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Kapitel 3

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Die Mauer überragte die Dächer aller Gebäude und war so breit wie drei eng stehende Ackergäule. Die Tore aus engen Gittern, von denen die schwarze Friedhofsfarbe abplatzte. Bewacht wurden sie von zahnlosen, verwahrlosten Wächtern, die ein gefährliches Glitzern in ihren Augen trugen, wie man es nur von ausgekochten Schlitzohren kannte. Und tatsächlich luchsten sie Vic noch einen Batzen Noten aus dem Sekel, damit Darcar und Veland ihr letztes Hab und Gut behalten konnten. Dabei handelte es sich lediglich um die Kleidung, die sie trugen. Die Wächter hatten ihnen sie abnehmen und sie in Lumpen stecken wollen. Das Letzte, was Vic für die tun konnte, war, ihnen ihre Kleidung zu ermöglichen – wobei das bei Darcar nicht sehr viel Stoff war. Er fror noch immer bitterlich, biss aber die Zähne zusammen. Irgendwo in seinem Kopf keimte die kindliche Hoffnung, dass es wärmer werden würde, sobald sie ihre neue Unterkunft erreichten. Dann würde er ein Feuer im Kamin machen und sich solange mit Veland davorsetzen, bis sie auftauten. Um Essen würde er sich am nächsten Tag kümmern, ihm war ohnehin noch immer übel.

»Damit tut Ihr ihnen keinen Gefallen«, warnte der nach Verwesung stinkende Wächter, als er die Scheine in seine zerfressene Lumpenjacke steckte. Von Mitleid konnte bei ihm keine Rede sein, er grinste dreckig und leckte sich über die spröden Lippen, die von der trockenen Winterkälte rissig und blutig waren. »Man wird sie ausrauben, da haben sie noch keine drei Schritte gemacht.«

Velands Kopf schoss zu Darcar hoch.

»Der will dir nur Angst machen«, flüsterte Darcar zu seinem Bruder und drückte ihm beruhigend die Schulter. »Außerdem bin ich bei dir, ich passe auf dich auf, in Ordnung? Ich schwöre es!«

Veland nickte zögerlich. Es war nicht so, dass er Darcar nicht vertraute, er hatte einfach nur furchtbare Angst und fragte ständig, wann Vater sie holen käme.

Vic wandte sich ein letztes Mal zu ihnen um, als der Wächter einen großen Schlüssel ins schmale Gitter steckte und das Tor – das wie eine Friedhofspforte aussah – quietschend aufzog.

Darcars Herz raste, äußerlich blickte er kühl drein.

»Nimm das«, flüsterte Vic ihm zu und steckte Darcar etwas in den Hosenbund, zog dann den Mantel streng darüber. Darcar musste nicht nachsehen, der spürte an seinem Bauch die kalte Klinge, er nickte überrascht – und benommen, weil ihm der Ernst seiner Lage immer deutlicher bewusstwurde. Er fühlte sich, als ob er gleich in eine Kampfarena gestoßen wurde. Ein Kampf auf Leben und Tod. »Passt auf euch auf.« Vic hatte Tränen in den Augen.

Hilf uns doch, wenn dir so viel an uns liegt, dachte Darcar wütend. Auch wenn er wusste, dass selbst dem Sheriff die Hände gebunden waren. Immerhin war auch er nur ein Handlanger des Schwarzen Rates. Und der Rat hatte gesprochen.

»Es tut mir so leid, mein Junge«, beteuerte er und drückte zum Abschied Darcars Schulter, wuschelte durch Velands Haar. »Ich werde versuchen, euch Essen reinbringen zu lassen.«

»Mach dir keine Umstände«, entgegnete Darcar gleichgültig. »Vergiss uns einfach, wir sind nur Verbannte.«

Bevor Vic noch etwas sagen konnte, packte Darcars Velands kleine Hand und zog ihn durch das Tor. Er blickte nicht zurück, nur nach vorne.

