Читать книгу Geliebter Prinz - Billy Remie - Страница 10
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ОглавлениеFrüh am nächsten Morgen lehnte Desiderius auf den Wehrgängen und blickte in die weite Ferne. Am Horizont konnte er die rauen Wellen der hohen See erkennen. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, er könnte auf einem Schiff davon segeln. Fort von Nohva, fort von seinem Familienerbe. Fort von ... dem jungen Prinzen.
Er hatte die gesamte Nacht von diesem aufgeweckten Kerlchen träumen müssen. Ungewollt. Immer wieder war er aufgewacht, hatte geflucht, weil es ihm nicht behagte. Er hatte gelernt, andere auf Abstand zu halten, um sich selbst zu schützen. Und das wollte er auch beibehalten, weshalb das Auftauchen des Prinzen nicht gut für seinen Gemütszustand war. Wenn er geahnt hätte, wer er war, hätte er aus vielen Gründen niemals diese Nacht mit ihm verbracht.
Aber es war gleich, entschied Desiderius und untersagte es sich, sich deshalb zu sorgen. Schließlich würde die königliche Familie nur wenige Tage bleiben. Sie würden die Verlobungsfeier planen und alles in die Wege leiten. Dann würden sie wieder abreisen, Silva mitnehmen, und er musste den jungen Prinzen nur noch einmal sehen, und zwar wenn Monate später, am Ende des Sommers, Silvas und Karics Hochzeit in Dargard gefeiert wurde.
Was seine eigene Zukunft betraf, hatte Desiderius sich noch nicht entscheiden können. Er war sich sicher, dass er ablehnen würde. Zumal er keinesfalls eine Frau heiraten wollte.
Aber der Ausblick, der sich ihm gerade bot, erinnerte ihn daran, wie er als Junge hier gestanden und sich genau das gewünscht hatte, was sein Vater ihm jetzt bot. Er war ein legitimer Sohn und würde die Burg erben. Allerdings erwartete man dann auch von ihm, dass er sich eine Frau nahm und sein Blut weitergab. Und er wusste, dass er das nicht wollte. Es wäre auch einer Frau gegenüber nicht gerecht, sie zu diesem Leben zu verdammen. Sie würde schnell bemerken, dass er sie nicht begehrte.
Seufzend grübelte er darüber nach, was er tun sollte. Die Freiheit rief nach ihm, aber gleichzeitig wollte er das Angebot seines Vaters annehmen. Zumal es ihm eine höhnische Freude bereiten würde, seinen Halbbruder und seine Stiefmutter hochkant hinaus zu werfen, sollten sie seinen Vater überleben.
All das hier könnte ihm gehören, überlegte er und überblickte das Gebiet an den Klippen. Es war eine eher düstere Landschaft mit vielen toten Ästen. Man nannte es den Toten Wald. Aber genau das mochte er so sehr an der Burg. Sie war eine Festung. Düster und abschreckend. Kein Mensch fühlte sich hier wohl. Luzianer hingegen schon. Luzianer mochten Abgeschiedenheit. Luzianer mochten die Finsternis.
Desiderius runzelte die Stirn, als ein Schatten über ihn glitt. Er blickte gen Himmel und sah erneut einen Kauz über sich kreisen. Es war seltsam, da man Kauze in Nohva für gewöhnlich nicht am frühen Morgen sehen konnte. Die Raubvögel gingen nachts auf die Jagd.
Er hatte ein komisches Gefühl in der Magengrube, konnte dem aber nicht weiter auf dem Grund gehen, weil er plötzlich eine Berührung an den Einstichen an seinem Hals spürte.
»Eine schöne Bisswunde habt Ihr da«, säuselte eine melodische Stimme.
Desiderius blickte Prinz Wexmell verwundert an, als dieser sich neben ihn auf die Wehrgänge lehnte und kokett zu ihm aufsah.
Ausatmend drehte Desiderius sich fort und blickte wieder zum Horizont.
»Ich muss ehrlich sagen, ich war etwas beleidigt, als du mich nicht erkannt hast«, plauderte der Prinz ungeniert und vertraut drauf los, er blickte dabei den hohen Burgfried hinauf. »Es ist zwar zwölf Jahre her, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, aber ich habe sofort gewusst, wer du bist.«
Desiderius schnaubte amüsiert, dann sah er ihn skeptisch an.
