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ОглавлениеWenige Tage später waren sie endlich wieder in wärmeren Gebieten und konnten es sich erlauben, nachts unter klarem Sternenhimmel zu schlafen.
Sie nahmen den Weg quer über die Ebenen, an luzianischen und menschlichen Lords, an Menschendörfern und Gasthäusern vorbei, immer weiter in Richtung Dargard, die Hauptstadt am See und Sitz des Königs.
Am Abend zuvor hatten sie nahe am Ufer des Königsees ein Lager aufgeschlagen. Desiderius war von dem Ruf eines Kauzes geweckt worden. Seit sie zurück in wärmeren Gebieten waren, verfolgte der Vogel sie. Er hielt für gewöhnlich Abstand zu ihnen, aber an jenem Morgen hatte er auf dem Ast eines Obstbaums gesessen, neben dem ihr Lager aufgeschlagen war. Der Kauz drehte interessiert den Kopf, als Desiderius zu ihm aufgeblickt hatte.
Er stützte sich auf seine Ellenbogen und warf einen Blick auf Bellzazar. Dieser schlief noch tief und fest neben der Glut des Lagerfeuers.
Ausatmend setzte Desiderius sich auf und rieb sich sein Gesicht. Er spürte die immer länger werdenden Bartstoppeln. Als Beweis dafür, dass nicht nur seine Wangen einen Mann aufsuchen mussten, der sich mit Haaren auskannte, kitzelten ihm nun auch seine länger gewordenen, dunklen Haarspitzen auf der Stirn. Er fuhr mit der Hand hindurch und strich sie zurück. Ihm gefiel das Gefühl seiner kühlen Haare und überlegte, ob er sie nicht länger wachsen lassen sollte. Nicht unbedingt so lang wie sein Vater, aber vielleicht bis zu den Schultern, wie die meisten Diebe und Räuber.
Er hatte noch keine Lust, weiter zu reiten, zumal sie der Hauptstadt schnell näherkamen und er nicht genau wusste, wie der König auf ihn reagieren würde, und auf den Ausgang der Aufgabe, die etwas aus dem Ruder gelaufen war. Es machte Desiderius nervös, dem König in die Augen sehen zu müssen und zu erklären, warum er sein Erbe nun doch nicht antrat und warum er wie ein Feigling in der Nacht geflohen war.
Um die Weitereise zu verzögern, beschloss er, den Halbgott schlafen zu lassen und erst einmal ein morgendliches Bad im kühlen Wasser des Königssees zu nehmen.
Am Ufer sah er sich zu allen Seiten um, doch sie lagerten an einem abgelegenen Uferabschnitt, und obwohl er von weit entfernt Schafe hörte und ihm der Gestank von Rindern entgegenschlug, sah er weit und breit keine Menschenseele.
Er war allein. Bis auf den Kauz, der nun über ihm kreiste als gehörten sie zueinander wie Mutter und Kind.
Desiderius schüttelte irritiert den Kopf, ignorierte den Raubvogel aber dann, etwas Anderes blieb ihm ja sowieso nicht übrig.
Er legte seine Kleidung komplett ab und watete nackt in das kühle Wasser des Sees.
Das Wasser war recht dunkel und es schwammen Algen und Seegras darin, aber das machte ihm nichts aus. Es war nass, darum ging es ihm.
Der Königssee war so groß, dass man nicht bis an das andere Ufer sehen konnte und einigen Legenden zufolge, wohnten mehrere Ungeheuer in seinen Tiefen.
Wenn dem so wäre, würde Desiderius ihnen gleich einen Besuch abstatten, aber er glaubte nicht an Monster und Ungeheuer, die von alten Ammen erfunden wurden, um die Kinder vom Wasser fernzuhalten.
Desiderius sprang kopfüber mit den Armen voran in das Wasser. Er tauchte tief ein, da der Grund einen gewaltigen Knicks machte und tief im Erdboden versank. Desiderius folgte dem Bodenverlauf, tauchte immer tiefer und spürte an seinen strammen Muskeln, wie das Wasser immer kälter wurde, je tiefer er gelangte.
Es war dunkel dort unten, und er konnte kaum etwas erkennen. Als ihm langsam die Luft ausblieb, sah er sich gezwungen, zurück an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Erst da bemerkte er, wie lange er getaucht war, denn es dauerte eine Weile, bis er durch die Oberfläche brach und Luft holen konnte.
Glücklich atmete er aus und schwamm einige Züge rückwärts. Er mochte das Gefühl der Schwerelosigkeit. So stellte er sich fliegen vor. Leicht und befreiend. Er genoss auch die Erfrischung am Morgen. Liebte das Gefühl kühler Nässe, die seinen Körper umschloss und sich anschmiegte wie ein anhänglicher Liebhaber nach gemeinsamen Stunden der geteilten Leidenschaft.
Bei dem Stichwort ›anhänglicher Liebhaber‹ wanderten seine Gedanken während des Schwimmens unmittelbar zu Prinz Wexmell.
Schmunzelnd erinnerte sich Desiderius daran, wie schüchtern und zurückhaltend dessen Berührungen waren. Wie ungeschickt, aber liebenswert er sich bei ihrem Liebesspiel verhalten hatte. Er erinnerte sich gern daran, wie der junge Prinz ein vorzeitiges Ende gefunden hatte, noch bevor Desiderius richtig begonnen hatte. Und er erinnerte sich, wie sie daraufhin beide erheitert aufgelacht haben, bevor er einfach weiter die Männlichkeit des anderen mit streichelnden Händen verwöhnt hatte, bis er wieder an Härte gewann.
Es war eine Nacht voller Erfüllung gewesen. Auf vielen Ebenen, wie er zugeben musste.
Er hatte sich bis dorthin lange nicht so belebt gefühlt. Befreit. Glücklich.
Desiderius erinnerte sich mit einem liebevollen Lächeln daran, wie sich der Körper unter ihm anspannte, versteifte und vor Anstrengung zitterte, als er das erste Mal in ihn eindrang.
Wexmell hatte auf dem Bauch gelegen und seine zarten Hände hatten sich in die Leinenlaken gekrallt. Erstickt hatte er hervorgepresst: »Es tut weh.«
»Nur am Anfang.« Desiderius hatte sich zu ihm hinunter gebeugt und die Lippen auf die Stelle zwischen seinen Schultern gedrückt. »Vertraut mir, ich werde Euch nicht verletzen.«
Und der Prinz hatte ihm vertraut. Kurz darauf waren wundervolle Wimmerlaute zu hören gewesen, aus Lust und unerwarteter Freude, nicht mehr aus Schmerz.
Der junge Prinz hatte es genossen und sein Keuchen war Musik in Desiderius’ Ohren. Jede Nacht hörte er noch das Stöhnen des Blonden, als lägen sie noch immer beisammen und wären nicht über viele Ländereien voneinander getrennt.
Er schloss die Augen, während er im Wasser trieb, und erinnerte sich an diese Nacht, die ihm in allen darauffolgenden Nächten die Einsamkeit und Kälte genommen hatte. Er erinnerte sich an heißen Atem, der seine Haut streifte. Finger, die ihn erkundeten. Lippen, die von ihm kosteten. Eine feuchte Zunge, die ihm Lust bereitete. Und er erinnerte sich daran, wie er in jener Nacht eingeschlafen war. Nackt zwischen zerwühltem Leinenstoff, den erhitzten Körper des jungen Prinzen im Arm, während er träge dessen Rücken mit den Fingerspitzen liebkoste und der Atem des Prinzen seine Brust streichelte.
