne des Barons.«

Verwundert hob Darcar nun doch den Blick. Der Topf war immer noch voller Ruß und wollte beim besten Willen einfach nicht sauber werden. Darcar benötigte einen Filter, ein Baumwoll- oder Leinentuch, irgendetwas in der Art, um das Wasser zu reinigen, bevor er es abkochte. Doch die Worte des Fremden lenkten ihn vom Wasser ab, er starrte ihn verständnislos an. Man hatte sie wohl kaum angekündigt – wer sollte das schon getan haben? Und wozu?

»Woher willst du das wissen?«, gab er deshalb pampig zurück.

Der Fremde lächelte zynisch und legte dabei den Kopf schief, als wollte er sagen ›ich bitte dich!‹. Laut rief er jedoch: »Nur Frischfleisch würde bei Nacht herauskommen, statt sich zu verstecken.«

Darcar mochte es nicht, wenn jemand implizierte, dass er dumm gehandelt hatte – auch wenn diese Tatsache nicht von der Hand zu weißen war – er wurde nicht gern mit der Nase auf seine Fehler hingestoßen. »Du warst doch auch draußen!«, erinnert er sich.

Der fremde Junge grinste und entblößte eine Reihe gerader Zähne, die wie aus Marmor gemeißelt aussahen. Zu perfekt, zu gerade, wie von einem Bildhauer aus Stein gehauen, der Wert auf reine Symmetrie gelegt hatte. »Ich bin ja auch kein Frischfleisch.«

Gutes Argument, da musste Darcar kapitulieren. Er wandte sich wieder dem Topf und dem Wasser zu, kratzte noch etwas Ruß ab und beschloss dann, es zu filtern, sobald sie im Lager waren.

Da sagte der Fremde plötzlich ernst, warnend: »Ihr solltet aufpassen und euch gut verstecken. Die suchen euch!«

Erneut blickte Darcar voller Verwunderung auf und runzelte dann düster die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Dass du auf dich und den Kleinen da« - der andere Junge deutete mit dem Finger in Velands Richtung - »besonders aufpassen musst.«

Darcar schüttelte den Kopf, verwirrt, genervt. »Wer sucht nach uns?« Das ergab doch alles keinen Sinn, niemand hatte gewusst, dass sie hier landen würden. Und wer sollte schon etwas gegen sie haben? Sie hatten nichts verbrochen – und ihren Vater konnten sie nicht mehr retten.

»Na die eben.« Der Fremde ging nicht weiter darauf ein, doch er beäugte einen Moment den Topf in Darcars Händen, blickte von diesem in Darcars noch immer argwöhnendes Gesicht. Der andere schien innerlich mit etwas zu ringen, nagte an seiner Lippe und starrte flüchtig in die Ferne.

»Wollt ihr was zu trinken?«, fragte er dann, als er sich durchgerungen hatte, seine Hilfe anzubieten. »Und Essen?« Er wies auf die zwei toten Ratten, die neben seinen Füßen auf dem Floß lagen und das dunkle Holz vollbluteten. »Ist genug für alle da und mich belästigten sie für gewöhnlich nicht.«

Darcar zog es den Magen zusammen, er schluckte schwer. »Nein, danke.« Er tunkte den Topf ins eiskalte Wasser und erhob sich. »Wir brauchen keine Hilfe.«

Veland sah das anders, er rief leise tadelnd: »Aber Darc…«

»Wir brauchen keine Hilfe«, betonte er, als er zu seinem Bruder auf die Straße trat. »Komm«, flüsterte er scharf, packte V am Arm und drehte ihn herum, schob ihn vor sich her.

Natürlich wusste er, dass sie Hilfe dringend nötig hatten, doch er befürchtete, dass sie hier niemandem trauen durften. Niemandem!

*~*~*

»Warum hast du das getan?«, fragte Veland verständnislos, als sie einige Straßen weiter um eine Kurve bogen, als hätte er erst in diesem Augenblick und durch die Entfernung zu dem Fremden den Mut gefasst, den Mund aufzumachen.