»Wirklich«, beharrte Wexmell. »In dem Moment, als sich unsere Blicke durch den Raum hindurch trafen, wusste ich, wer da an dem Tisch sitzt und mich anstarrt.«
Desiderius erwiderte nichts, er hatte mit einem Schmunzeln zu kämpfen, als er sich an jene Nacht erinnerte.
Unaufgefordert erzählte der Blonde weiter: »Erst dachte ich, du hättest mich erkannt und mich deshalb fixiert. Es war mir peinlich, dass wir uns in einem Bordell trafen. Und als du mich angesprochen hast, glaubte ich erst, du scherzt.«
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte Desiderius verwundert. »Wenn du doch wusstest, wer ich bin.«
Der Blonde grinste ihm frech ins Gesicht. »Weil mir gefiel, wohin es führte. Ich hätte nie gedacht, dass Desiderius M’Shier ... «
»Nun ja, du ja auch«, unterbrach Desiderius und wandte mit grimmigem Blick das Gesicht ab.
»Ja«, stimmte der Blonde zu. »Ich hatte allerdings nie die Gelegenheit dazu. Bis du auf mich aufmerksam wurdest.«
»Für jeden kommt irgendwann das erste Mal«, gab Desiderius ruppiger zurück, als er beabsichtigt hatte.
Den Blonden interessierte es nicht, es schien fast so, als hätte er genau diese grobe Erwiderung und sonst nichts von Desiderius erwartet. Es war seltsam, dass der Prinz ihn offenbar so gut kannte, Desiderius sich aber beim besten Willen nicht an ihn erinnern konnte.
Nach einem kurzen Moment sagte der Blonde belustigt: »Ich muss jedoch gestehen, dass es mich ziemlich überraschte, dass du die Dreistigkeit besitzt, mich zu bestehlen.«
»Was willst du?«, fuhr Desiderius ihn verärgert an. Wollte der kleine Blonde ihm etwa unterschwellig drohen?
Der junge Prinz runzelte verständnislos seine Stirn. Offenbar verstand er nicht, weshalb aus einer scheinbar harmlosen Unterhaltung plötzlich ein Streit wurde.
Desiderius riss sich zusammen und sagte nur abweisend: »Wenn du deine Silbertaler wiederhaben möchtest, muss ich dich enttäuschen, ich habe sie nicht mehr.«
Der Blonde verengte wissend seine eisblauen Augen. »Du lügst.«
Desiderius’ Mundwinkel fielen herab. Es war ihm absolut schleierhaft, wie der Blonde ihn derart durchschauen konnte.
Wexmell winkte ab. »Vergiss die Taler, behalte sie ruhig. Ich habe genug davon.«
»Da bin ich sicher«, stichelte Desiderius. Doch er fragte sich, warum der Prinz ihn nicht an den König verriet. Unsicher hakte er nach: »Du willst sie sicher nicht wieder?«
»Nein.« Wexmell grinste spöttisch. »Wie du schon sagtest, in einem Bordell muss immer jemand zahlen. Dieses lasterhafte Vergnügen ging dann wohl auf mich. Du warst recht billig.«
Desiderius starrte ihn sauer an.
Das beeindruckte den frechen Prinzen nicht. Er zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: »Also behalte die Taler, sie waren die Nacht mit dir allemal wert. Aber wenn ich du wäre, würde ich das nächste Mal deutlich mehr verlangen. Du besitzt eine sagenhafte Kunst, die du nicht derart leichtfertig verschleudern solltest.«
Desiderius kam gar nicht dazu, etwas Schlagfertiges zu erwidern, denn der Prinz stieß sich ab und ging mit einem höhnischen Grinsen an ihm vorbei. Allerdings bezweifelte Desiderius, dass ihm etwas Passendes eingefallen wäre, er war zu verdattert, um etwas Vernünftiges zu kontern.
Mit fassungslos offenstehenden Lippen drehte er sich um und blickte Wexmell nach.