Desiderius war nie mit einem anderen Mann im Arm eingeschlafen. Wenn er nicht ging, schlief er mit etwas Abstand zu dem Körper, der ihn zuvor beglückt hatte. Aber bei Wexmell war es anders gewesen. Er hatte nicht anders gekonnt, als ihn an sich zu ziehen. Der junge Prinz hatte dieses Antlitz, das Desiderius’ Herz höherschlagen und seine Augen leuchten ließ. Er war nicht in der Lage gewesen, dem kleinen Blonden das Herz zu brechen und das träge Lächeln auf dessen Gesicht verschwinden zu sehen, nur, weil er sich vor Nähe fürchtete. Also hatte er getan, was er auch hatte tun wollen, trotz seiner Angst. Nun war er vermutlich selbst daran schuld, dass der junge Prinz sich mehr erhoffte. Er hatte dem Blonden falsche Hoffnungen gemacht.
Es war nicht so, dass er ihn nicht haben wollte, es war mehr so, dass er einfach gelernt hatte, diesbezüglich nichts mehr zu erwarten.
Desiderius schüttelte die trüben Gedanken ab und tauchte wieder unter Wasser. Er schwamm durch das kühle Nass zurück in Richtung Ufer.
Als er auftauchte, brannte die Sonne auf ihn herab und verriet ihm, dass es bereits Mittag sein musste. Und wenn die Sonne ihm nicht sagte, dass es Zeit zur Abreise war, dann Bellzazar, der in voller Montur in der Nähe des Ufers stand und die Zügel der gesattelten Pferde in den Händen hielt. Er nickte Desiderius aus dem Wasser.
Ohne sich seiner Nacktheit zu schämen, watete Desiderius aus dem See und schüttelte sein Haar aus.
»Wir müssen weiter«, sagte Bellzazar mit einem Lächeln auf den Lippen.
Desiderius ging zu seinen Sachen und zog sich an, während er scherzte: »Wie, kein Frühstück?«
Für gewöhnlich ritt der Halbgott ungern mit leerem Magen weiter.
»Es ist zu spät für Frühstück«, erklärte Bellzazar. »Wir essen etwas, wenn wir an einem Gasthaus vorbeikommen.«
Desiderius nickte einverstanden. »Dann los.«
***
Dargard war die größte Stadt in ganz Nohva, die sich direkt am nördlichen Ufer des gleichnamigen Sees emporhob. Von weitem schon ein eindrucksvolles Gebilde aus einer Vielzahl verschiedensten Baukünsten. Sandsteinhäuser, die unter der warmen Sonne rotbräunlich schimmerten, reihten sich an Backsteinhäuser. Mal runde Dächer, mal flache, mal spitze Dächer. Stadtviertel mit kleinen Häusern, Stadtviertel mit runden Häusern, Stadtviertel mit Villen. Es schien, als würden hier nicht nur in fleischlicher Form alle Völker zusammentreffen, auch an den Häuser erkannte man die kulturelle Vielfalt, die schon seit Jahrtausenden in Dargard herrschte.
Das größte Gebäude befand sich in der Mitte der Stadt, direkt im Marktviertel. Eindrucksvoll streckte sich der dünne, spitze Turm der Kirche dem Himmel entgegen. Bunte Fenster glitzerten im Sonnenschein, und die Dachziegel des Satteldachs, der lächerlich großen Kirchenhalle, leuchteten orangebraun.
Und, soweit Desiderius wusste, befand sich der königliche Palast im südlichsten Teil, am Ende der Stadt, umringt von dem angeblich schönstem angelegten Garten Nohvas. Schwer bewacht und von hohen Mauern geschützt.
Desiderius selbst war noch nie im Königspalast gewesen, deshalb wusste er nicht, ob die Gerüchte wahr waren.
In Dargard war er schon Gast gewesen, deshalb beeindruckten ihn die roten Tore der Stadt nicht mehr sonderlich. Was ihn jedoch beeindruckte, war die Menge vieler verschiedener Völker, die sich die Straße entlang versammelten und ihn und seinen Reisegefährten neugierig betrachteten. Es war, als wären sie zwei Soldaten, die nach einem langen Krieg in die Heimat zurückkehrten und nun heldenhaft begrüßt wurden.
Seite an Seite ritten Bellzazar und Desiderius die breite Straße entlang, unter den neugierigen und teils auch erfreuten Blicken der Stadtbewohner. Die Hufe ihrer Rösser klackerten laut auf dem gepflasterten Stein der sauberen Straße, und warmer Wind durchwehte sein dunkles Haar.
Unsicher blickte Desiderius sich um, ihm behagte es nicht, dass man sie beide so genau beobachtete.
»Ihr müsst es Ihnen nachsehen«, flüsterte Bellzazar ihm schmunzelnd zu. »Das gemeine Volk sieht meinesgleichen nur recht selten. Sie sehen nicht allzu oft einen Halbgott. Und dann auch noch einen so gutaussehenden.«
Desiderius schnaubte belustigt. »Ihr seid wirklich keineswegs bescheiden.«
»Sollte ich?«
Desiderius schüttelte gleichgültig seinen Kopf. »Macht, was immer Ihr wollt.«
»Wenn ich könnte, würde ich«, gab Bellzazar zurück. »Ich habe Jahrtausende nur nach meinem eigenen Willen gelebt, aber was hat es mir gebracht?«
»Ein sehr langes Leben?«, scherzte Desiderius.
»Ich dachte immer, niemand könnte mich dazu zwingen, etwas zu sein, was ich nicht sein wollte«, erzählte Bellzazar und gab freizügig seine Gefühle preis. »Die Götter wollten, dass ich meine Aufgabe übernehme. Ich wollte lieber frei sein. Reisen, das Leben genießen. Deshalb verbannten sie mich ganz aus ihrem Reich. Ich dachte, ich finde einen Weg, zu sterben, aber es gibt keinen, ich bin ein Halbgott, ich kann nicht sterben, ich kann nur hoffen, dass sie mich aufnehmen. Aber das wollten sie nicht mehr.«
»Bis mein Volk Euch half«, ergänzte Desiderius.
Bellzazar nickte bestätigend. »Fünf Könige durch ihre Regentschaft. Für vier lange Regenten habe ich bereits als Schutzgott gedient. Kein ermordeter König, alle starben friedlich, nach einem langen Leben, eines natürlichen Todes. Und wenn König Wexmells Zeit gekommen ist, habe ich meine Aufgabe endlich erfüllt.«
Desiderius hatte den Eindruck, dass für den Halbgott nichts weiter zählte, als das Beenden seines Daseins in dieser Welt. Ihn schien das Wohlergehen des Königs nicht wirklich zu kümmern, er sorgte nur für dessen Überleben, weil es seinem eigenen Interesse dienlich war. Die Götter haben ihm diese Aufgabe erteilt, damit er lernte, Verantwortung zu übernehmen. Zu beschützen, Mitgefühl zu zeigen. Doch Bellzazar schien keines zu haben, weshalb sich Desiderius fragte, ob der Halbgott seine Lektion überhaupt gelernt hatte und es verdiente, belohnt zu werden.