»Wir konnten ihm nicht vertrauen.« Darcar achtete akribisch darauf, dass kein Tropfen kostbares Wasser über den Rand des Topfes schwappte, während er ihn mit einem Arm an die Brust gepresst transportierte.

»Woher willst du das wissen?«, zischte Veland und riss sich aus seinem Griff. »Du hast es ja nicht einmal versucht!« Er blieb stehen, und Darcar sah sich gezwungen, ebenfalls stehen zu bleiben.

Seufzend drehte er sich zu seinem kleinen Bruder um, der voll Unverständnis und Verzweiflung zu ihm aufsah, Tränen glitzerten in seinen schönen, warmen Whiskyaugen. Dieser Blick machte Darcars Gewissen unheimlich schwer.

Seufzend ließ er die Schultern hängen und sah nachsichtig auf seinen Bruder hinab. »Es tut mir leid, V. Wirklich! Ich würde ja auch lieber Hilfe annehmen, glaub mir das! Aber ich kann und werde nicht riskieren, dass dir jemand wehtut!«

»Hmpf!« Veland verschränkte die Arme vor der Brust und sah trotzig zur Seite, weiße Atemwolken verhüllten sein Gesicht.

Er war süß, wenn er schmollte. Immer schon. Darcars Herz schmolz. Diese Wirkung hatte nur sein kleiner Bruder auf ihn, konnte ihn mit seinem niedlichen Schmollmund immer um den Finger wickeln. Doch heute musste er standhaft bleiben, es ging schließlich nicht nur um das letzte Karamellbonbon.

»V…« Er ging vor Veland in die Hocke, stellte behutsam den Topf ab und griff nach seinem Bruder, um ihn zu sich herum zu drehen. Sein Pullover war durch seine Körpertemperatur so wunderbar erwärmt, dass er sofort Darcars eiskalte Finger auftaute. »Sieh mich an, V…«

Doch Veland schürzte nur die Lippen und spielte, dass er Darcar nicht hörte.

Darcar seufzte erneut, traurig. »Bitte, sieh mich an.«

Langsam drehte er den Kopf zu Darcar herum, die Augen viel zu hart und viel zu anklagend für einen Neunjährigen.

»Es tut mir leid, in Ordnung? Wirklich!«, beteuerte er ihm. »Ich mache das doch nicht zum Spaß, V!«

»Ich hätte ihm vertraut! Mich hast du nicht gefragt!«

»Ja, weil…« …du klein und naiv bist… Doch Darcar biss sich auf die Zunge, bevor er diesen hässlichen Satz zu Ende brachte. Er stockte, atmete einmal tief durch. »Weil ich nun mal jetzt für dich verantwortlich bin, V!«, erklärte er dann und suchte in den großen, unschuldigen Augen seines Bruders nach Vergebung. Veland runzelte die Stirn, drohte tatsächlich, einzuknicken.

»Es tut mir leid, aber ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passiert, nur weil ich dem falschen Fremden vertraut habe!« Darcar hob eine Hand und streichelte mit dem Daumen über Velands kalte Wange. »Ich hab doch nur noch dich!«

Veland löste die Verschränkung seiner Arme, aber sein Blick wollte noch nicht auftauen. »Was ist mit Evi, Darc? Warum ist Evi nicht bei uns?«

»Das weißt du doch.« Darcar konnte nur flüstern, denn es schmerzte auch ihn, dass sie nicht zusammen waren, dass man sie getrennt hatte. Er vermisste den kleinen Fratz so sehr. »Evi hat es gut bei Magda! Sie… sie kümmert sich um ihn. Glaub mir, es ist das Beste für ihn!«

Veland begann plötzlich zu schniefen und zu beben, aber nicht vor Kälte. »Ich will auch zu Magda«, weinte er, und rieb mit einer winzigen Faust sein rechtes Auge, als wollte er die Tränen mit Gewalt zurück zwingen.