Der Prinz ging einige Schritte rückwärts und rief ihm noch provozierend zu: »Du würdest dich gut als Dirne machen, glaub mir. Frag doch mal den Bordellbesitzer, ob er noch ein Plätzchen für dich frei hat.«
Desiderius entgegnete drohend: »Komm her und wiederhol das doch noch einmal, wenn du in meiner greifbaren Nähe bist!«
»Ein Andermal«, grinste Prinz Wexmell. »Ich werde nun vorerst eine Weile ausreiten. Aber wenn du das fortsetzen willst, komm doch später zu mir. Ich habe noch einen vollen Sack Silbertaler auf meinem Zimmer für dich. Du darfst auch gern den Preis erhöhen.«
Desiderius war versucht, ihn über die Wehrgänge zu schubsen. Stattdessen blieb er stehen und schloss seine Hände zu Fäusten. Er war sauer, aber seine Wut wollte er nicht an dem Prinzen auslassen. Jedenfalls nicht mit Schlägen. Zu Boden werfen wollte er ihn, und ihm den süßen, kleinen Hintern versohlen. Seinen frechen Mund zum Schweigen bringen, indem er ihm die Zunge durch die Lippen schob.
Aber das würde nicht passieren.
Es kratzte dennoch stark an seinem Stolz, als Dirne bezeichnet zu werden. Und er hatte vor, diese Sache schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen.
***
Eine Dirne! Eine Dirne! Desiderius konnte es nicht glauben. Noch weniger konnte er glauben, dass ihm der fiese Scherz des Prinzen derart zusetzte. Wieso kümmerte es ihn überhaupt, was dieser von ihm dachte?
Aber eigentlich war es nur gerecht, denn er selbst hatte damit angefangen. In der Nacht, als sie zusammen in diesem Bordell waren, hatte er Wexmell zuerst unterstellt, käufliche Ware zu sein.
Trotzdem war sein Stolz verletzt.
Er fand den Prinzen bei den Ställen, wo er neben einem gesattelten Schimmel stand, in feiner Reitkleidung, und sich gerade Reithandschuhe über die zarten Finger streifte.
Desiderius schritt auf ihn zu und pfiff durch seine schmalen Lippen, um Wexmell auf sich aufmerksam zu machen.
Der Prinz fuhr zu ihm herum und fing verwundert auf, was Desiderius ihm zuwarf. Das Ledersäckchen klimperte, als es in der zierlichen Hand des Prinzen landete.
»Behalte deine Taler«, sagte Desiderius mit grimmiger Miene. »Ich bin nicht käuflich.«
»Fleisch ist immer käuflich«, gab Wexmell zurück und schmunzelte ihn an.
Diese ständigen, amüsierten Blicke trieben Desiderius in den Wahnsinn. Er wollte nicht, dass der Prinz sich über ihn und sein Verhalten amüsierte. Es sollte ihn abschrecken, von ihm wegstoßen. Vielleicht musste Desiderius es deutlicher machen.
Er wandte sich ab und wollte gehen.
Während Wexmell den Beutel an seinem Gürtel befestigte, sagte er zu Desiderius: »Du bist leicht zu beeinflussen.«
Desiderius fuhr herum. Doch statt darauf etwas zu erwidern, sagte er nur: »Passt da draußen auf Euch auf, Euer Gnaden. Es gibt eine Menge wilder Raubtiere in der Gegend. Wäre doch schade, wenn Euer Pferd scheut und Ihr Euch das zarte Genick brecht, wenn Ihr aus dem Sattelt fallt.« Desiderius grinste spöttisch. »Das wollen wir ja nicht.«
Wexmell verengte nun seinerseits verärgert seine Augen, ließ es sich jedoch nicht nehmen, zu kontern: »Würdet Ihr Euren Prinzen sehr vermissen, Bastard?«
Desiderius gab zurück: »Nicht so sehr wie Ihr es gerne hättet, Euer Gnaden. Der Bastard vergnügt sich nämlich lieber mit seinesgleichen. Anderen Bastarden. Die sind nicht so zimperlich wie kleine Prinzen.«
Er sah noch den verletzten Ausdruck auf dem makellosen Gesicht des anderen, bevor er sich abwandte und ohne ein weiteres Wort zurück zur Burg schlenderte.
Dieser kleine, verwöhnte Drecksack eines Prinzen konnte ihm gern gestohlen bleiben. Jetzt hatte er ja sein Silber wieder, also hoffte Desiderius, dass er vor ihm nichts mehr zu befürchten hatte. Denn selbst das Wort eines Prinzen brauchte Beweise, bevor jemand verurteilt wurde. Desiderius würde einfach abstreiten, die Taler je genommen zu haben.
