Читать книгу Geliebter Prinz - Billy Remie - Страница 6
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ОглавлениеNoch bevor der Morgen graute und die lästigen Möwen an der Küste ihre Schreie verlauten lassen konnten, und damit die Bewohner aus ihrem wohlverdienten Schlaf rissen, war Desiderius wach und kleidete sich an.
Leise wie eine Maus, die in der Küche nach Essensresten suchte, zog er sich an, damit er den jungen Mann von letzter Nacht nicht aufweckte. Nicht einmal Stoff raschelte, während er seine Kleidung zuschnürte. Er hatte schon vor Jahren gelernt, geräuschlos zu kommen und zu gehen. Diese Fähigkeit half ihm, wie an diesem Morgen, immer wieder dabei, sich davon zu stehlen, bevor seine Bettgefährten erwachten und mitbekamen, dass er sie ausgeraubt hatte.
Er warf einen letzten prüfenden Blick auf den Blonden, der auf dem Bauch zwischen den Decken lag und das Gesicht unter seinem Arm verbarg, man konnte nur seine hübschen goldenen Locken sehen; seine dünnen Arme hätten auch die einer Frau sein können.
Dann schnappte er sich den Beutel mit den restlichen Silbertalern und befestigte ihn vorsichtig an seinem Gürtel, damit die Taler darin nicht klimperten.
Er hielt noch einmal inne, als er ein leeres Tablett auf einem Beistelltisch liegen sah. Er nahm es und hob es an, weil er sich in dem trüben Metall spiegelte.
Desiderius begutachtete die Bisswunde an seinem Hals und musste unwillkürlich grinsen.
Es hatte sich unbeschreiblich gut angefühlt, den Blonden mit dem eigenen Blut zu nähren. Während sein Glied in dem schönen Unbekannten gesteckt und ihm Lust bereitet hatte, waren dessen Fänge tief in seinem Hals vergraben gewesen. »Beiß mich«, hörte er seine eigene, heisere Stimme in seinem Kopf. »Trink von mir! Beiß mich!«
Die Gier nach Blut hatte die Luzianer schon oft unbeliebt gemacht. Sie benötigten es nicht häufig, um zu überleben, aber um jung und stark zu bleiben. Mindestens zwei oder drei Mal musste ein ausgewachsener Luzianer in einem Lebensjahr Blut trinken, damit sein Innenleben nicht alterte und sein Herz einfach stehen blieb. Kinder benötigten das Lebenselixier nicht.
Es war nicht relevant, welche Art von Blut. Ob vom Menschen, vom Tier oder vom eigenen Volk, die Wirkung war stets dieselbe. Aber der Geschmack war anders.
Ein wenig bereute Desiderius, dass er die Gelegenheit nicht genutzt und Luzianerblut gekostet hatte. Aber er hat sich nicht selbst um die Erfahrung bringen wollen, wie es war, einen Luzianer zu nähren. Für Menschen war es schmerzhaft, da sie ein anderes Schmerzempfinden hatten als Luzianer, aber für jemand aus seinem Volk war das Nähren eines anderen etwas Berauschendes. Und das hatte Desiderius unbedingt am eigenen Leib erfahren wollen.
Hinter ihm bewegte sich der Blonde und murmelte etwas Unverständliches.
Darüber schmunzelnd beschloss Desiderius, dass es Zeit war, zu gehen.
Lautlos verließ er den Raum, doch er durchquerte nicht den Flur, sondern stieg aus dem Fenster, das ihn direkt in eine enge Gasse führte.
Von dort aus kam er schnell und ungesehen zu den Stadttoren, die vor langer Zeit einmal von Wachen besetzt gewesen waren. Heute sah man nur aus den Angeln gerissene Torflügel, die vor sich hin moderten und vom kaltnassen, salzigen Wind der Küste aufgefressen wurden. Keine Wachen. Keine verschlossenen Tore. Die Küsten waren Tag und Nacht für jeder Mann zugänglich. Ob arm, reich, gesetzlos oder fromm. Jeder konnte herkommen und dann tun und lassen, was er wollte.