Darcar fuhr ein heißer Schmerz in die Brust. Er wollte etwas erwidern, doch die Angst und die Trauer seines Bruders machten ihn sprachlos, beinahe ohnmächtig vor Machtlosigkeit. Er zog V in seine Arme, hielt seinen Kopf fest. »Ich weiß«, flüsterte er heiser, da auch ihm die Kehle eng wurde, »ich auch, V, ich auch.«

»Ich will nach Hause«, weinte Veland, als endlich die Angst aus ihm herausbrach. »Ich will, dass alles wieder so ist wie früher! Ich will zu Evi, ich will zu Vater und Magda! Es ist kalt und nass und ich will in unser Haus, Darc! Ich will heim!«

»Ich weiß.« Darcar streichelte ihm den Nacken. »Es tut mir leid.« Mehr konnte er nicht sagen, es war überflüssig und wäre grausam gewesen, zu erwähnen, dass all das nicht mehr möglich war. V wusste es, sie wussten es beide. In dieser Sekunde war es nur wichtig, dass Veland sich ausweinte. Darcar würde ihn nicht belehren, ihn nicht zwingen, stark zu sein. Es hatte ihm sogar Angst gemacht, dass Veland die ganze Zeit so tapfer gewesen war. Vermutlich hatte der arme Kleine unter Schock gestanden.

Darcar hatte seine eigene, innere Starre noch nicht überwunden, er fühlte sich noch wie gelähmt, aber für V da zu sein tat ihm gut, ließ ihn fühlen.

Einen Moment hielten sie sich aneinander fest, mitten auf der Straße, während winzige Schneeflocken lautlos durch die Luft schwebten wie Staub, der im Lichtschein einer ansonsten dunklen Stube tanzte. Zeit und Ort hatten keine Bedeutung. Dieser Augenblick gehörte nur ihnen. Darcar wartete geduldig, bis Veland aufhörte, zu schniefen.

»Hey!« Er nahm ihn an den Schultern und drückte ihn sacht von sich, sah ihm auf Augenhöhe ins Gesicht und stupste ihn mit einem Lächeln aufmunternd an das schmale Kinn. »Wir haben uns, in Ordnung? Und wir sind doch van Bricks! Wir schaffen das, wir lassen uns nicht unterkriegen. Richtig?«

Veland nickte, jedoch wirkte er alles andere als überzeugt. »Richtig.«

Zärtlich nahm Darcar das kleine Gesicht seines Bruders zwischen seine Hände und wischte mit den Daumen die feuchten Tränenspuren von der kalten Haut, bevor sie festfroren. »Solange wir uns haben, V, haben wir alles! Und ich verspreche dir, dass alles gut wird. Ich werde dafür sorgen. Wir werden Vater stolz machen!«

»Aber er … er wird doch... niemals mehr stolz sein können«, flüsterte Veland kummerschwer.

»Doch!«, widersprach Darcar ernst. »Er wird es wissen, Veland. Denn auch, wenn er nicht körperlich bei dir ist, ist er niemals fort. Das weißt du doch noch, oder? Menschen gehen nie gänzlich fort. Heute wird die Sonne einen neuen Lichtstrahl zu dir herabschicken, und du wirst wissen, dass es Vater ist.«

Darcar glaubte selbst nicht an die Geschichten, die Magda sich nach dem Tod von Darcars Mutter ausgedacht hatte, doch er wusste, dass sie V geholfen hatten.

Veland senkte den Blick, er begann zu nicken und atmete ein wenig befreiter aus. »Ich habe Hunger«, klagte er dann und suchte Darcars Blick. »Und mir ist kalt.« Er versuchte regelrecht, in seinem Pullover zu verschwinden, wie eine Schildkröte in ihren Panzer.

Darcar nickte. »Mir auch.« Liebevoll strich er über Velands seidiges Haar. »Wir finden schon was!«

»Ich hätte da etwas!«

Sie fuhren zum Ende der Straße herum. Darcar gefror das Blut in den Adern, seine Nackenhaare stellten sich warnend auf. Wo kamen die denn auf einmal her? Eine Gruppe Jugendlicher, verpickelt und lumpenhaft, reihte sich in der Gasse auf. Es waren fünf. Der in der Mitte trug einen verrosteten Schürhaken, an dem eindeutig getrocknetes Blut klebte, über der Schulter, und leckte sich lasziv die rissigen Lippen.