»Was soll das heißen?« Velands Stimme zitterte verwirrt. »Warum sagst du, dass wir Verbannte sind?«

Darcar blieb nach drei Schritten stehen, sie befanden sich auf einem ehemaligen Friedhof und vor ihnen erhoben sich die Trümmer eines uralten Stadtteils. Er betrachtete seine neue Heimat.

»Weil wir es sind«, antwortete er seinem Bruder.

Dieser brauchte einen Moment, um es sich einzugestehen, klappte den Mund zum Protest auf, erkannte aber an Darcars harter Miene, dass er keinen bösen Schabernack mit ihm trieb. Tränen schwammen in seinen großen whiskyfarbenen Augen, als er endlich zu verstehen begann. Er folgte Darcars Blick und wirkte verloren, als er ihn über die Gebäude schweifen ließ, die wie abgebrochene Drachenzähne aus dem Boden emporragten.

»Ich habe Angst, Darc«, flüsterte er dann.

Darcar spürte einen Kloß im Hals, er drückte fest die kalte Hand seines Bruders. »Ich auch, V.«

*~*~*

Als sie vorsichtig und schreckhaft durch die leeren Straßen gingen, kam ihnen dieses Viertel immer geisterhafter vor. Nicht einmal Ratten liefen ihnen über die Füße, und mehr als das Rauschen des Windes war nicht zu vernehmen. Niemand wies sie einer Unterkunft zu, der Wächter hatte ihnen nur geraten, sich schnell in einer unbewohnten Ecke zu verstecken und sich ruhig zu verhalten.

Sie waren nun vollkommen auf sich gestellt. So allein hatte Darcar sich noch nie gefühlt, und allmählich wurde ihm die Verantwortung für Veland zu viel. Er wollte seinen Bruder beschützen, gleichzeitig wusste er nicht einmal, wie er sich selbst schützen sollte. Das Messer in seinem Hosenbund schenkte ihm vermeintliche Sicherheit. Aber das letzte Messer hatte ihm auch nicht dabei geholfen, die Uniformierten von seinen Brüdern fern zu halten. Und nun waren sie auseinandergerissen. Es gab nur noch ihn und Veland, Darcar wünschte, er hätte auch ihn bei Evi lassen können. Evi ging es bestimmt besser als ihnen, da war er sich sicher, und allein das schenkte ihm Mut.

Es war kalt und gespenstig, als ob die Toten hier hausten und sie aus den dunklen Ecken der Ruinen mit Blicken verfolgten. Darauf wartend, sie von hinten anfallen zu können. Darcar zog V an der Hand mit sich, er hatte durchgehend eine Gänsehaut und schreckte bei jeder Bewegung im Augenwinkel herum. Meist war es nur ein verirrter Vogel oder eine Schneeflocke, die ihm auffiel, aber auch mal ein zerrissenes Tuch, das vom Wind über den vom Tau glitschigen Bordstein geweht wurde.

Es war seltsam hell an diesem Ort, heller als in der restlichen Stadt. Doch das vermehrte Licht rührte bloß daher, dass die aneinandergereihten Häuser oft bis auf das Erdgeschoss eingestürzt waren und keine Schatten mehr warfen. Das Viertel wirkte wie befreit von der Gewaltigkeit und der Dichte der Stadt.

Darcar konnte aber tatsächlich noch die Geschäfte von den Wohnhäusern unterscheiden, ein paar Schilde lagen auf dem Boden, verwitterte Lettern kündeten noch von Schneidern, Schmieden, Büchsenmachern und Gemischtwarenhändlern. Es gab ein Theater, das stand noch beinahe vollkommen intakt zwischen zwei ausgebrannten Saloons. Eine Kutsche stand in einer Sackgasse, die Knochen des Pferdes lagen fein säuberlich abgenagt davor und trugen noch das Gespann. Veland drückte sich ängstlich an Darcar, der schnell weiter ging.