Deshalb war dieser Ort so gefährlich. Hexen und Illusionisten, ebenso wie Kreaturen aus der Unterwelt, bezogen hier ihre Quartiere. Und man konnte auf den Märkten an der Küste alles kaufen, was sonst verboten war. Gifte, Zaubertinkturen, magische Pulver, Zutaten für Dunkelzauberei. Alles, was das Herz eines Gesetzlosen oder einer Hexe begehrte.
Nur gut, dass Desiderius mit Letzterem nicht viel zu tun hatte. Er fürchtete Magie, traute ihr nicht, also ging er ihr aus dem Weg.
So auch an diesem Tag, als er eine alte Frau und ihren einzelnen Stand weit abseits des Marktes einsam in einer Gasse stehen sah. Verschrumpelte Köpfe, abgetrennte Gliedmaßen verschiedener Tiere, und viele Phiolen mit seltsam leuchtenden Flüssigkeiten hingen vom Dach ihres Marktstandes.
Desiderius drehte sich um und ging in eine andere Richtung, bevor sie ihn bemerkte.
Er nahm den Umweg in Kauf, den er gehen musste, damit er nicht die Aufmerksamkeit der Hexe auf sich zog.
Seine Sorge war berechtigt. Wie bereits erwähnt, waren Luzianer keine Menschen und ihnen wohnte eine Magie inne, an der sich Hexen gerne bedienten.
Sein Volk verehrte Hexen zwar, aber wenn man ihnen auf die Füße trat, und sei es nur ein falscher Blick, konnten sie jemandem Schlimmes antun. Also ging er lieber auf Nummer sicher und hielt sich fern. Er wollte nicht wegen seiner Fänge und seines Blutes wegen ermordet werden.
Natürlich gab es auch Hexen, die anders waren, aber ihm war noch keine begegnet.
Desiderius durchquerte die Tore und steuerte auf die Ställe zu, als über ihm bereits die Sonne aufging. Milder Wind kündigte den Frühling an und er nahm sich die Zeit, den Kopf in den Nacken zu legen und die Augen zu schließen, um das lauwarme Lüftchen durch sein kurzes, schwarzes Haar gleiten zu spüren.
Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und als er die Augen öffnete, sah er einen großen Raubvogel weit über ihn hinweg fliegen. Der Vogel steuerte von der Küste fort und in das Landesinnere. In Richtung der Fruchtbaren Hügel, hinter deren grünen Wiesen die Ebenen und die Stadt Dargard lagen. Der Königsitz.
Dargard ... Desiderius seufzte. Er war ewig nicht dort gewesen. Die große Stadt und der Königspalast mit seinen Hallen aus weißem Marmor. Der große Markt. Das geschäftige Treiben der Unterschicht. Das Gemisch der Gerüche aus gebratenem Wild und würzigem Honigwein. Es war herrlich dort. Selbst die Armenviertel waren sauber. Im Gegensatz zu den Städten im restlichen Land, lagen dort keine verhungerten Leichen herum.
König Wexmell Airynn sorgte für seine Völker. Leider konnte er nicht zu jeder Zeit überall sein, weshalb die anderen Städte, die er nicht so oft besuchte, von Menschen heruntergewirtschaftet wurden.
Menschen ... Desiderius knirschte mit den Zähnen. Es gab viele unter ihnen, die er mochte, aber keiner wäre dazu geeignet, Herrscher von etwas zu sein. Leider waren Menschen von Natur aus machthungrig und strebten stets eine hohe politische Position an.
Von Politik verstand Desiderius nichts, aber er war klug genug, zu wissen, dass ein Mensch besser nicht bei wichtigen Entscheidungen mitwirken durfte. Es gab einen Grund, warum Luzianer und nicht Menschen herrschten. Diese Tatsache stieß vielen auf den Magen, zumal es oft zu religiösen Streitigkeiten kam. Menschen glaubten an Götter und an ihren Zorn. Sie fürchteten ihre Götter. Die Luzianer glaubten zwar ebenso an diese Götter, der Unterschied bestand jedoch daraus, dass die Luzianer die Götter als etwas Greifbares und Gleichberechtigtes ansehen. Luzianer knieten nicht vor Göttern. Beteten nicht. Opferten nicht. Das gefiel den Menschen nicht, die die Götter nun mal anbeteten und verehrten.