»Desiderius!«
Schlitternd kam er vor der Treppe in der großen Halle zum Stehen und fuhr dann zu der Stimme des Königs herum. Er verneigte sich eilig, jedoch wenig elegant.
Der König kam lächelnd auf ihn zu. »Habt Ihr etwas vor?«
»Ähm ... nein, Majestät«, antwortete Desiderius und wandte sich ihm gänzlich zu.
»Auf ein Wort?«, fragte der König und nickte zur Tür, die zu den Wehrgängen führte.
Desiderius nickte einverstanden und folgte ihm, obwohl ihm unwohl dabei war, mit dem König allein zu sein. Er wusste nie so recht, wie er sich ihm gegenüber zu verhalten hatte.
Sie liefen Seite an Seite eine Weile stumm die Wehrgänge ab, die Hände hinter den Rücken verschränkt, wie es sich gehörte.
Nachdenklich blickte der König in die Weite, als suchte er Antworten auf Fragen, die in seinem Kopf herumspukten.
Nach einer Weile begann König Wexmell schließlich zu sprechen. »Euer Vater sagte mir, Ihr wärt unschlüssig was Euer Erbe anbelangt?«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Desiderius, ohne zu zögern. Weshalb sollte er etwas abstreiten, was so offensichtlich war?
Neugierig fragte der König. »Ihr wollt es nicht annehmen?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Eure Majestät«, gestand Desiderius. »Ein Teil von mir möchte es, aber der andere Teil ... Nun, ich bin niemand, der sich gerne bindet.«
Der König nickte nachdenklich, während er wieder in die Ferne starrte.
Grübelnd erwiderte er, ohne Desiderius anzusehen: »Ich kann verstehen, dass es aufregender ist, an nichts und niemanden gebunden zu sein. Frei zu sein. Nohva hat viele geheimnisvolle Ecken, viele Orte laden ein, erkundet zu werden. Abenteuer warten. Hinter jeder Kurve könnte eine neue Liebschaft warten. Freiheit. Verantwortungslos. Keinerlei Pflichten. Das klingt in den Augen eines jeden jungen Mannes gut. Es ist verlockend. Früher war ich genau wie Ihr, Desiderius. Ein Freigeist. Ich wollte nie König werden, weil die damit verbundenen Pflichten unsichtbare Fesseln sind.«
»Das glaube ich Euch gerne, Majestät«, erwiderte Desiderius mitleidvoll.
Der König warf ihm ein mildes Lächeln zu.
Interessiert fragte Desiderius: »Wieso seid Ihr dann König geworden?«
»Ich hatte keine Wahl und habe mein Schicksal angenommen«, antwortete der König schlicht. »Es war nicht immer leicht, das gebe ich zu. Oft habe ich aufgeben wollen, dachte, ein anderer würde einen besseren König abgeben als ich.«
Wie absurd, dachte Desiderius insgeheim. Seit Wexmell Airynn König war, hatte es in Nohva noch nie eine solange Friedensperiode gegeben. Er war derart diplomatisch, dass man ihn nur bewundern konnte. Konflikte zwischen den Völkern löste er nicht durch Gewalt. Er versuchte stets, eine Lösung zu finden, die keine Leben opferte. Deshalb hatte er auch so viele Feinde.
»Ihr seid ein guter König, Majestät«, sagte Desiderius zu ihm. »Und das behaupte ich nicht nur, weil ich Euch schmeicheln möchte.«
Der König schnaubte amüsiert. »Ich weiß. Ich kenne Euch, Ihr wart immer gnadenlos ehrlich, schon als kleiner Junge, und das schätze ich an Euch.«
»Danke, Majestät.«
»Deshalb ist es mir auch wichtig, dass jemand wie Ihr die Familie M’Shier weiterführt. Die Burg Eures Vaters ist eine wichtige Festung, hier werden in Kriegszeiten die besten Soldaten ausgebildet, und Eure Familie besitzt eine große Streitmacht. Euer Vater ist einer meiner engsten Vertrauten. Ein Freund, auf dessen Rat ich mich immer verlassen konnte.«
»Ich bin nicht mein Vater«, stellte Desiderius richtig.
»Stimmt.« Der König lächelte trotzdem. »Ihr seid mehr als das, Desiderius.«
Verwundert blickte er den König an. Dieser blieb nun auf den Wehrgängen stehen und drehte das Gesicht zum Horizont, den Desiderius am Morgen ebenso sehnsüchtig betrachtet hatte.