Sie durchritten immer weiter die Stadt, immer der breitesten Straße folgend. Je weiter sie kamen, je größer wurden die Gebäude und je schicker die Kleidung der Leute auf den Straßen. Auch das Interesse an Ihnen nahm immer weiter ab. Die Menschen, die in den Reichenvierteln lebten, warfen ihnen lediglich arrogante, abwertende oder sogar hasserfüllte Blicke zu.
Es widerstrebte Desiderius, dass die Menschen in dieser Stadt die wohlhabenden Geschöpfe waren, während sich die wenigen Luzianer zusammen mit anderen Völkern in den Armenvierteln kaputt schufteten. Nur, weil sich die Menschen wie trotzige Kinder verhielten, die kein neues Spielzeug bekamen, wurden sie vom König besser behandelt, um einen Aufstand zu verhindern. Ganz nach dem Motto: »Bekomme ich nicht, was ich will, drohe ich mit Gewalt.«
So waren Menschen nun mal. Sie und ihre Religionen waren für die meisten Kriege und Aufstände verantwortlich. Dabei gab es genug anderes, worum sich ein König kümmern musste. Um den Hunger in der Welt, um die Wasserknappheit im Westen während der Sommermonate, um die Instandhaltung seiner Ländereien und vieles mehr.
Aber die Menschen interessierten sich nicht dafür, sie wollten nur, dass der König endlich die Religionsfreiheit abschaffte und sie deshalb wieder Kriege führen konnten. Weil es in ihren Augen kein hehres Ziel gab, als für ihren Glauben zu morden und zu sterben.
Arme, traurige Welt.
Aber zum Glück waren nicht alle Menschen so, es gab auch einige unter ihnen, die treu zu ihrem König standen, obwohl er ein Luzianer war.
Bellzazar warf ihm einen schmunzelnden Blick zu.
»Was ist?«, brummte Desiderius genervt, der nach dieser langen Reise nur noch daran denken konnte, sich in einer der Schenken einen willigen Knaben aufzureißen und Wein zu trinken, bis er umfiel und erst in drei Tagen wiedererwachte. Aber dazu würde er wohl nicht kommen, deshalb hatte er miese Laune. Ihm war eine Idee gekommen, die er unbedingt mit jemandem besprechen musste, der Ahnung von so etwas besaß. Es stand viel bevor, und an Vergnügungen war eine Weile nicht zu denken.
»Wieso habt Ihr eigentlich solche Angst vor Magie?«, wollte Bellzazar wissen und grinste dabei neckisch.
»Ich habe keine Angst vor Magie«, warf Desiderius ein. »Ich habe nur einen gesunden Respekt davor.«
Bellzazar nickte einlenkend. »Kluge Einstellung dazu.«
»Ich ging noch nie mit etwas leichtfertig um, das ich nie ganz verstehen werde«, erklärte Desiderius ehrlich.
»Und wieder eine kluge Einstellung«, stimmte Bellzazar wahrlich beeindruckt zu. »Mir begegnen selten Personen, die sich nicht irgendwie davon angezogen fühlen, wenn man bedenkt, was man mit Magie alles erreichen kann. Magie erfüllt Wünsche.«
»Aber jeder Wunsch, der durch Magie erfüllt wird, birgt ungeahnte Folgen«, warf Desiderius ein. »Also erfülle ich mir meine Wünsche lieber selbst, dann weiß ich wenigstens, welche Folgen ich zu erwarten habe.«
»Ein Mann liegt im Sterben, ihm bleiben nur noch wenige Stunden. Wenn er tot ist, bleibt seine Witwe mit vier Kindern zurück, die sie irgendwie durch den Winter bringen muss.« Bellzazar blickte Desiderius fragend an. »Eine Hexe könnte den Mann heilen und damit rettet sie vermutlich auch das Leben seiner Kinder und seiner Frau. Welche dramatischen Folgen könnte das haben?«
»Ob Ihr es glaubt oder nicht, so etwas Ähnliches habe ich mal mitangesehen«, erzählte Desiderius daraufhin. »Ich übernachtete in einem Gasthaus, es war Winter und bitter kalt draußen, deshalb blieb ich einige Wochen dort und zahlte das Zimmer und Essen mit der Arbeit im Stall ab. Nun ja, jedenfalls lag der Wirt im Sterben und seine junge Frau hatte gerade erst Zwillinge zur Welt gebracht, alle drei würden ohne ihn verhungern, da die junge Mutter niemals das Gasthaus allein hätte führen können. Also holte die Mutter der jungen Frau eine Hexe ins Haus. Die Hexe heilte den Mann, danach war er wie um zehn Jahre verjüngt. Und was ist geschehen? Der Mann verlässt keine zwei Tage später seine Frau für die Hexe. Die Milch der jungen Mutter versiegte durch ihre Trauer, es gab keine Amme und andere Milch wollten die Zwillinge nicht annehmen. Die Säuglinge verhungerten und die junge Frau ist nun eine verbrauchte, verkümmerte alte Hure in einem Bordell an der Küste, die sogar Geld dafür nimmt, damit ich ihr Blut trinken darf.«
Bellzazar schien von der Geschichte nicht schockiert, er nickte nur und schmunzelte leicht dabei, als fände er es sogar amüsant. »Kommt vor«, sagte er nur dazu.
Desiderius wusste nicht, ob er sich darüber ärgern oder ihm beipflichten sollte. Wenn er es recht betrachtete, hatte er zu keinem Zeitpunkt großes Mitleid verspürt. Wer sich auf andere verließ, musste mit bösen Folgen rechnen. Vor allem wenn es um Magie ging. So jedenfalls seine Meinung, aber er war ja noch nie wirklich mitfühlend gewesen.
Vielleicht waren der Halbgott und Desiderius sich nicht nur äußerlich sehr ähnlich.
Nach einer Weile, in der sie schweigend nebeneinanderher geritten waren, gelangten sie zu einem Straßenabschnitt, der augenscheinlich wieder in die Natur hinausführte. Links und rechts neben der Straße befanden sich Laubbäume, die ihnen Schatten spendeten, nichts sah mehr nach Stadt aus. Offenbar waren die Gerüchte über den königlichen Garten wahr und sie befanden sich gerade auf dem direkten Weg dorthin.
Bellzazar grinste wieder, als er plötzlich sagte: »Wisst Ihr, Ihr seid ein wirklich schöner Mann.«
Desiderius sah ihn irritiert an. »Was?«
Der Halbgott schmunzelte listig. »Ihr habt einen wunderschönen Körper, das muss man Euch lassen. Als Ihr aus dem Wasser kamt, konnte ich zum ersten Mal sehen, wie stattlich Ihr auch ohne Eure leichte Rüstung seid.«
Desiderius warf ihm einen unsicheren Blick zu, er wusste nicht, ob und was er darauf erwidern sollte.