Davon ausgenommen waren die Menschen, die in den Sandhügeln weit im Westen Nohvas lebten. Dieses Volk betete nur einen einzigen Gott an, und in seinem Namen töteten sie und führten auf bestialische Weise Kriege. Ein schwieriges Volk. Leicht reizbar. Wer klug war, hielt sich mit Aussagen über ihre Religion zurück.
Aber das war allein Desiderius’ Meinung, dass wusste auch er. Jede Geschichte hatte zwei Seiten und jedes Volk hatte seine eigenen Ansichten. Was nun richtig oder falsch war, konnte Desiderius nicht beurteilen. Für ihn war es jedoch richtig, dass der König ein Luzianer war. Aber vermutlich war er, als Luzianer, etwas voreingenommen. Gegenüber Menschen war er recht kritisch eingestellt. Der König sah das wohl anders, denn er gab ihnen mehr Macht, als Desiderius für gut befand.
Es brodelte unter der ruhigen Oberfläche Nohvas. Die Lords der Menschen verlangten nach mehr Mitspracherecht, aber wenn die Luzianer es ihnen gewährten, würden sie nur Kriege führen und den Frieden in Nohva gefährden. König Wexmell sorgte für Religionsfreiheit, er fand von vielen Menschen Zustimmung, doch es gab auch jene, die dagegen waren, selbst Luzianer, die zum menschlichen Glauben konvertierten.
Man konnte also nicht sagen, Menschen wären im Allgemeinen die bösen und Luzianer die guten Geschöpfe. Es gab in Nohva kein Gut und Böse. Nicht ausschließlich. Es gab nur Ansichten. Je nachdem, an was man glaubte oder wonach man strebte, entschied darüber, zu welchem Volk man stand. Es war die freie Entscheidung eines Einzelnen.
In diesen Tagen musste der König besonders vorsichtig sein. Desiderius hoffte, dass die Königsfamilie sicher bei seinem Vater ankam und nicht Opfer eines Überfalls wurde. Zum Glück mussten sie die Tiefen Wälder durchqueren, um zur Burg der Familie M’Shier zu gelangen. In den Wäldern lebten ausschließlich die Waldmenschen, die mit ihren nahen Verwandten – den Menschen – wenig charakterliche Ähnlichkeiten hatten. Sie würden den König friedlich gewähren lassen und jeden Versuch, ihn zu töten, unterbinden.
Der Gedanke an die Tiefen Wälder erinnerte ihn daran, dass er sich ebenfalls auf den Weg machen musste.
Von der Küste aus war es nicht mehr weit bis zu dem lichten Waldgebiet, das seine Familie bewohnte. Die dunkle Burg lag in der Nähe hoher Klippen und war durch die Tiefen Wälder vom Rest Nohvas abgeschirmt. Desiderius musste nur dem Weg nach Westen folgen, am Rande der Tiefen Wälder entlang, und wäre dann im Gebiet seines Vaters.
Die Küste lag nah an der Familienburg, aber niemals würde ein anderes Mitglied seiner Familie die messerscharfen Klippen der Küste sehen – die im Sonnenlicht violett schimmerten – weil sie niemals freiwillig herkommen würden. Es war auch besser so. Einfältige Schnösel, wie sie es waren, überlebten nicht lange an der Küste.
Doch trotz der Gefahr, die hier drohte, drehte sich Desiderius noch einmal um und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die halb eingestürzten Dächer der Schwarzen Stadt, wie sie genannt wurde, und schwor sich, so schnell er konnte, wieder her zu kommen.
Aber zuerst musste er seiner verhassten Familie den Arsch retten, indem er so tat, als wäre er ein geschätztes Familienmitglied und kein vertriebener Bastard. Und wenn das getan war, musste er sich eine neue Gruppe Diebe oder Söldner suchen, bei denen er einige Taler verdienen konnte, die er letzten Endes wieder hier an der Küste für Wein und männliche Dirnen ausgeben würde.
Es war ein ewiger Kreislauf. Der Kreislauf des einfachen Lebens, den er nicht aufgeben würde, selbst wenn man ihn mit vorgehaltener Klinge dazu zwingen wollte.