»Ihr habt etwas, was keiner von uns hat, und was wir schon sehr bald brauchen werden«, sprach der König auf ihn ein. »Ihr würdet es vermutlich Straßenschläue nennen, aber ich nenne es gerissene Taktik. Ihr kennt Strategien, von denen die hohen Heerführer nur träumen können. Und wir brauchen vielleicht schon bald jemand im Kampf gegen unsere Feinde, der weiß, wie man sie überlisten kann, ohne große Schlachten in Kauf zu nehmen.«
»Erwartet Ihr einen Krieg, Majestät?«, fragte Desiderius befürchtend.
Der König sah ihn nicht an, aber seine Miene sprach Bände. Er berichtete: »Das Gebirgsvolk und die Wüstenbewohner scheinen eine Allianz gegen mich gebildet zu haben. Sie fordern, dass ich als König zurücktrete. Gleichzeitig säen sie in den Ohren der Menschenvölker Misstrauen gegen uns Luzianer. Sie nennen uns Ketzer. Ungeheuer. Dämonen. Sie wollen, dass wir die Götter anbeten und uns als Herrscher zurückziehen. Vielleicht haben sie recht und wir, insbesondere ich als König, sollten mehr auf die Religionen der Völker eingehen, aber ich kann und werde mein Volk nicht dazu zwingen.«
»Sie wollen die Macht an sich reißen«, wusste Desiderius und musste wütende Flüche unterdrücken. Lieber sähe er Nohva brennen, als in den Händen eines Menschenkönigs. Nur gut, dass er nicht König war, er hätte längst Krieg begonnen.
»Ich brauche Euch als Berater«, sagte der König schließlich ernst und blickte Desiderius ins Gesicht. »Erst schlug ich Eurem Vater vor, Euch mit in die Hauptstadt zu nehmen. Bellzazar sagte, das wäre die beste Lösung. Ihr hättet mit ihm zusammen eine Strategie entwickeln können, die diesen Konflikt schon im Keim erstickt.«
»Aber?«, hakte Desiderius nach. Sein Herz schlug wild. Die Hauptstadt? Dargard? Er hätte seine beiden Arme abgetrennt, um mit dem König gehen zu dürfen.
»Aber«, seufzte der König, »Euer Vater wollte Euch nicht gehen lassen, nachdem ich ihm vor Augen geführt habe, welche Qualitäten Ihr vorweist.«
»Von hier aus werde ich Euch auch nicht helfen können«, warf Desiderius ein.
»Das ist wahr«, stimmte der König zu. »Aber hier seid Ihr sehr viel leichter zu erreichen. Wenn Ihr auf Reisen seid, dauert es Wochen, Schriftkontakt mit Euch aufzunehmen. Seid Ihr jedoch hier, könnt Ihr binnen einer Woche in der Hauptstadt sein.«
»Das könnte schon zu spät sein«, murmelte Desiderius.
Der König ignorierte das. »Außerdem will ich sicher sein, dass mein Sohn, wenn ich einst nicht mehr da bin, einen treuen und fähigen Berater zur Verfügung hat, an den er sich wenden kann. Nichts gegen Euren Bruder Arerius, aber ich sähe die Burg ungern in seinen Händen. Er würde die Festung nicht zu schätzen wissen.«
Desiderius wandte sich ab und nun war es an ihm, sehnsüchtig in die Ferne zu blicken.
»Sie ist eine Fessel«, hörte Desiderius sich über die Burg sagen. »Sie ist ein Gefängnis.«
Der König nickte seinerseits. »Ein Gefängnis, für das man sich selbst entscheidet.«
Nach einem Moment sagte der König wissend zu ihm: »Wenn es die Hochzeit ist, die Euch Sorgen bereitet, lasst Euch gesagt sein, dass ich das nicht von Euch erwarte. Ich wäre froh, eine meiner Töchter in Eurer Obhut zu lassen, aber nicht, wenn Euch das unglücklich macht.«
»Eure Töchter sind wundervoll und wunderschön, Euer Gnaden«, erwiderte Desiderius. »Aber wie ich bereits sagte, binde ich mich nicht. Ich will keine von Ihnen unglücklich machen. Es liegt an mir, nicht an Euren Töchtern.«
Der König nickte. »Nun, aber würdet Ihr Euch dazu durchringen, Euch an diese Burg zubinden, um Eurem König und Eurem Volk einen Gefallen zu tun?«
Desiderius starrte vor sich hin. Er erwiderte nichts.