Es gab auch einen Uhrenturm, der aus dem zerstörten Viertel emporragte und auf der Südseite eingestürzt war, ansonsten aber intakt schien. Nur die Uhr war stehen geblieben. Darcar kannte diesen Turm, man konnte ihn, so wie alle anderen Uhrentürme, in der ganzen Stadt sehen. Jedes Viertel hatte seine eigene Uhr – aber niemand würde herkommen, um die im Rattenloch zu restaurieren oder abzureißen. So ragte der Turm über alle Zeitalter hinweg wie ein Mahnmal aus den Ruinen empor und warnte alle Kinder, sich zu benehmen, oder dort zu landen, wo das löchrige Ding gen Himmel ragte. Er schien nicht vom Feuer erfasst worden zu sein, seine Fassade war aus grauem Backstein gemauert, die Zeit hatte ihm ein Loch in die Spitze gerissen, sodass er aussah wie das Gesicht eines Soldaten, das von einer Kugel gestreift worden war.

Eines wusste Darcar plötzlich mit niederschmetternder Sicherheit, kein warmes Zimmer würde auf sie warten, kein Kamin, den er beheizen konnte, kein Bett und keine Decken, nicht einmal das schäbigste Zimmer, das er sich vorstellen konnte. Sie hatten… nichts.

Sie waren von nun an … nichts.

»Schau mal hier.« Darcar fand in einer Nebenstraße ein paar halbverbrannte und mittlerweile vom Wetter zerfressene Bücher auf dem Boden. Ihre Einbände und Seiten waren aufgeweicht und durch die Kälte mit schmierigem Frost überzogen. Doch wo sie herkamen, gab es noch mehr. Eine halb eingestürzte Häuserfront gab den Blick auf eine Bibliothek preis, die nur halb ausgebrannt war. Die Bewohner von damals hatten sie noch retten können. Nun ja, einigermaßen.

Darcar zog Veland über die Trümmer, ein paar Backsteine lagen vor und in der Bibliothek. Es fiel Licht in die dunklen Räume, ein geschwärzter Tresen empfing sie, darunter fand Darcar noch das Kassenbuch, Feder und Tinte, natürlich alles angesenkt, mit Frost und Staub überzogen. Es schneite durch das Loch in der Decke.

»Gehen wir weiter hinter«, beschloss Darcar und nahm Veland, der staunend den Blick über die umgestürzten Regale schweifen ließ, wieder an die Hand. Sie war noch warm von seinem festen Griff.

Es war dunkel weiter hinten, wo die Räume durch die hohen Regalwände gedrungener und verschlungen wirkten. Doch hier waren sie sicher vor dem Luftzug, dadurch war ihnen sogleich ein klein wenig wärmer. Darcar fand eine Laterne und eine trockene Schachtel Zündhölzer daneben. Sie hatte noch etwas Öl, sodass er sie anzünden konnte. Er hielt die Flamme ganz klein, nur um etwas sehen zu können, nicht, um die Gänge zu beleuchten.

»Suchen wir uns eine bequeme Ecke.« Er schob Veland vor sich her, sein Bruder ließ es mit sich machen, hatte die Arme verschränkt und wärmte seine Finger unter den Achseln, während seine großen Augen über die vielen Buchrücken wanderten. Das Feuer hatte diesen Teil nicht erfasst, doch es roch stark nach Rauch, auch nach all den Jahrzehnten noch.

Sie fanden ein verlassenes Lager aus ein paar rauen Decken, und einen Topf, in dem offensichtlich Bücher verbrannt worden waren, um Feuer zu machen. Darcar hatte dieselbe Idee.

»Die Asche ist eiskalt«, stellte er fest, als er in den Topf griff, dann sah er sich die Decken an, presste sie unter Vs verwirrten Augen an seine Nase. »Riecht neutral, sind kalt und klamm. Wer auch immer hier gewesen war, ist schon lange fort.«

Veland zog die Arme enger um seinen mageren Körper, er fröstelte. »Ich finde es unheimlich hier, lass uns eine andere Ecke suchen. Nicht, dass doch noch wer wiederkommt und uns für Diebe hält.«

Darcar hatte nichts gegen den klugen Einwand seines Bruders, er nahm die Decken und den Topf einfach mit.