Darcar umklammerte Velands Arm, als er sich langsam erhob und ihn dabei so eng an seine Seite zog, dass sich nicht einmal mehr ein Lufthauch zwischen sie pressen konnte. Stolz und abweisend starrte er den Älteren entgegen. Sie waren schätzungsweise achtzehn oder neunzehn Jahre alt, vielleicht auch älter.

»Was wollt ihr?«, fragte er unfreundlich.

Kollektives Lachen ging durch die Gruppe, sie schlenderten lässig auf ihn zu. »Warum denn so unfreundlich?«, fragte der Redensführer und schwang den Schürhaken nach vorne, der hell auf dem Bodenpflaster klackte, als er ihn wie einen Gehstock führte. Er hatte stumpfes, braunes Haar – eher Graubraun – und dunkle, seelenlose Augen, die gefährlich funkelten. »Hab euch noch nie hier gesehen«, betonte er wie beiläufig, beinahe freundlich. »Man wird ja wohl noch seine neuen Nachbarn begrüßen dürfen, oder?«

Darcar wich vor ihm zurück, zog Veland an sich. Eine Duftmischung aus Süße und Säure schlug ihm von der Gruppe entgegen. Ihre Mäntel waren mottenzerfressen, ihren Handschuhen fehlten die Finger, die Wollhemden unter ihren Jacken besaßen kaum noch Knöpfe und waren fleckig, ihre Hosen ebenso, ihre Stiefel schlappten wie Sandalen und ihre blasse Haut war überall gezeichnet durch Unreinheiten, Kratzer und andere Blessuren, als ob dieser Ort sie langsam von innen heraus auffressen würde. Fünf völlig unterschiedliche Gesichter – von Hager bis aufgedunsen – fixierten Darcar und Veland mit hinterhältigen Blicken. Die Luft knisterte augenblicklich.

Darcar wich noch ein weiteres Stück zurück, dann wandte er sich an Veland, legte ihm eine Hand auf die Schulter und wartete, bis sein Bruder unsicher zu ihm aufblickte. Er schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

»Geh«, sagte er dann zu ihm, »lauf weg und versteck dich!«

Veland schüttelte panisch den Kopf, krallte sich an seinen Ärmel.

Die Gruppe amüsierte sich über sie. »Warum so ängstlich, sehen wir so abschreckend aus?« Sie lachten, weil sie ganz genau wussten, dass sie widerwärtig waren.

»Tu, was ich dir sage«, zischte Darcar seinem kleinen Bruder unmissverständlich zu. »Vertrau mir! Lauf weg!«

»Aber…« V sah verzweifelt von Darcar zu den Fremden und wieder zurück, es schimmerten Tränen in seinen Augen und seine Lippen zitterten liebreizend.

Verdammt, es brach Darcar das Herz, ihm das anzutun. »Geh!«, befahl er ihm leise, aber äußerst streng.

Veland sah noch ein letztes Mal zu der Gruppe, allesamt starrten sie den Kleinen fies grinsend an, wie Monster aus einer düsteren Mär, die kleine Kinder, die sich im Wald verirrt hatten, verspeisten.

Veland ließ Darcar los und rannte davon, die Straße entlang bis zu einer Kreuzung, bevor er verschwand, hielt er sich an einer Häuserecke fest und spähte noch einmal zurück.

Darcar stellte sich der Gruppe in den Weg, er würde, wenn nötig, jede Prügel einstecken, wenn er Veland damit Zeit verschaffte, sich zu verstecken.