Die schwere Hand des Königs landete auf seiner Schulter und drückte sie kurz mitfühlend. Ohne eine Antwort bekommen zu haben, wandte sich der König ab.
Desiderius sah ihm nach und wollte wissen: »Wieso glaubt Ihr, ich wäre der Richtige dafür?«
Der König drehte sich zu ihm um und antwortete: »Bellzazar glaubt es, also glaube ich es auch.«
Damit drehte er sich um und ließ Desiderius allein.
So war das also, erkannte Desiderius, der Halbgott hatte den König auf ihn aufmerksam gemacht. Desiderius wusste nicht, ob er jubilieren oder fluchen sollte.
Einerseits machte es ihn stolz, dass der König solches Vertrauen in seine eher fragwürdigen Fähigkeiten setzte, andererseits widerstrebte es ihm, seine antrainierten Gaunereien zukünftig in die Dienste der Krone zu stellen.
Doch noch während er darüber nachgrübelte, ob er das Angebot annahm oder nicht, kam ihm eine Idee, wie er die Armeen der Gebirgslords schwächen konnte, noch bevor die Menschen sie aufrüsten konnten. Es war einfach und hinterlistig obendrein.
Er machte kehrt und begab sich auf die Suche nach Bellzazar.
***
»Das ist ... «, der Halbgott rieb sich das stoppelige Kinn, » ... einfach und genial.«
Der König, der unweit von dem Tisch im Arbeitszimmer des Lords an einem Fenstersims lehnte, schüttelte seinen hängenden Kopf. »Das können wir nicht gutheißen.«
Desiderius, der über die Karte gebeugt war, sah zu ihm hinüber.
»Es verschafft uns Zeit«, warf Bellzazar ein.
»Aber zu welchem Preis?«, fragte der König und blickte den Halbgott bekümmert an.
Bellzazar seufzte über seinen sensiblen König. Desiderius hatte den Eindruck, dass die beiden des Öfteren solche Differenzen zu bereinigen hatten. Erstaunlicherweise war es der Halbgott, der keinerlei Gnade für seine Gegner besaß. Ausgerechnet ein Halbgott.
Desiderius hielt sich raus, er hatte nur einen Vorschlag unterbreitet, nichts weiter. Alles Weitere lag in ihren Händen. Er richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust, während er den beiden zuhörte.
Bellzazar sagte zu seinem König: »Du hast die Wahl, Wexmell. Entweder du fängst an, deine Soldaten auf einen großen Krieg vorzubereiten, der unzählige Opfer fordern wird. Soldaten und viele Zivilisten werden abgeschlachtet. Oder wir machen, was der Bursche sagt, und schwächen diese Mistkerle, bevor sie überhaupt auf die Idee kommen, uns anzugreifen.«
»Sie werden wissen, dass wir dahinterstecken, und es uns mit gleicher Münze heimzahlen«, fürchtete der König.
Bellzazar lehnte sich gegen den Tisch, auf dem eine Karte von Nohva ausgebreitet war, und fragte seinen König: »Hast du schon mal Gebirgsmenschen gesehen, Wexmell? Große, muskulöse Männer. Fleischberge, aber verdammt wendig für ihren Körperbau. Sie sind brutal, sie sind verbissen, sie sind robust. Robuster als die Menschen, die du aus den Ebenen kennst. Das sind Barbaren. Wilde. Wenn sie erst Blut geleckt haben, sind sie kaum aufzuhalten.«
Der König sah ihn tadelnd an, denn natürlich kannte er jedes Volk in seinem Königreich.
Desiderius wusste, dass Bellzazar Recht hatte. Er hatte einst Gebirgsmenschen gesehen und sich mit einigen angelegt, die ihn beinahe mit bloßen Händen in Stücke gerissen hätten. Und das obwohl er die Kreatur mit den Fängen im Mund war.