Lieber stürzte er sich über die Klippen.
Er wandte der abtrünnigen Stadt den Rücken zu und ging geradewegs in die Ställe hinein. Es gab niemanden, der hier ein Auge auf alles hatte. Man stellte sein Pferd hier ab und hoffte einfach, dass es am nächsten Morgen noch da und lebendig war. Es wäre nicht das erste Pferd, das Desiderius auf diesem Wege genommen worden wäre.
Dieses Mal war er sich aber sicher, dass sein Hab und Gut noch an Ort und Stelle war, denn seine Kameraden hatten den Stall als Schlafplatz genutzt und einen Jüngeren aus der Gruppe beauftragt, die ganze Nacht lang Wache zu halten.
Desiderius hörte die Schar Räuber schnarchen, während er seine Waffen, seine Lederrüstung und seinen Umhang aus ihrem Versteck holte und alles anlegte.
Es handelte sich dabei um eine leichte Rüstung, die ihm Bewegungsfreiheit gab, und einen bodenlangen Wollmantel, der bei Bedarf seine Gestalt und sein Gesicht verdeckte. Er befestigte seine zwei Dolche, die er immer überkreuz auf seine Brust geschnallt trug, schob den dritten Dolch in einen Stiefel und steckte zuletzt sein Langschwert in die Schwertscheide auf seinem Rücken.
Er führte seinen Rappen aus der nassen Box, in der kein Stroh lag, und legte ihm Halfter und Sattel an.
Ein letzter Blick auf die schwarze Stadt, dann schwang er sich vor den Stallungen in den Sattel und lenkte den Rappen in Richtung Westen.
Unter den Hufen des großen Pferdes knirschten die winzigen, kleinen Steinchen, die den Boden an den Küsten übersäten. Sowohl den Strand als auch den Boden oben auf den Klippen. Der schwarze Stein wirkte wie Schiefer, der zu kleinen Bruchstücken zertrümmert war, doch in der Sonne schimmerte er violett. Wegen dieses Gesteins hatte dieser Küstenabschnitt seinen Namen: Die Violetten Küsten.
Das hier war mehr seine Heimat als die, zu der er jetzt ritt.
Desiderius trieb seinen Rappen mit einem Schnalzen seiner Zunge an und beschloss, die Küste hinter sich zu lassen. Darüber zu jammern, nach Hause zurückkehren zu müssen, half ihm auch nicht.
***
Viele Reisen hatte er im Sattel verbracht. Er war ein geübter Reiter. So war es nicht verwunderlich, dass er und sein Rappe nur die Hälfte der eingeplanten Zeit benötigten.
Gut, Desiderius gab zu, dass der Hengst seinen Teil dazu beitrug. Es war ein edles Tier. Kräftig aber trotzdem ausdauernd. Sein Hals war muskulös, seine Beine lang und schlank. Sie trugen nicht viel Gewicht, dafür kamen sie schnell voran. Desiderius hatte den Rappen vor einigen Jahren aus einem Stall einer Adelsfamilie entwendet. Das Pferd war eine Mischung aus Gebirgspferd, die für ihren robusten Körperbau bekannt waren, und den wendigen Wüstenpferden aus den Sandhügeln, die sehr groß und schnell waren. Der Rappe war treu wie ein Hund, schnell wie kein anderes Ross und robust wie Desiderius selbst. Sie waren ein eingespieltes Team.
Als sich zwischen weit auseinander stehenden großen Trauerweiden eine düstere Burg emporhob, zügelte Desiderius seinen Rappen und ließ ihn langsam den Kiesweg entlang traben, der sie direkt zum Tor leiten würde. Desiderius bestaunte wie immer den hohen Turm, der zum Himmel emporragte und einen langen Schatten warf. Die Burg war einst aus dem Gestein der Küste erbaut worden. Hart und nicht schmelzbar. Einer Legende nach, soll diese Burg sogar einst dem Feuer eines Drachen standgehalten haben.