Die Bibliothek war groß, besaß mehrere Stockwerke. Die Treppe nach oben war noch intakt, vorsichtig gingen sie die Stufen hinauf und fanden schließlich eine Nische, die Veland gefiel. Weit hinten im Abteil für Mären und Mythen, Bardenlieder und Heldensagen, richteten sie mit den Decken ein winziges Lager her. Es gab drei Fluchtwege, zwei Türen und ein Fenster, das auf einen breiten Vorsprung führte, auf dem sie bis zum nächsten Gebäude laufen könnten, sollte jemand hier eindringen. Mehr Ausgänge, bedeuteten natürlich auch mehr Möglichkeiten, sie zu überraschen, mehr Schwachstellen, die zu bewachen waren. Doch lieber hatte Darcar mehr Fluchtmöglichkeiten als nur eine einzige, die ihnen schnell zum Verhängnis werden könnte.

Er wusste schließlich nicht, mit was für Gesocks er es hier zu tun hatte.

Veland setzte sich auf die Decken, wirkte aber nicht gerade angetan von dem klammen Stoff. Darcar ließ die Laterne neben ihm stehen und suchte im Licht, das durch die trüben, gesplitterten Fenster fiel, Bücher für den Topf, damit er mit der Laterne und den Papierseiten ein kleines Feuer entfachen konnte, das sie ein wenig wärmte.

»Ich habe Hunger«, meldete V sich irgendwann schüchtern zu Wort, als sei ihm sein natürliches Bedürfnis nach Nahrung peinlich.

»Ich glaube nicht, dass ich hier noch etwas finden kann.« Alles, was an Vorräten damals nicht verbrannte, dürfte längst von Plünderern weggenommen worden sein, oder die Ratten hatten es. »Vielleicht … finde ich morgen irgendetwas. Lass uns erst einmal ein wenig ausruhen und auf die Nacht warten.« Er wollte sich im Schutz der Dunkelheit ein wenig umsehen, vielleicht gab es irgendwo eine Wasserquelle. Die Kinder im Rattenloch konnten schließlich nicht ohne etwas zu trinken überleben.

»Darc?« Veland hörte sich niedergeschlagen an. »Vater wird nicht kommen, oder?«

Die Frage durchzog Darcar wie eine Gewehrkugel, die durch seinen Brustkorb jagte. Für einen Moment war sein Mund zu trocken, um zu antworten, seine Hand hielt vor einem Buch inne. »Nein«, erwiderte er dann leise, zog das Buch aus dem Regal und schmiss es in den Topf.

»Wieso nicht?«, fragte Veland befürchtend. »Er würde uns nie allein lassen!«

Darcar musste schlucken, wagte nicht, sich umzudrehen und seinem Bruder in das zarte Gesicht zu blicken. »Weil … er … weil Vater… « Er wusste gar nicht, wie er das erklären konnte. »Jemand hat ihn reingelegt«, brachte er schließlich hervor. »Und der Schwarze Rat hat ihn für eines Verbrechens schuldig befunden, das er nicht begangen hat.« Letzteres hauchte er nur noch, weil er einen dicken Kloß im Hals hatte. Er versuchte, ihn runter zu würgen. Vergeblich.

»Ist Vater jetzt ein böser Mann?«, fragte Veland.

»Nein!« Darcar fuhr wütend zu ihm herum, und V zuckte vor seinem gefährlich funkelnden Blick zurück.

Die Angst und die Verwirrung in den Augen seines kleinen Bruders ließen Darcar tief einatmen und sich zusammenreißen. »Nein«, betonte er noch einmal, jedoch ruhig. »Das ist er natürlich nicht, V! Vergiss das niemals, Vater ist ein guter Mann. Andere haben ihn reingelegt. Dafür konnte er nichts, er hat nichts falsch gemacht! Gar nichts! Hörst du?«

»Aber…«, Veland fiel es sichtlich schwer, die Welt da draußen noch zu verstehen. »Wenn er nichts falsch gemacht hat, warum wurde er zum Verbrecher ernannt? Ich … verstehe nicht…«

Nein. Und Darcar verstand es auch nicht.