Bellzazar musterte forschend Desiderius’ Gesicht, als er neugierig mit einem anzüglichen Unterton fragte: »Ihr bevorzugt die Gesellschaft von Männern, nicht wahr?«
Desiderius wandte den Blick ab und sah auf seine Hand, mit der er die Zügel hielt und seinen Rappen lenkte. Er wollte lügen, aber stattdessen kam aus seinem Mund: »Und Ihr?«
»Nein«, antwortete Bellzazar gleichgültig. »Macht Euch keine Hoffnung.«
Desiderius schnaubte verächtlich, sah ihn aber nicht an, als er zurückgab: »Hatte ich auch nicht vor, glaubt mir.«
»Den Eindruck hatte ich auch. Ihr hättet genug Zeit gehabt, um es herauszufinden, wenn Ihr gewollt hättet.« Bellzazar klang amüsiert. »Ich wollte nur sagen, dass Ihr vorsichtig sein müsst, solange Ihr in der Hauptstadt seid. Ich weiß nicht, wie lange Euer letzter Besuch her ist, aber seit einigen Jahren haben wir diesbezüglich viele Probleme. Immer wieder klagen die Menschen euresgleichen an. Nennen es Sünde und Sodomie. Sie verlangen vom König Hinrichtungen, die er selbst nicht gutheißt.«
»Warum lässt er es dann zu?«, rutschte es Desiderius verärgert heraus, dabei hatte er gar nicht so anmaßend sein wollen. Er wusste nicht, unter welchem Druck der König stand, also war er nicht in der Position, über ihn zu urteilen.
»Der König hat ein gutes Herz«, erklärte Bellzazar seufzend. »Er ist ein guter Mann, rein und diplomatisch. Er will Kriege verhindern und ist nicht bereit, für seine eigenen Überzeugungen Gewalt einzusetzen. Wenn er sich weigert, Hinrichtungen zu genehmigen, gibt es einen Aufstand. Diesen könnten wir zwar zerschlagen, müssten aber vermutlich gegen die Menschen Krieg führen. Wir könnten ihn vielleicht gewinnen und ein freieres Land erschaffen, wenn wir die vielen unschuldigen Opfer in Kauf nehmen.«
»Wir können ihm wohl nicht verdenken, dass er den Frieden bewahren will«, schätzte Desiderius, verstand aber auch, dass es manchmal unumgänglich war, Krieg zu führen. Sofern man für die richtige Sache zu den Schwertern rief.
»Ob Krieg oder kein Krieg, Menschen und Luzianer sterben trotzdem«, warf Bellzazar ein. »Und zwar bei Hinrichtungen oder während der Folterungen.«
Das war auch wahr. Vielleicht war ein Krieg im Namen der Freiheit der Anfang vom Ende vieler Hinrichtungen. Das Ende der Unterdrückung.
Interessiert fragte Desiderius: »Aber warum interessiert Euch das? Nehmt es mir nicht übel, aber ich hatte eher den Eindruck, dass Ihr für andere Lebewesen kaum Mitgefühl hegt.«
»Ihr habt recht«, stimmte Bellzazar gleichgültig zu. »Meine Meinung darüber hat auch nicht unbedingt etwas mit Mitgefühl zutun. Ich bin einfach der Ansicht, dass man niemanden wegen seiner Leidenschaft, seiner Vorlieben oder wegen seiner Geburtsumstände hinrichten oder verschmähen sollte.« Nach einer kurzen Pause fügte er noch nachdenklich hinzu: »Ich hege kein Mitgefühl für die Hingerichteten oder für die Verfolgten, ich vermisse nur einfach die Welt, wie sie früher war. Frei und wild.«
Desiderius betrachtete ihn grübelnd. Ihm ging durch den Kopf, dass der Halbgott vielleicht Recht hatte, vielleicht war Nohva vor Jahrtausenden ein besserer Kontinent gewesen, auch wenn man damals noch in wilden Stämmen durch die Wälder gezogen war. Wild aber frei. Das klang jedenfalls besser als kultiviert aber verfolgt.
»Na kommt.« Bellzazar trieb seinen Rappen in den Trab. »Beeilen wir uns, der König wird schon sehnsüchtig auf unseren Bericht warten.«
***
Der königliche Palast war wie eine nochmals eigene Stadt, mit eigenem Stall, eigenen Mauern, eigenen Soldaten und eigenen Vieh- und Getreidebauern.
Der Garten um den Palast war unglaublich. Desiderius musste zugeben, dass die Gerüchte um ihn sogar maßlos untertrieben waren. Das Gras schien grüner zu sein, ebenso die Blätter der zahlreichen Laubbäume, die Schatten spendeten. Die angelegten Blumenbeete schillerten in allen möglichen Farben, von Gelb über Violett bis hin zu dunklem Blau. Es war ein herrlicher Anblick. Man betrat das wahr gewordene Paradies.
Desiderius und Bellzazar passierten ein weiteres Tor, das den Königspalast vom Rest der Stadt abschirmte. Dort gab es ausschließlich königliche Wachen. Alle waren Luzianer, kein einziger Mensch, nicht einmal die Stallburschen, die die Pferde entgegennahmen.
Desiderius’ Rappe schmiegte noch einmal seinen Kopf an ihn, und Desiderius nahm sich die Zeit, um ihn zwischen den Augen zu kraulen. Leise flüsterte er seinem Pferd zu: »Königliche Ställe, mein Lieber, so gut hast du noch nie gehaust, sind bestimmt keine Löcher in den Dächern, und ich wette, das Heu schmeckt besser als die verschrumpelten Karotten, die ich dir sonst immer stehlen muss.«
Ein Stallbursche mit hellbraunem Haar, braunen Augen und einem Gesicht, so makellos und lieblich, dass man glauben konnte, er sei nur ein Gemälde, wenn er sich nicht bewegen würde, nahm die Zügel aus Desiderius’ Hand.
Desiderius hielt ihn noch einmal auf: »Gebt ihm Karotten, die mag er, und striegelt ihn, wenn Ihr ihn abgesattelt habt, er hat eine lange Reise hinter sich.«
Der Stallbursche lächelte und nickte bestätigend. »Natürlich, Euer Gnaden. Er bekommt nur das Beste und ich werde mich persönlich um ihn kümmern.«
Desiderius stockte kurz, noch nie hatte ihn jemand so genannt. Er mochte es nicht unbedingt, aber schlecht fand er es auch nicht.
Seufzend sah er seinem treuen Gefährten hinterher, wie sein breiter Pferdehintern in den Stall geführt wurde, und er stellte fest, dass es nach all der Zeit vielleicht doch mal an der Zeit war, dem Rappen einen Namen zu geben. Normalerweise band sich Desiderius nicht gern, nicht einmal an die Tiere, die ihn auf ihren Rücken trugen, sie lebten leider nie lange. Aber dieser Hengst war schon länger bei ihm als je ein anderes Lebewesen. Er verdiente einen Namen.
Desiderius wandte sich vom Stall ab und ging hinüber zu Bellzazar, der zusammen mit einem kleinen Mann, der in feine Seide gehüllt war, darauf wartete, dass sie dem König gegenübertreten konnten.
Gemeinsam gingen sie den aus weißen Kieselsteinen gestreuten Weg durch den grünen Garten entlang, geradewegs auf die großen, weißen Türen des Palastes zu. Desiderius Schulter an Schulter mit Bellzazar und ihnen voraus der kleine Bedienstete, der sie offenbar führen sollte, was absurd war, der Halbgott fand den Weg bestimmt auch allein, schließlich lebte er im Palast.
Während sie dem kleinen Mann mit dem schütteren, dunklen Haar folgten, bemerkte Desiderius umso deutlicher, wie schmutzig sie nach ihrer langen Reise waren. Zwar hatten sie jede Gelegenheit genutzt, um sich zu waschen, aber trotzdem sah man ihnen an, dass sie keine feinen Seifen zur Hand gehabt hatten. Ihre Kleidung war schmutzig, ihre Haare fettig.