»Und die Wüstenbewohner, mein König?« Bellzazar sah ihn eindringlich an. »Ich muss dir ja nicht sagen, dass diese ölfarbenen, schmaläugigen Scheißkerle sadistisch veranlagt sind. Es geht nicht nur um Ländereien, verdammt noch mal. Wenn diese beiden Völker sich zusammenschließen, werden ihre Soldaten auf dem Weg in die Hauptstadt jedes noch so kleinste Dorf niedermetzeln.«
Es war vielleicht etwas zu gemein ausgedrückt, dachte Desiderius insgeheim. Aber er selbst fand ebenso wenig gute Worte über das Wüstenvolk. Sie hatten eine reiche Kultur und es war ein schönes, wildes Land. Aber die Krieger von dort waren nun mal wirklich dafür berüchtigt, sadistische Kriege zu führen. Ihre Grausamkeit war ihre spezielle Fähigkeit, auf die sie stolz waren, weil ihre Feinde sich deshalb vor ihnen fürchteten. So wie Luzianer stolz waren, dass Menschen sich vor ihren Fängen fürchteten. Oder so wie Gebirgsmenschen stolz darauf waren, dass ihre Feinde sich vor ihrer verbissenen Sturheit und ihren robusten Körpern fürchteten. Jeder hatte einen Trumpf auf seiner Seite.
Der König schloss gequält seine blauen Augen.
Doch Bellzazar ließ nicht locker: »Stell es dir vor, Wexmell. All das Blut, die Leichen der Unschuldigen, die Schreie der geschändeten Frauen und Kinder.«
Der König hob seine Hände, um Bellzazar zum Schweigen zu bringen.
Desiderius stand ganz auf Seiten des Halbgottes in dieser Angelegenheit, doch er hielt diesbezüglich den Mund.
Seine Miene musste Bände sprechen, denn als der König ihn ansah, fragte dieser seufzend: »Und wenn wir Zeit gewonnen haben, was dann?«
»Dann rüsten wir schnellst möglich auf«, antwortete Bellzazar. »So auffällig, dass jeder weiß, dass niemand uns stürzen kann.« Er überdachte das und korrigierte schnell: »Dich, meine ich. Damit jeder weiß, dass niemand dich stürzen kann.«
»Ihr müsst das Bündnis mit den Menschen in den Ebenen stärken«, mischte sich Desiderius vorsichtig ein. »Sucht das Waldvolk auf, bittet sie, für Euch zu kämpfen. Sie führen lieber Krieg, als Euch fallen zu sehen. Besucht die Küsten, heuert Söldner an, zieht Räuber und Piraten auf Eure Seite. Glaubt mir, Majestät, es gibt viele, die für Euch zum Schwert greifen würden, ob gesetzloser oder treuer Bürger.«
»Wir stellen die größte Armee auf, die Nohva je gesehen hat«, stimmte Bellzazar mit feurigem Enthusiasmus zu.
»Aber zu aller erst, müssen wir Euch Zeit verschaffen«, warf Desiderius ein.
Der König dachte angestrengt darüber nach. Er raufte sich nach einer Weile sogar verzweifelt die blonden Haare.
»Denk an deine Kinder«, drängte Bellzazar, zeigte aber selbst keinerlei emotionale Rührung.
Der König sah Bellzazar an. »Und du bist in der Lage, das durchzuführen?«
»Oh ja«, grinste der Halbgott verschwörerisch.
Der König sah Desiderius an und beschloss: »In Ordnung, wir werden es tun.«
Bellzazar gab ein triumphierendes »Ja« von sich und hob eine Faust in die Luft.
Desiderius lächelte; und er lächelte auch darüber, dass sein Vorschlag angenommen wurde.
»Ich werde mich mit Desiderius darum kümmern, sobald wir in einigen Tagen hier abreisen«, versprach Bellzazar.
»Das bleibt aber unter uns dreien«, sagte der König noch streng. »Niemand sonst erfährt davon!«
Desiderius und Bellzazar nickten bestätigend. Dann ließen sie den König mit seinem schlechten Gewissen fürs Erste allein.
Desiderius wusste nicht so recht, ob er sich auf die Reise mit dem Halbgott freute oder ob er sie vielleicht sogar fürchten sollte. Doch kein noch so schlechtes Gefühl, das er gegenüber dem magischen Wesen hegte, würde ihn von diesem Abenteuer abhalten. Auch wenn es vermutlich das hinterhältigste Manöver war, das er bis dorthin je ausgeführt hatte.