»Manchmal irrt sich eben auch der Rat«, gab er schwermütig zurück und drehte sich wieder zu dem Bücherregal um, weil er nicht über dieses Thema nachdenken wollte. Es machte ihn nur wütend und verzweifelt.

»Warum sollte jemand Vater reinlegen?« Es passte nicht in Velands kindliche Welt, dass in Menschen nicht nur Gutes wohnte.

»Weil er ein großer Mann war, der viele Neider auf sich zog, V«, gab Darcar mutlos zurück. »Weil es Menschen gibt, die ihm – uns, dir und mir – aus reiner Habgier und aus reinem Vergnügen wehtun wollen. Weil… Vater den falschen Menschen vertraute.«

Daraufhin wurde sein Bruder sehr still, aber Darcar wagte es nicht, über die Schulter zu blicken. Er konnte sich vorstellen, wie es in Vs Kopf ratterte, Zahnrad sich in Zahnrad verfing und sich Mechanismen zu drehen begangen, bis es aus seinen Ohren rauchte, so wie er immer über seinen Hausaufgaben gegrübelt hatte.

»Sperren sie Vater jetzt für immer weg?«

Darcar schluckte. Einen Moment lang starrte er die staubige Rückseite einer Märchensammlung an. Ihm war es, als ob die Welt um ihn herum wackelte, bebte. Ihm war heiß und kalt zugleich. Er drehte sich um, starrte Veland in die Augen. Er zwang sich dazu. Doch er konnte nicht lange in dieses abwartende Gesicht sehen, er schlug den Blick nieder. Seine Hand zitterte.

»Darc?« Velands Stimme zitterte, klang wie eine Maus.

Mit einem erneuten, trockenen Schlucken hob Darcar widerwillig die Augen und schüttelte leicht den Kopf.

Veland erstarrte zu einer Statue grausamer Erkenntnis.

»Wir werden Vater nicht wiedersehen, V.« Das war alles, was Darcar sagte. Und ihm war erneut danach, zu brüllen. Er wartete auf Velands Wutausbruch, wappnete sich innerlich, seinen kleinen Bruder festzuhalten und niederzuringen, weil er die Wahrheit nicht glauben und losstürmen wollte, um ihren Vater zu retten.

Doch es geschah nichts. Veland wurde plötzlich ganz still und wandte mit glitzernden Augen das Gesicht zum Fenster um, den Mund leicht offen, als könnte er noch immer nicht begreifen. In seinen goldenen Iriden zerbrach etwas und ein Stück Kindlichkeit wich einem trüben Licht. Als wäre der Winternebel über den leuchtenden Herbst hergefallen. Da trat etwas Hartes auf diese sanften Züge, und Darcar wollte zu seinem Bruder rennen und mit den Händen sein Antlitz festhalten, damit nichts Weiches, Liebliches aus ihm fuhr. Um sein Wesen festzuhalten. Doch er wusste, dass es sinnlos wäre.

So fühlte sich auch Darcar, das Gesicht seines Bruders spiegelte sein Innerstes wider. Leer, zerbrochen, vor Unglauben ohnmächtig. Ein Alptraum, von dem er hoffte, endlich aufwachen zu können. Doch er wachte nicht auf.

Darcar ging zu ihm, setzte sich dicht neben ihn und zerriss das Buch. Mit der Lampe entzündete er die trockenen Seiten, sodass im Topf ein kleines Feuer entstand. Ein paar Stuhlbeine hielten die Flammen bei Laune. Er legte einen Arm um Veland, der noch immer wie betäubt aus dem Fenster blickte, zog ihn an sich heran und hielt ihn fest. Seine Nähe, seine Wärme und sein Duft trösteten Darcar ein wenig, sein Bruder schenkte ihm Kraft.

»Es tut mir leid«, brachte er erstickt hervor, während er Mund und Nase bereits in Vs Haaren vergraben hatte. Trauer wollte ihn überkommen und vor Verzweiflung schreien lassen, aber er rang sie nieder. Wollte sich nicht so gehen lassen.