Desiderius kannte die Etikette der Adeligen nur zu gut und fragte sich, ob es wirklich angemessen war, in diesem Aufzug vor den König zu treten. Andererseits interessierte es ihn nicht wirklich, ob sein Äußeres Missfallen erwecken würde. Er wollte nur nicht den König verärgern. Zumal er dem König jetzt erst einmal erklären musste, weshalb bald sehr viele unschuldige Opfer ihr Leben lassen mussten.
In der Nähe des Palastes sah Desiderius zwei der goldhaarigen Prinzessinnen spielen. In silbernen Gewändern tobten sie mit einem schwarzen Hund durch den Garten.
Er musste lächeln, als er die Töchter des Königs so sorglos beim Herumtollen beobachtete. Es erfreute ihn, dass sie sich keine Gedanken um Krieg und Tod machen mussten. Jedenfalls noch nicht.
Als sie ihn ihrerseits erblickten, stockten sie. Die jüngere Schwester flüsterte der älteren etwas zu. Sie kicherten unbeschwert. Die ältere Prinzessin winkte ihm mit einem schüchternen Lächeln zu. Als er die Geste erwiderte, errötete sie und die beiden kicherten erneut mit vorgehaltener Hand.
Er war sich nicht sicher, ob sie sich über ihn lustig machten oder ihn einfach gerne mochten. Ob so oder so, er war froh, dass er ihnen auf irgendeine Art ein Lächeln in die Gesichter zauberte.
Als Desiderius zusammen mit dem Bediensteten und Bellzazar an der Tür ankam, rannten die Prinzessinnen um den Palast herum.
Desiderius und Bellzazar wurden in den großen Thronsaal geführt. Eine beeindruckende Halle aus weißem Marmor und einer so hohen Decke, dass ihm schwindelig wurde, wenn er den Kopf in den Nacken legte und hinaufsah.
Er hatte viel über diesen Ort gehört und war nun, da er ihn mit eigenen Augen sah, grenzenlos überwältigt.
Es war angenehm kühl in dieser Halle, aber seltsam still. Es gab nichts weiter als Boden, Wände, Decke und den großen Thron auf einer Anhöhe, der aus goldenen Flammen bestand. Keine echten Flammen, sondern Flammen aus gegossenem Gold.
Der König war jedoch nicht anwesend, der Thron war leer. Niemand war anwesend, der Saal war gespenstisch leer, dennoch blieb der Bedienstete stehen und drehte sich zu ihnen um.
Erwartungsvoll sah er zwischen ihnen hin und her.
Als keiner der beiden etwas sagte, seufzte der Bedienstete und erklärte tadelnd: »Vergebung, in diesem … Aufzug, könnt Ihr nicht vor den König treten.«
»Ich bin schon ganz anders vor den König getreten«, warf Bellzazar belustigt ein. »Einmal sogar nackt.«
Der Bedienstete setzte eine eiserne Miene auf.
Seufzend lenkte Bellzazar ein. »Von mir aus, dann bringt den jungen M’Shier zu einem Gemach und besorgt ihm frische Kleidung, ich ziehe mich derweil auf meine Kammer zurück.«
Betont überfreundlich verabschiedete sich der Halbgott verbeugend, ehe er sich abwandte und verschwand.
Desiderius musste ein Schmunzeln unterdrücken. Er und Bellzazar hatten wahrlich mehr gemein als sie beide vermutlich je offen zugeben würden.
»Bitte folgt mir, Euer Gnaden«, forderte der Bedienstete auf.
Desiderius folgte ihm durch eine unscheinbare Tür, die zu einer dunklen Treppe führte. Aber je höher sie gingen, je heller wurde es.
Er wurde durch einen marmornen Flur geführt, zu einem prunkvollen Zimmer mit einem geschnitzten Bettgestell, das schwere Samtvorhänge besaß. Ebenso befand sich in der übergroßen Schlafkammer eine Feuerstelle, ein Frisiertisch, dunkle Kommoden aus dem Westen Nohvas, Teppiche aus dem Süden und Pelze von Bären und Wölfen aus den Wäldern. Besser konnte man gar nicht hausen.
»Ein Bad wird vorbereitet, ich schicke eine Dienstmagd, die Euch wäscht«, sagte der Bedienstete, während Desiderius noch mit offenem Mund das Zimmer bestaunte.
Er fuhr zu dem kleinen Mann herum. »Ich ... ähm ... die mich ... Was? Oh bitte ... «, er stotterte, weil er fassungslos war. »Das ist wirklich nicht notwendig, ich bin in der Lage, mich selbst zu waschen.«
»Das steht nicht zur Wahl, Euer Gnaden«, beschloss der Bedienstete und verbeugte sich tief, bevor er sich abwandte.
Desiderius blinzelte irritiert, er war sich nicht sicher, ob er das gut finden sollte. Aber immerhin war es eine Frau und kein Mann, er wusste nicht, ob er sich zurückhalten konnte, wenn ihm Männerhände den Dreck vom Körper abgewaschen hätten.
Bei diesen Gedanken erzitterte er, voller Begierde darauf, sie wahr werden zu lassen.
Eines war sicher, er musste dringend der Küste mal wieder einen Besuch abstatten.
Aber zuerst musste er dem König einen Bericht erstatten.
***
Einige Zeit später war Desiderius frisch gewaschen, frisch rasiert und trug saubere Kleider. Erst hatte man ihn in feine Seide hüllen wollen, aber er hatte sich geweigert, bis man ihm einfache Leinenhemden brachte, solange seine Rüstung gesäubert wurde.
Er fühlte sich recht wohl und erholt, obwohl die Reise lang gewesen war, aber für ihn nicht wirklich anstrengend. Er war das Leben in den Wäldern gewohnt. Bevorzugte es.
Als er gemeinsam mit Bellzazar das Arbeitszimmer des Königs betrat, stand dieser hinter seinem großen, prunkvollen Schreibtisch und war über einige wichtig wirkende Dokumente gebeugt. Sein Gesichtsausdruck war grüblerisch und besorgt.
Der König sah auf, als er die Neuankömmlinge bemerkte.
König Wexmell runzelte seine makellose Stirn. »Ich habe euch früher erwartet.«
Bellzazar erwiderte: »Wir sind schon seit Stunden hier, mein König, aber uns wurde der Zutritt zu dir verweigert, solange wir nicht gebadet und sauber gekleidet waren.«
Der König rieb sich aufseufzend seine Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. Mehr zu sich selbst murmelte er vor sich hin: »Ich habe ihnen gesagt, dass sie das lassen sollen.«
Desiderius war froh, dass der König sich nicht an solch banalen Sachen wie dem äußeren Erscheinungsbild eines Mannes störte.