»Süß…«, sagte der Redensführer trocken. »Ein wirklich hübscher … hübscher Junge…«

Wie er das sagte, verursachte Darcar Übelkeit. »Ihr lasst ihn in Ruhe!«

»Oh sicher, sicher.« Der andere lachte und trat erneut auf ihn zu. Dieses Mal wich Darcar nicht zurück. »Nun ja… vorerst«, warf sein Gegenüber dann ein, die dunklen Augen blitzten amüsiert.

Seine vier Mitläufer lachten dreckig. »Wir haben ja dich zum Spielen, Frischling«, sagte einer, dessen blondes Haar unter einer Wollmütze hervorlugte, er kratzte sich auffallend häufig am Kopf, als würden ihm die Läuse bereits die Haut vom Schädel fressen. »Den Kleinen spüren wir hinterher auf.«

»Der schmeckt bestimmt noch ganz unschuldig«, meinte ein anderer und fuhr erregt mit der Zunge über seinen Mund.

Darcar sah mit zornig zuckenden Gesichtsmuskeln von ihm zurück zu dem Redensführer, der mit einem süffisanten Grinsen um ihn herumschlich und ihn nach Schwachpunkten absuchte. »Schaut ihn euch an, dieses finstere Gesicht! Da steckt noch Stolz und Würde drin.«

Die anderen lachten erneut. Darcar ballte die Hände zu Fäusten.

Schlag nie zuerst zu, hatte sein Vater ihm einmal gesagt, vermeide eine Prügelei, wann immer es geht. Aber wenn sie dir keine Wahl lassen, dann schlag erst zu, wenn dein Gegner auf dich losgeht. So hast du Zeit, ihn abzuwehren und gleichzeitig einen Schlag zu kontern. Beobachte, handle nicht sofort. Geduld ist die Stärkste Waffe.

Natürlich hatte Darcar trotz des Ratschlags auch genug Schlägereien von sich aus angefangen, er galt in der Schule nicht umsonst als hitzköpfig, aber am Ende hatte sein Vater immer Recht behalten. Er hätte nie zuerst zuschlagen dürfen.

»Verzieht euch«, presste er leise durch seine zusammengebissenen Zähne, »bevor es euch leidtut.«

»Uhhhh«, höhnte der Redensführer, während er Darcar umrundete wie ein Wolf ein verletztes Rehkitz. »Mir schlottern schon die Knie. Hab wahnsinnige Angst vor deiner wütenden Fresse, Kleiner. Stimmst, Jungs?«

»Klar, Boss, wahnsinnige Angst«, lachten sie. »Ziehen gleich die Schwänze ein.«

Darcar knirschte mit den Zähnen, die Wut in ihm brodelte heiß und stetig. Er zwang sich so sehr, äußerlich ruhig zu bleiben, dass er beinahe vor Zorn zitterte.

Die dunklen Augen fixierten ihn wieder, raubtierhaft, gefühllos. Darcar erinnerte sich an die Verbrecherfotos in der Zeitung oder auf ›Gesucht‹-Plakaten, und wie unmenschlich, fast monsterhaft ihm die Gesichter einiger dieser Personen vorgekommen waren. Beunruhigend kaltblütig, so als stäche ihre Bosheit aus ihrem Inneren hervor. Ihre Augen waren das Tor zu ihrer Abnormalität. Genau so ein Exemplar stand vor ihm.

Nun ja, das Rattenloch hieß eben nicht Rattenloch, weil hier besonders freundliche Wesen hausten, nicht jeder war wie Darcar und Veland unschuldig hier.

Darcar starrte zurück, obwohl er es besser wusste, doch er konnte nicht wegsehen, er blickte hart zurück – wollte sich nicht einschüchtern lassen. Sein Herz raste. Der andere kam näher, zu nah.

»Einen hübschen Mantel hast du da an«, bemerkte der andere hinterhältig. »Sieht warm und weich aus.« Er streckte die Hände danach aus, sofort schlug Darcar die dreckigen Finger fort.

»Du bekommst nichts von mir«, warnte Darcar, während er den anderen mit Blicken verfolgte.

Dieser ging dazu über, vor ihm auf und ab zu wandern, wie ein Löwe hinter dem Gitter seines Käfigs. Doch sie beide trennte nichts von einander.