Er wusste gar nicht, wer sich nun an wem festhielt. Veland an ihm, oder er sich an Veland.

*~*~*

Sie mussten eingeschlafen sein, denn Darcar schreckte nach wirren Träumen über Männer mit Schlingen wieder auf, die ihm durch verlassene Ruinen nachgejagt waren wie Hunde einem Kaninchen. Mit rasendem Herzen und kaltem Schweiß überzogen zuckte er zusammen und befand sich unmittelbar in der düsteren, kalten Gegenwart wieder. Er brauchte einen langen Moment, um seinen panischen Atem zu beruhigen und sich zu erinnern, wo er war. Sofort legte sich der Kummer schwer wie ein Mantel aus Blei über seinen Leib, als er sich besann. Er wäre gerne sofort wieder eingeschlafen, denn kein Alptraum war so furchteinflößend wie seine derzeitige Realität.

Veland lehnte auf ihm, ein Arm um seine Mitte geschlungen, und sabberte ihm leicht auf den Mantel. Sie hatten im Sitzen geschlafen, waren erschöpft von den letzten Stunden und der Aufregung einfach eingeschlafen. Trotz Kälte, trotz Angst, trotz Einsamkeit und Hunger.

Es war fast stockdunkel in der Bibliothek, das Öl der Laterne beinahe aufgebraucht und das Feuer im Topf war zu warmer, glühender Kohle geworden. Darcar wandte das Gesicht und blickte zum Fester, durch dessen angelaufene Scheibe die graue Dämmerung drang. Es war Abend geworden, der Nachthimmel erhob sich über der Stadt. Sie hatten einige Stunden verschlafen.

Darcar lehnte sich für einen Moment zurück, starrte nach draußen und legte die Arme um seinen kleinen Bruder, der im Schlaf immer mal wieder zuckte und leise wimmerte. Vermutlich verarbeitete sein Verstand die Ereignisse des Tages in seinen Träumen. Gut für ihn, dann brauchte er das vielleicht nicht mehr im Wachzustand durchzumachen.

So kurz nach dem Schlafen, fühlte Darcar sich körperlich immer gut. Nicht beschwingt, sondern schlicht ohne Beschwerden, kein Hunger, keine Kopfschmerzen, keine Kälte. Als bräuchte all das erst seine Zeit, um zu seinem Verstand vorzudringen. So war es schon immer gewesen. Zu seiner inneren Lähmung – er versuchte steif, nicht daran zu denken, dass sein Vater bald hingerichtet wurde – schlich sich jedoch nach und nach ein nagendes Hunger- und Durstgefühl. Sein Magen knurrte im Chor mit Velands, außerdem fühlte sich seine Kehle staubtrocken an, trotz der Feuchtigkeit, die durch jede Ritze sickerte.

Darcar begrüßte es jedoch, denn so musste er sich wieder auf ihr Überleben konzentrieren, und der stille Moment war vorüber. Keine Zeit, um nachzudenken.

Vorsichtig legte er Veland auf den Decken ab, sie waren durch das Feuer und seine Wärme trocken geworden. Nun ja, zumindest oberflächlich. Er wickelte seinen kleinen Bruder darin ein. Natürlich erwachte dieser davon und versuchte, die Augen zu öffnen. Doch seine Lider waren schwer und geschwollen, zeugten von vergossenen Tränen. Darcar fühlte sich schlecht, weil er Velands Weinen nicht mitbekommen hatte. War sein Schlaf wirklich so fest gewesen, so tief?

»Darc?«, fragte er verwundert.

Zärtlich strich Darcar ihm übers Haar. »Bleib hier, ich suche uns etwas zu trinken, in Ordnung?«

Veland war sofort hellwach, die Augen weit aufgerissen und blutunterlaufen, dass die Rötungen sogar im Halbdunkeln zu erkennen waren. »Nein! Lass mich nicht allein!« Er krallte sich in Darcars Arm, seine Finger bohrten sich wie die Krallen einer Krähe in den Stoff des Mantels.