Allerdings konnte diese Geschichte haltlos erfunden sein, denn Desiderius hatte nie einen Drachen gesehen oder je jemanden getroffen, der einem begegnet wäre. Drachen waren für ihn auch nichts weiter als Legenden. Fabelwesen, die nicht existierten. So wie die Riesenkraken, die angeblich ganze Segelschiffe auf See verschluckten. Er glaubte an nichts, was er nicht selbst gesehen hatte. Und da er fast jeden Winkel Nohvas kannte – einschließlich vieler Höhlen und Ruinen von Völkern, die lange vor seiner Zeit ausgestorben waren – und noch keinem Ungeheuer wie einem Drachen oder einem Riesentier begegnet war, vermutete er, dass auch keines dieser Wesen existierte.
Was er allerdings gesehen hatte, waren Nachtschattenkatzen. Das Wappentier seines Volkes. Eine Mischung aus Wolf und Raubkatze. Spitze Zähne und Krallen wie eine Katze, lange Schnauze und Ohren wie ein Wolf. Fiese, kleine Biester. Ihre Bisse waren giftig, ihre Krallenhiebe gingen tief und ihr Fauchen tat in den Ohren weh. Es war nicht klug, gegen sie zu kämpfen, sie waren zu schlau und zu schnell. Hörte man das Knurren einer Nachtschattenkatze, wendete man lieber sein Pferd.
Genau wie in diesem Moment, dachte Desiderius, als er die Wappen mit den eleganten Tieren darauf an der Burgmauer entdeckte. Er wäre gerne umgekehrt und hätte diese auf Stoff gestickten Nachtschattenkatzen hinter sich gelassen.
Doch stattdessen blickte er das große Tor hinauf zu den Wachen.
Sie riefen fragend zu ihm hinunter, wer er sei und zu welchem Zweck er dort war.
Die ruppige Begrüßung war er gewohnt und er war sich ganz sicher, dass sie wussten, wer er war. Doch die Wachen machten sich einen Spaß daraus, ihn sagen zu hören, was er war.
Also seufzte er entnervt und rief dann brav zu ihnen hinauf: »Ich bin Desiderius M’Shier, der Bastard. Euer Burgherr erwartet mich.«
Er hätte schwören können, ihr Gelächter zu hören, ließ es aber gelangweilt über sich ergehen. Schon lange hatte er kein Problem mehr damit, ein Bastard zu sein.
Liebevoll kraulte er die dichte Mähne seines Rappen, während er darauf wartete, dass man ihm das Tor weit genug öffnete.
Er ritt durch den Spalt hindurch. Dahinter befanden sich bereits der weitläufige Burghof und die Pferdeställe. Ein Stallbursche kam ihm entgegengerannt, um sein verschwitztes Pferd in Empfang zu nehmen.
Desiderius glitt aus dem Sattel und gab dem jungen Burschen die Zügel. »Gib ihm frisches Heu und eine Handvoll Hafer, er hatte kein Frühstück.«
Der Stalljunge nickte bestätigend.
»Und reib ihn mit Stroh ab«, rief Desiderius ihm nach.
Eine tadelnd schnalzende Zunge ertönte hinter ihm und verlangte ihm seine Aufmerksamkeit ab.
Sein Bruder, ein großer Mann mit schütterem, dunklem Haar und enormen Bauchumfang, kam kopfschüttelnd auf ihn zu. Er trug beste Kleidung, die sich gefährlich über seinen Wanst dehnte.
»Nun sieh dich einer an!«, seufzte er theatralisch. »Das Haar zerzaust, einen Bartschatten auf den Wangen, übermüdete Augen, die Kleider unordentlich und die Stiefel dreckig.«
Desiderius hob die Arme und sah an sich hinunter. Als er seinen Blick wieder zu dem runden Gesicht seines Bruders hob, erwiderte er: »Das sind keine Kleider, man nennt das Rüstung.«
Ohne ihm weiter Beachtung zu schenken, drehte sich Desiderius um und steuerte auf den Eingang zu.
Arerius, sein Bruder, folgte ihm prompt. »Immerhin bist du pünktlich.«
»Wann erwarten wir die Ankunft des Königs?«, fragte Desiderius desinteressiert, während er die vielen Stufen hinaufstieg, die ihn zur Eingangshalle der Burg führten.
»Er verspätet sich um einen Tag«, antwortete Arerius.