»So unfreundlich, dieses Frischlingspack!« Er spuckte vor Darcar aus, dieser fasste die Geste durchaus als Beleidung auf und zuckte mit der Oberlippe. »Schon mal etwas von Willkommens-Geschenken gehört?«

»Schon mal etwas von einem Faustschlag in die Fresse gehört?«, konterte er.

Wuum. Keuchend krümmte Darcar sich nach vorne, als der Griff des Schürhakens in seinen Magen traf. Er hatte mit einem Angriff gerechnet, jedoch nicht mit der Schnelligkeit seines Feindes, und auch nicht, dass der Schlag mit der Waffe kommen würde, direkt in seine Magengrube. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass der erste Hieb auf sein Gesicht zielen würde.

Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, er wollte sich aufrichten, doch da war der Wichser, der ihn angriff, mit seinem Schürhaken bereits ganz lässig halb um ihn herumspaziert und schlug den Haken längs über seinen Rücken. Die Wucht schleuderte Darcar nach vorne, er krachte auf die Knie, keuchte erneut. Eine Hand auf dem schmerzenden Bauch liegend, die andere haltsuchend auf den Boden gestützt, rang er nach Atem.

»Keine dummen Sprüche, du kleine Hure!« Der andere spuckte ihn an, der warme Speichel landete auf Darcars Wange und tropfte zähflüssig zu Boden. »Das hier ist mein Reich, kapiert?«

Er drehte den Kopf zur Seite, übel vor Schmerzen und Wut. »Fick dich!«, spie er aus.

Den darauffolgenden Tritt erwartete er und wehrte ihn mit dem Unterarm ab. Der andere fluchte, als Darcar ihm gegen das Schienbein schlug. Blitzschnell zückte er das Messer und es gelang ihm tatsächlich, den Unterschenkel seines Angreifers leicht zu verletzen. Dieser fluchte wutentbrannt. Darcar holte erneut aus, stach zu wie eine Wespe, doch sein Gegner wich tänzelnd aus und verpasste Darcars Hand einen harten Tritt, der die Waffe aus seiner Hand katapultierte. Die Klinge wurde über die Straße geschleudert. Darcar kümmerte sich nicht darum, er packte das Bein des anderen und zerrte daran, um ihn zu Fall zu bringen. Da peitschte ihm ein heißer Schmerz beinahe die Haut von der Wange. Er wurde vom Aufprall des Schlags herumgeworfen und brüllte ungläubig, sah für einen Moment nur rote und schwarze Punkte vor seinen Augen, als er auf dem kalten, frostigen Boden aufschlug. Der Schürhaken hatte einen langen Kratzer auf seinem Gesicht hinterlassen, der so stark blutete und brannte, dass es sich anfühlte, als würde sich Säure in die Wunde fressen. Er blinzelte, um wieder etwas sehen zu können.

»Dreckiger Hurensohn!« Der andere trat ihm beherzt in die Rippen, Darcar brachte nur noch ein ersticktes Keuchen hervor. Er krümmte sich in der Mitte und rollte sich auf die Seite, der Schmerz raubte ihm den Atem, Blut staute sich in seinem Kopf, sodass sein Herzschlag fühlbar in den Schläfen pochte.

»Bringt den kleinen Hurensohn auf die Beine!«, bellte der Anführer seiner Gruppe zu.

Die Vier, die zuvor nur vollkommen zufrieden zugesehen hatten, stampften auf Darcar zu. Er versuchte, sich auf den Bauch zu drehen und hochzuhieven, doch er kam nur auf die Ellenbogen, da packten ihn bereits kräftige Hände und zerrten ihn so schnell auf die Beine, dass ihm schwindelig wurde. Jemand packte ihm grob ins schwarze Haar und riss seinen Kopf in den Nacken, bis er brüllte.