König Wexmell hob den Blick und scherzte milde lächelnd: »Dreht der König seinen Bediensteten den Rücken zu, tun sie, was sie wollen.«
»Gut, dass du es von dir aus ansprichst, Wexmell«, sagte Bellzazar im ernsten Tonfall. Er drehte sich halb zu Desiderius um, als er hinzufügte: »Ich glaube, der junge M’Shier muss dir eine etwas heikle Angelegenheit erklären.«
Sofort sah der König Desiderius forschend und befürchtend an. »Was ist geschehen?«
Desiderius atmete leise tief durch, ehe er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und gestrafften Schultern vor den Schreibtisch des Königs trat. »Ich grüße Euch, Majestät.«
König Wexmell, bescheiden wie er war, winkte nur freundlich ab. »Berichtet, Desiderius.«
Ohne eine emotionale Rührung zu zeigen, begann Desiderius die Geschehnisse zu umschreiben: »Nachdem wir uns nachts erfolgreich in die Schwarzfelsburg geschlichen hatten, bekamen wir es im Hof mit einigen ... Schwierigkeiten zu tun. Die Tür zum Vorratsspeicher der Gebirgsarmee war ungünstig gelegen, Wachen hatten stets einen Blick darauf–«
»Deshalb beschlossen wir, die Wachen mit einem Ablenkungsmanöver fort zu locken«, mischte Bellzazar sich ein und schnitt damit Desiderius das Wort ab. »Ich war die Ablenkung. Ich lockte sie erfolgreich fort, damit der junge M’Shier die Phiole mit der Krankheit unter die Kornvorräte der Gebirgsarmee mischen konnte.«
»Aber die Tür war verschlossen«, sprach Desiderius weiter. »Ich sah keine Möglichkeit, hinein zu gelangen, und die Wachen hatten bereits Alarm geschlagen, eine Gruppe von ihnen kam direkt in meine Richtung. Ich hatte nicht viel Zeit, um eine Entscheidung zu fällen, weshalb ich eine andere Möglichkeit suchte, die Gebirgsmenschen zu schwächen. Da fiel mir der Brunnen im Hofinneren ins Auge-«
»Kurz gesagt«, erhob Bellzazar wieder das Wort, »wir kamen nicht in den Kornspeicher, also vergifteten wir das Brunnenwasser.«
König Wexmell schien im ersten Augenblick nicht zu verstehen, doch dann konnte man seiner Miene ansehen, dass er begriff. Er wurde bleich und seine Lippen öffneten sich.
Bellzazar und Desiderius wagten es nicht, noch etwas zu sagen. Die neuen Informationen musste der König erst einmal verdauen.
Fassungslos stieß der König seinen Atem aus und stützte sich mit den Händen auf die massive Platte des reichlich verzierten und vergoldeten Schreibtisches. »Der Brunnen?«
»Ja, mein König«, bestätigte Bellzazar.
Mit hängendem Kopf erkannte der König richtig: »Der Brunnen in der Schwarzfelsburg? Der Brunnen, der die Trinkwasserversorgung der umliegenden Dörfer der Burg sichert. Dieser Brunnen? Der Brunnen, dessen Wasser unzählige unschuldige Bauern trinken?«
Desiderius schluckte schwer. Er hatte insgeheim darauf gehofft, dass der König erkennen würde, dass es keine andere Möglichkeit gegeben hatte. Aber König Wexmell war einer dieser Könige, der nicht den Tod Unschuldiger mit irgendwelchen Ausflüchten rechtfertigen wollte. Nicht einmal wenn das geopferte Leben vermutlich einen verheerenden Bürgerkrieg verhinderte.
Und genau deshalb war ein Mann wie Wexmell König, und nicht jemand wie Desiderius. Denn Desiderius würde vieles in Kauf nehmen und vieles opfern, um Nohva davor zu schützen, von Menschenvölkern übernommen zu werden.
Bellzazar erinnerte den König mit verärgerter Stimme: »Der Brunnen, dessen Wasser auch die Soldaten trinken, Wexmell! Sei nicht dumm, erkenne die Vorteile darin!«
König Wexmell ignorierte seinen Berater und engsten Freund, er sah Desiderius an und fragte eindringlich: »Hättet Ihr die Tür nicht aufbrechen können?«
»Bei allem Respekt, Eure Majestät«, erwiderte Desiderius ungerührt, »aber ich hatte weder die Zeit dazu, noch wäre es klug gewesen, sie aufzubrechen. Bedenkt, dass die Gebirgsmenschen den Einbruch bemerkt und aus reiner Vorsicht die Vorräte nicht mehr angerührt hätten.« Desiderius warf einen Blick zu Bellzazar, ehe er noch bedeutsam hinzufügte: »Dann wäre unsere Reise umsonst gewesen und ich hätte mein Leben im Dienst der Krone umsonst riskiert.«
Der König atmete aus, es schien, als stimmte er Desiderius zu, sprach es aber nicht aus. Stattdessen sah er Bellzazar an, musterte ihn kurz, und fragte ihn schließlich: »Wieso bist du nicht mit der Phiole hinter die Tür? Du hast doch derartige Fähigkeiten.«
»Wie du weißt, habe ich die Wachen abgelenkt.«
»Das hätte doch der Junge machen können!«, warf der König ein.
Desiderius mochte es nicht, ständig als Junge bezeichnet zu werden. Bei den Luzianern war er das vermutlich auch noch, aber die meiste Zeit hatte er mit gesetzlosen Menschen verbracht, unter denen er mit seinen siebenundzwanzig Sommern alles andere als ein Junge war. Doch er schluckte seinen Ärger darüber hinunter und ließ den Halbgott in Ruhe mit dem König weiter debattieren.
»Verrate mir, wie der Bursche ohne meine besonderen Fähigkeiten vor den Wachen hätte fliehen können, aus einer Burganlage, die dafür berühmt ist, weder ein, noch ausbrechen zu können, wenn man nicht gerade ein Dämon ist, der sich in Rauch auflösen kann«, zischte Bellzazar den König an.
Allmählich bekam Desiderius einen Eindruck davon, wie nahe sich die beiden standen. Aber das war wohl nicht verwunderlich, denn der Halbgott kannte den König bereits seit seiner Geburt.
Kopfschüttelnd ließ der König sein Haupt hängen.
»Ich hätte das Leben des jungen M’Shier opfern können, um in den Speicher zu gelangen, und um das Leben vieler Unschuldiger zu retten«, stimmte Bellzazar zu. »Aber wäre dir das wirklich lieber gewesen?«
Der König hob den Blick. Er sah Bellzazar an, holte Luft, als wolle er etwas erwidern, doch er sagte nichts. Seine Augen glitten zu Desiderius, musterten ihn, wirkten bekümmert dabei. Schließlich seufzte der König leise und schüttelte auf Bellzazars Frage hin den Kopf.
»Der Junge hat das Richtige getan, das weißt du«, sprach Bellzazar auf den König ein.
Dieser nickte zustimmend. Doch Desiderius hörte ihn murmeln: »Manchmal frage ich mich, ob diese Krone es wirklich wert ist, darum zu kämpfen.«
»Du übst dich in letzter Zeit zu viel in Melancholie, mein König.« Bellzazar lächelte milde.
Bekümmert blickte der König auf. »Wenn ich nicht auf meine Herrschaft bestehen würde, hätten die Menschen keinen Grund, Krieg anzuzetteln.«
Desiderius mischte sich nun doch ein: »Ein Mensch auf dem Thron würde Dunkelheit und nur noch mehr Krieg über Nohva bringen, Eure Majestät. Die Menschen in den Ebenen und im Gebirge würden einen religiösen Krieg anzetteln, ebenso das Wüstenvolk im Westen, und niemand würde aufgeben, bis alle Völker ihren Glauben angenommen haben. Ihr müsst regieren und König sein, weil Ihr die Macht besitzt, den Frieden zu wahren.«
Der König grübelte über diese Worte nach.