»Aber es ist sicherer, wenn du hierbleibst!«, betonte Darcar und drückte ihn wieder in die Decken.

»Nein!«, protestierte V mit erstickter Stimme. »Was, wenn du nicht wieder kommst?«

Darcar ließ gerührt die Schultern hängen. »Ach V, ich komme immer wieder!«, versprach er und streichelte ihm die blasse Wange. »Hab keine Angst, ja? Hier, ich lasse dir Vics Messer da.« Er zog die Waffe aus seinem Hosenbund und drückte sie Veland in die Hand. »Ich gehe auch nicht weit weg«, beruhigte er ihn weiter, während V auf die Klinge in seiner Hand starrte, die viel zu groß und viel zu gefährlich in seinen zarten Fingern wirkte. Es tat Darcar so leid, dass er ihm das zumuten musste. Dass er ihn nicht einfach in ein Kinderzimmer stecken konnte, behütet und beschäftigt, bis alles wieder »normal« wäre. Doch er wusste gar nicht, was er tun sollte, um ihr Leben wieder zurückzubekommen. Alles, was er sich jetzt vornahm, war, Wasser zu finden. Mehr konnte er nicht tun. An mehr war nicht zu denken.

Veland sah ihn plötzlich mit einem kritischen Blick an, wie er es sonst immer nur tat, wenn Darcar sich ihm gegenüber wieder als großer Bruder und Familienoberhaupt aufspielte. »Warum hast du nicht auf Vic gehört, Darc?«

Die Frage überraschte und erschreckte ihn, ebenso der klare, ernste Tonfall und der erwachsene Blick seines Bruders, in dem Unverständnis stand.

»Vic sagte, dort in diesem großen, bunten Zelt, da… gäbe es Essen und warme Betten«, erinnerte Veland sich. »Warum sind wir nicht dortgeblieben, Darc

Wie er am Ende des Satzes jedes Mal Darcars Namen aussprach klang er beinahe wie ihr Vater, wenn er auf seine besonnene, aber strenge Art Darcar zurechtwies.

Darcar ließ seinen Atem entweichen, dabei sackte er ein Stück in sich zusammen. »Nicht alles, was schön erscheint, ist auch innerlich schön«, sagte er dann und erhielt einen fragenden Blick. »V, ich erkläre es dir irgendwann. Aber versprich mir, dass du mir vertraust, ja? Die Manege ist ein böser Ort, ganz gleich, was sie verspricht. Sie ist böse und du darfst niemals dorthin! Niemals! Falls wir es je hier herausschaffen, wirst du diesen Ort meiden, ganz gleich, was passiert. Verstanden? Hörst du? Nicke wenigstens!«

Veland, der auf die Waffe in seiner Hand starrte, nickte grimmig. Ein Zeichen, dass er wütend auf Darcar war, aber wusste, dass sich ein Streit nicht lohnte.

»Bleib hier.« Darcar nahm Velands Kinn zwischen die Hände, hob sein Gesicht an und blickte ihm tief in die Augen. »Versprich es mir!«

Veland seufzte genervt, nickte jedoch erneut.

»Bin gleich zurück, ich gehe nicht weit«, versprach Darcar und gab Veland einen Kuss auf den Mund, der nicht erwidert wurde. »Pass gut auf, versteck dich, wenn du etwas hörst.«

»Mach ich«, flüsterte Veland mit leerer, müder Stimme.

Darcar stand auf und ging zum Türrahmen, in dem keine Tür mehr in den Angeln hing. Noch einmal drehte er sich um, wollte Veland aufmunternd zu zulächeln, doch sein Bruder blickte ihm gar nicht hinterher, seine Aufmerksamkeit wurde von etwas abgelenkt, das vor ihm im Regal steckte. Mit schief gelegtem Kopf krabbelte er über den Boden, zog eine Märchensammlung hervor und kroch zurück auf ihr Lager, um mit angestrengten Augen im letzten Schein des Tages die Buchstaben in den Seiten zu entziffern.

Der Anblick seines lesenden Bruders stimmte Darcar zufrieden, er ging.

Blut für Gold

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