»An die Wand mit ihm, dem bringen wir Manieren bei!«

Darcar knallte mit dem Rücken an etwas Hartes, Kaltes. Die vier Handlanger drückten seine Arme gegen die Fassade eines alten Schneiderladens, zwei zu jeder Seite, hielten ihn fest und aufrecht, sodass er nicht entkommen konnte.

Trotz Schmerzen, die in Magen, Rippen und Gesicht brannten, lehnte Darcar sich auf, knurrte und wandte sich wie ein wildes Tier in der Schlinge. »Lasst mich los, ihr Drecksschweine! Lasst mich sofort los! Elende Feiglinge! Lasst… mich… los…!«

»Sieh an, sieh an, wie ein junger Kojote«, säuselte der Anführer. »Noch so wunderbar ungezähmt!« Er trat vor Darcar, führte zwei Finger über die Spitze seines Schürharkens, strich genüsslich Darcars Blut davon ab und bedeckte damit seine Lippen, um es abzulecken. »Hmmm… so warm und frisch…«

Die anderen lachten wieder gehässig, als würden sie dafür bezahlt, jedes Wort ihres Redenführers mit Gelächter zu untermalen. Vermutlich wurden sie das tatsächlich.

Darcar streckte das Kinn vor, seine Miene war hart wie Stein, obwohl der Schmerz noch immer Tränen in seine Augen trieb.

»Du bist hier in meinem Revier! Wenn ich sage, gib mir deinen Mantel, dann gibst du ihn mir! Wenn ich sage, geh auf die Knie, dann sinkst du auf die Knie. Wenn ich sage, du sollst dich schneiden, dann fragst du, wie tief. Und wenn ich dir sage, du sollst meinen Schwanz lutschen, dann lutscht du ihn, wie es mir gefällt, und bedankst dich hinterher dafür!«, trichterte ihm der Anführer plötzlich ernst ein. »Ich bin der König hier, verstanden? Ich bin der Rattenkönig des Lochs, du kleine Hure!«

Darcar konterte nur: »Was bin ich denn jetzt? Ein Hurensohn oder eine Hure?«

Der nächste Schlag traf ihn in die Niere. Darcar grunzte, er fiel nach vorne, aber die anderen nagelten ihn sofort wieder an die Wand. Sein Kopf hing schlaff herunter und er sabberte einen Moment vor Übelkeit.

»Du bist beides«, spuckte der Rattenkönig hasserfüllt aus. Dann packte er Darcar unter dem Kinn, zwang seinen Kopf in den Nacken und betrachtete ihn eingehend, forschend. »Sieh dich an! So sauber, so eine feine Frisur, ein so edler Mantel…«

Darcar starrte ihn nur wütend an.

Der Rattenkönig musterte ihn, dann fuhr er mit einer Hand unter Darcars Mantel über seine flache Brust, wo sich Andeutungen athletischer Muskeln auf seinem jungen Körper erhoben. Darcar erstarrte augenblicklich zu Stein, als er die Berührungen spürte.

Er war für seine fünfzehn Jahre recht stattlich, aber eben kein Hüne, weshalb er gegen vier volljährige Burschen mit, von harten Straßenkämpfen, gestählten – wenn auch mageren – Körpern, kaum eine Chance hatte.

Als die gierigen Finger des Rattenkönigs erkundend über seinen Leib fuhren und die dunklen Augen vor Lust noch dunkler wurde, ertrug Darcar es nicht mehr, den anderen anzusehen, er drehte den Kopf zur Seite, mahlte mit den Kiefern, wollte ihn grob von sich stoßen und ihm einen Fausthieb mitten in seine lüsterne Fresse verpassen – und konnte sich doch nicht bewegen. Er wurde festgehalten, noch fester als zuvor.

Er kam sich vor wie ein Stück Fleisch auf dem Markt. Nun wusste er, wie es einem jungen Rind erging, das am Strick gehalten und fixiert wurde, während Schlachter es begutachteten.

Plötzlich fühlte er sich müde, geschwächt. Wollte nur noch zusammensinken, die Arme um die Knie schlingen und das Gesicht zwischen den Schenkeln vergraben.