Ein Augenblick verging, doch dann begann er aufgemuntert zu lächeln und nickte Desiderius zustimmend zu.
Just in diesem Moment schwang die Tür zum Arbeitszimmer auf und jemand stolperte voller Hast in das kleine Zimmer, das mit Regalen voller Schriftrollen und Büchern zugestellt war.
Bellzazar und Desiderius fuhren herum, während König Wexmell belustigt den hereingeplatzten Störenfried anlächelte.
»Ja, mein Sohn?«, fragte der König amüsiert. »Was möchtest du?«
Prinz Wexmell sah mit offenem Mund zwischen den Anwesenden hin und her. Es schien, als hätte er zu spät bemerkt, dass er ungefragt in eine Unterhaltung geplatzt war.
Desiderius musste sich bei seinem Anblick ein erheitertes Schmunzeln verkneifen, was ihm leider nicht recht gelang.
Prinz Wexmell bemerkte es und lächelte peinlich berührt zurück. Er atmete aus, doch das Geräusch, das er dabei verlauten ließ, hörte sich eher nach einem recht dümmlichen Auflachen an.
»Nichts, Vater ... « Prinz Wexmell kratzte sich an der Schläfe, während er wieder langsam rückwärts zur Tür schlurfte, die bei seinem Hereinstürmen laut gegen die Wand gekracht war.
»Ich wollte nur sehen, ob die Gerüchte stimmen.« Dabei glitt sein Blick zu Desiderius, und seine blauen Augen musterten diesen. »Sie stimmen wohl.«
Der junge Prinz wandte sich ab und zog die Tür wieder hinter sich zu.
Desiderius hatte seiner schlanken Gestalt noch so lange nachgesehen, bis er verschwunden war. Erst als er sich wieder dem König zuwandte, bemerkte er, dass zwei Augenpaare ihn ruhig beobachteten.
Unbehaglich räusperte Desiderius sich, tat aber ansonsten so, als wäre nichts geschehen.
Der König richtete sich wieder auf und sagte an Desiderius gewandt: »Er mag Euch sehr.«
Desiderius schüttelte verneinend den Kopf. »Er kennt mich doch gar nicht.«
»Mein Jüngster kennt aber einen Mann, der ihn vor vielen Jahren bei seinem Besuch der M’Shier Burgfestung vor gemeinen Burschen beschützt und ihm für die restlichen Tage Gesellschaft geleistet hat. Der mit ihm gespielt und ihm beigebracht hat, wie man sich wehrt. Jener Mann, der ihm bei seinem zweiten Besuch erneut geholfen hat, indem er dem König bewies, dass der junge Prinz ein guter Kämpfer und vollwertiger Mann geworden ist, trotz seiner jahrelangen Krankheit«, warf der König ein und lächelte dabei gerührt.
Desiderius wusste nicht, was er sagen sollte, weshalb er stumm den Blick senkte. Der König gab ihm das Gefühl, etwas unbeschreiblich Wohltätiges getan zu haben, dabei hatte Desiderius nur das getan, was er für richtig gehalten hatte. Er hatte sich davon nichts erhofft und bekam nun mehr, als ihm recht war. Für ihn war es ungewohnt, dass man ihm für etwas dankbar war. Und er stellte fest, dass ihm Dankbarkeit unangenehm aufstieß.
»Seit Ihr ihm damals, als er sechs war, geholfen habt, spricht er nur ehrfurchtsvoll von Euch«, erzählte der König froh. »Mein Sohn war überglücklich, als ich erlaubte, dass er zu Eurem Vater mitreisen durfte. Er war so aufgeregt, Euch endlich wieder zu sehen.«
Tief in seinem Inneren erwachte ein Teil, von dem Desiderius gehofft hatte, dass er längst ausgetrocknet und gestorben war. Jener Teil, der mehr als nur gerührt war, dass zwölf Jahre lang ein Junge immer an ihn gedacht hatte, während er sich nichts ahnend draußen in der Welt bewegt hatte. Er wollte nichts fühlen, konnte aber dennoch nicht verhindern, dass er gerührt war, egal, wie stark er dagegen ankämpfte.
»Ihr seid seither eine Art Held für meinen Sohn«, fügte der König bedeutsam hinzu.
Desiderius sah auf und erwiderte des Königs Blick gleichzeitig gerührt und verunsichert.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, zu wissen, dass es immer jemand gegeben hatte, der die ganze Zeit immer an ihn gedacht hatte. Während er sich einen Namen unter den Gesetzlosen aufgebaut hatte, war es Wexmell gewesen, der an ihn gedacht hatte. Während er gestohlen, betrogen und überfallen hatte. Während man ihm Schmerz zugefügt und ihn mehr als einmal verraten hatte. Während er alles erlebt hatte, was ihn zu dem Mann geformt hatte, der er heute war, waren Prinz Wexmells Gedanken immer bei ihm gewesen.
Desiderius fragte sich, ob sich irgendetwas geändert hätte, wenn er davon gewusst hätte.
Vermutlich nicht, aber alles wäre einfacher zu ertragen gewesen, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass es jemand gab, dem er nicht vollkommen egal zu sein schien. Dem er im Gedächtnis geblieben war. Jemand, der ihn nicht einfach vergessen hatte.
Desiderius schluckte schwer, dann räusperte er sich, ehe er sich mit gefasster Stimme an den König wandte und fragte: »Eure Majestät, ich weiß, ich habe meinen Vater enttäuscht, weil ich einfach gegangen bin und mein Erbe nicht antreten werde, dennoch würde ich ungern auf Euer Angebot verzichten, mich in den Dienst der Krone zu stellen.«
Des Königs blaue Augen leuchteten erfreut auf. Er tauschte mit Bellzazar verwunderte Blicke aus, ehe beide wieder erwartungsvoll Desiderius ansahen.
»Nicht als Lord, der an eine Festung gebunden ist«, erklärte Desiderius dem König, »sondern als Mann, der gewisse ... heikle Aufträge für Euch erfüllen kann. Ich würde Euch und dem zukünftigen König gerne dienen, sofern Ihr meine Dienste noch wollt.«
»Unbedingt«, erwiderte der König und lächelte breit. »Ihr seid mir hier willkommen, Desiderius, ich hätte Euch gerne in meiner Nähe.«
»Da gibt es etwas, was ich Euch gerne vorschlagen würde«, warf Desiderius noch ein. »Mir kam auf der Reise ein gewagter Gedanke.«
Der König forderte ihn mit einer amüsanten Ungeduld auf: »Nur raus damit! Ich bin für neue Denker immer offen.«
»Vor allem wenn es bedeutet, dass Ihr bei uns bleibt«, stimmte Bellzazar zu und blickte Desiderius hochinteressiert an.
»Es gibt noch mehr Männer wie mich«, rückte Desiderius mit der Sprache raus. »Männer mit besonderen Fähigkeiten, die aber zu unbedeutend sind, um Ritter oder Soldaten zu werden.«
»Verbrecher«, wusste Bellzazar sofort. Aber er klang nicht verurteilend, eher noch neugieriger als zuvor und vielleicht auch ein wenig erheitert.