Desiderius war enttäuscht. Das bedeutete, er musste noch einen Tag länger hierbleiben als ihm lieb war.
Er trat in die Halle und war nicht verwundert, sie reichlich geschmückt vorzufinden. Alles war für die Ankunft des Königs vorbereitet. Alles war perfekt, nur er war der Schandfleck der Familie, den bisher noch niemand entfernen konnte.
Zielstrebig ging er in die oberen Etagen, um seine Kammer aufzusuchen. Er brauchte dringend ein Bad, um sich die letzte Nacht vom Körper zu waschen. Er wollte nicht warten, bis sein Bruder ihm die unangenehme Frage stellte, warum er nach fremdem Männerschweiß roch. Es würde seiner Familie gelegen kommen, ihm deswegen den Kopf abschlagen zu lassen. Dann hätten sie einen Grund, ihn loszuwerden. Einen besseren, als seine uneheliche Geburt.
»Er schickte unserem Vater gestern Abend einen Botenvogel«, erzählte sein älterer Bruder ungefragt und folgte ihm die Stufen hinauf.
Desiderius befürchtete, Arerius würde ihm bis zu seinem Zimmer begleiten und ihn eigenhändig waschen und ankleiden. Aber bevor er das zuließ, müsste Desiderius ihm leider die Nase brechen.
»Er bringt die Königin und all seine Kinder mit. Einige von Ihnen haben Dargard noch nie verlassen.«
»Was du nicht sagst«, brummte Desiderius desinteressiert.
»Wie es aussieht, haben sich zwei der Prinzen davongestohlen, um die Gegend auszukundschaften. Der König war amüsiert und schrieb unserem Vater, dass er leider erst weiterreisen könnte, wenn seine zwei abhandengekommenen Söhne sich ausgetobt und wieder zu ihm zurückgefunden haben«, plauderte Arerius unbeirrt weiter. Er klang wirklich schockiert über diese Entwicklung. Er hätte wohl nicht gedacht, dass die königliche Familie wusste, wie man Spaß hatte.
Desiderius schmunzelte nur in sich hinein. Es war eine amüsante Geschichte über zwei verwöhnte Bengel, die zum ersten Mal den Duft der Freiheit geschnuppert hatten. Wer sollte es ihnen verübeln? Desiderius bestimmt nicht.
Er kannte nicht alle Prinzen und Prinzessinnen. In den letzten Jahren kam der König stets allein zu den alljährlichen Treffen, bei denen Desiderius anwesend sein musste. Zuletzt hatte er eine der jüngsten Töchter und den Kronprinzen gesehen. Das war aber auch bereits sieben Jahre her. Und der König hatte viele Kinder. Vier oder sogar fünf Söhne und drei Töchter. Jedes von ein und derselben Frau. Wie gesagt, Luzianer lebten lange und hatten reichlich Zeit, Nachkommen zur Welt zu bringen.
Als er an seinem Zimmer ankam, das man ihm immer zuteilte, wenn er zu Besuch war, da es am weitesten von den anderen entfernt lag, drehte er sich zu Arerius um und sagte: »Da der König erst morgen hier erscheint, kannst du mich ja auch vorerst allein lassen.«
Sein großer Bruder betrachtete ihn mit ärgerlich gerunzelter Stirn, doch er nickte schließlich. Bevor er sich abwandte und Desiderius allein ließ, sagte er jedoch streng: »Das Mittagsmahl wird bald aufgetischt. Wasch dich, zieh dich ordentlich an und putz deine Stiefel!«
Desiderius war versucht, ihm eine Grimasse zu schneiden, aber er unterließ es und schlug lediglich die Tür zu seiner Kammer zu.
Er drehte sich um und stemmte seufzend die Hände in die Seiten. Er war noch keine Stunde auf der Burg, hatte noch nicht seinen Vater angetroffen, und hatte bereits nur Gedanken an seine baldige Abreise.
Ein Gutes hatte dieser Besuch jedoch. Es gab viel teuren Schmuck in den Zimmern, den Desiderius zu einem guten Preis an einen Schwarzmarkthändler verkaufen konnte. Wenn er also schon hier sein musste, würde er wenigstens dafür sorgen, dass es sich auch für ihn lohnte.