Er blieb nur standhaft, weil er an Veland dachte und ihn nicht enttäuschen wollte.

»Stattlich«, bemerkte der Rattenkönig nachdenklich und zog seine widerwärtige Hand endlich aus Darcars Mantel hervor. Seine Augen funkelten noch mehr, gierig, erregt. Es war unleugbar, was er wollte. »Die Kleidung riecht frisch, das Haar…«, er griff danach und befühlte es, »…gewaschen.« Er sah Darcar wieder ins Gesicht und verengte die Augen. »Wohl genährter Stadtbursche. Du kommst nicht von der Straße. Was brachte dich denn ins Loch?«

Darcar holte mit dem Kopf aus und schlug ihm die Stirn mitten ins Gesicht. Er zuckte selbst zusammen und spürte den pochenden Schmerz in seinem Schädel, doch wie der Wichser zurücktaumelte und sich das Gesicht hielt, erfüllte ihn mit Genugtuung.

Wie zu erwarten, hagelte es von den Handlangern links und rechts ein paar Fausthiebe in seine Nieren, bis er nur noch keuchend und sabbernd vorn überhing. Das war es dennoch wert gewesen.

»Temperamentvoll.« Der Rattenkönig wischte sich das Blut von der aufgeplatzten Lippe. »Stolz und unbeugsam. Du bist ´nen wohlhabender Fratz, was?«

Darcar spuckte ihm einen Speichelklumpen entgegen, doch der Rattenkönig wich aus, lachte vergnügt.

»Du Miststück!« Er grinste breit, schien Spaß an Darcars Gegenwehr und Hilflosigkeit zu haben. »Wie ist dein Name?«

Darcar bohrte seinen Blick nur voller Genugtuung in seinen. Er würde nichts sagen.

Doch das amüsierte den anderen nur. »Ich weiß, wer du bist. Kommst mit deinem Bruder hierher, aus dem hübschen, reichen Viertel der Stadt. Oh ich weiß, wer du bist.«

»Du weißt gar nichts«, gab Darcar zurück und erschrak selbst über seine kratzige, schwache Stimme.

Ein milder Ausdruck trat auf das Gesicht des Rattenkönigs, er legte den Kopf im gespielten Bedauern schief. »Wird dein Papi nicht heute hingerichtet?«

Darcar erbleichte. Woher in aller Welt wusste der Wichser wer er war? Wie konnte das sein?

Er verstand nicht, was hier gespielt wurde.

»Ins Schwarze getroffen.« Zufrieden legte der Rattenkönig den Kopf nun von der einen auf die andere Seite, seine Augen blitzten schelmisch. »Bist du nicht traurig, dass du nicht dabei sein kannst?«

Darcar sagte nichts, erwiderte nur weiterhin voller Hass den Blick des anderen.

Dieser lachte leise in sich hinein, zugegeben war dieser Laut beinahe zu wohlklingend für dieses Scheusal. Beinahe melodisch. Seine Stimme besaß etwas… Kunstvolles, er wäre unter anderen Umständen vielleicht ein guter Opernsänger geworden.

Er ging vor Darcar, der nur noch dadurch stand, dass er festgehalten wurde, ein Stück in die Knie und zog eine Schnute, als würde er mit einem Kleinkind sprechen. »Möchtest du es sehen?«

Darcar sank das Herz in die Hose, er konnte es nicht verstecken, sein Gesicht gab seine tiefsten Gefühle gegen seinen Willen preis.

Der andere grinste wieder. »Ich kann es dir zeigen.« Er blickte demonstrativ nach oben. Darcar folgte seinem Blick, schluckte hart. Der Uhrenturm erhob sich bedrohlich über dem Viertel – und der gesamten Stadt.

Der Rattenkönig sah Darcar wieder süffisant an. »Bereit, für einen letzten Blick auf Papi?«

Darcar schüttelte wild den Kopf, die Augen angstgeweitet, obwohl er bereits wusste, dass es die Mühe nicht wert war.

Blut für Gold

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