Desiderius nickte. Er ignorierte, dass der König skeptisch wurde, und erklärte eilig: »Wenn Ihr weiterhin Kriege verhindern wollt, werdet Ihr zukünftig mehr solcher Aufträge zu vergeben haben. Aufträge, für die Ihr Assassinen anheuern müsstet, denen Ihr nicht vertrauen könnt. Aufträge, für die Ihr erfahrene Bogenschützen braucht, oder Hundeführer. Jäger, die ihr nicht unter Rittern oder Soldaten findet. Männer, die spezielle Fähigkeiten haben.«
»Männer, die im Verborgenen arbeiten«, begriff Bellzazar. Er wandte sich an den König und erklärte ihm: »Wir sprechen hier von Männern, die so einzigartig sind wie der junge M’Shier selbst. Es wäre eine Bereicherung, wenn sie für die Krone arbeiten würden, statt von ihr verfolgt zu werden.«
Der König warf kopfschüttelnd ein: »Verbrecher und Mörder werde ich nicht zu meinen Verbündeten machen.«
»Verzeiht, Eure Majestät, aber dann müsstet Ihr auch meine Dienste ablehnen«, sagte Desiderius und versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.
Bellzazar sprach auf den König ein: »Gesetzlose sind nicht unbedingt gesetzlos, weil sie gegen die Krone aufbegehren, im Gegenteil, die meisten lieben dich als König. Aber Name, Herkunft oder Äußerlichkeiten verhindern ihnen ein ehrenhaftes Leben, weil sie ausgestoßen werden. Nicht alle von ihnen sind Mörder, mein König, die meisten haben mehr Ehre als ich und Desiderius zusammen.«
»Ich versichere Euch, Majestät, dass ich jeden dieser Männer, die ich dafür vorsehe, kenne und ihnen vertraue«, versprach Desiderius.
Der König atmete einlenkend aus, wollte jedoch wissen: »Und was wäre das dann? Ein Ritterorden?«
»Nein, Ritter sind ehrenhafte Männer«, warf Desiderius ein. »Aber die Männer, die ich für Euch gewinnen kann, kämpfen nicht um die Ehre willen.«
»Genau das, was wir gut gebrauchen können«, beschloss Bellzazar.
»Ein Orden aus Meuchelmördern? Assassinen?«, fragte der König immer noch skeptisch. »Wer soll diese Personen kontrollieren?«
»Keine Assassinen, sondern nur Männer mit gewissen, fragwürdigen Fähigkeiten«, korrigierte Desiderius. »Fast wie Assassinen, aber im offenen Kampf viel effektiver.«
»Und Ihr könnt sie anführen?«, fragte der König. »Sie kontrollieren?«
Desiderius nickte, obwohl er sich nicht vollkommen sicher sein konnte. Aber er war zuversichtlich, dass die, die er für jene Aufgabe vorsah, ihm folgen würden. Alle waren einst irgendwann einmal alte und treue Gefährten von ihm gewesen. Mit manchen hatte er mehrere Jahre Seite an Seite geschlafen, gegessen und gekämpft.
»Sie würden nicht nur für Euch kämpfen und Aufträge erfüllen«, sprach Desiderius weiter auf den König ein. »Wir wären stets hier und würden auch für Eure Sicherheit sorgen.« Er warf einen Blick auf Bellzazar, als er hinzufügte: »Und wenn Ihr und Bellzazar einst diese Welt verlasst, werden wir den nächsten König beschützen.«
»Wir versuchen es«, entschied Bellzazar über den König hinweg.
König Wexmell bedachte ihn mit einem tadelnden Blick.
»Bedenke doch, wie bereichernd es wäre, einen solchen Orden zu gründen«, redete Bellzazar auf König Wexmell ein. »Diese jungen Männer würden dir allein unterstehen und verstärken zudem noch die Sicherheit in diesem Palast. Außerdem erhöhen sie deine Unantastbarkeit in den Augen der Völker. Deine Feinde würden sich vorsehen. Dieser Orden verstärkt deine Macht, Wexmell!«
Der König wandte sich ab und stellte sich an ein schmales Fenster. Er blickte grübelnd durch das getönte Buntglas hinaus in den Garten. Lange schwieg er.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte er sich schließlich zu Desiderius um und beschloss mit ernster Miene: »Also gut! Aber ich verlasse mich auf Euer Wort, dass wir diesen Männern vertrauen können. Die Verantwortung liegt bei Euch, und geht etwas schief, werdet Ihr dafür zur Rechenschaft gezogen.«
»Das bedeutet, Ihr haltet den Kopf hin, wenn einer Eurer Männer Schwierigkeiten macht«, erklärte Bellzazar unnötigerweise.
Das war Desiderius bewusst und er ging das Risiko mit Freuden ein.
»Ihr werdet es nicht bereuen«, versicherte Desiderius an den König gewandt. Er musste einen erfreuten Aufschrei unterdrücken, weil er nicht glauben konnte, dass der König ihm sein Vertrauen schenkte.
»Geht«, trug der König ihm auf, »bereitet alles vor und gebt mir Informationen über diese Männer, die Ihr im Sinn habt. Ich werde unsere finanziellen Mittel überprüfen und den Sold für diese Männer ausrechnen.«
»Glaubt mir, Eure Majestät, diese Männer geben sich mit einer geringen Summe Taler zufrieden, solange sie stets ein Dach über dem Kopf, ein Bett, Wein und etwas Warmes zu essen zur freien Verfügung haben. Es handelt sich um Gesetzlose ohne Mittel, mein König, sie werden nicht einmal halb so viel verlangen, wie einer Eurer Ritter.«
Betroffen blickte der König ihn an, ihm war wohl nicht bewusst gewesen, unter welchen Umständen Mittellose leben mussten, dass Essen und ein Bett schon einen Luxus für sie darstellten. Er nickte nur noch, sagte aber nichts mehr.
Desiderius wandte sich ab und verließ das Arbeitszimmer mit einem seltsam erleichterten Gang. Alles in einem war er nun froh, bleiben zu können. Obwohl er das Leben auf der Straße vermissen würde, hatte er nun das Gefühl, einem Weg zu folgen, der für ihn bestimmt war.
Es fühlte sich gut an, eine Aufgabe zu haben.
***
Am Abend saß Desiderius an einem kleinen Tisch in seinen Gemächern und schrieb bei Kerzenschein eine Bitte an einen alten Freund auf einen kleinen Zettel, den er noch in der gleichen Nacht mit einem Botenvogel fortschicken würde.
Es würde Monate dauern, jeden einzelnen Mann, den er für den Orden vorgesehen hatte, ausfindig zu machen, zumal einige von ihnen nicht einmal lesen konnten. Desiderius musste bald wieder abreisen, um sie alle einzeln aufzusuchen. Aber erst einmal musste er herausfinden, wo sie sich gerade befanden, weshalb er Cliff, dem Bordellbesitzer an der Küste, eine Nachricht zukommen ließ. Cliff bekam mehr mit als jeder andere und er hatte bestimmt Gerüchte gehört, die Desiderius weiterhelfen konnten.
Am Nachmittag hatte Desiderius eine Liste mit Namen und Informationen über diese Männer erstellt, die er dem König und Bellzazar ausgehändigt hatte. Gemeinsam haben sie alles durchdacht und genau geplant, es stand ihm nichts mehr im Wege.
So richtig glauben konnte er es aber noch immer nicht. Er, im Dienste der Krone? Er, das Oberhaupt eines Ordens, der nur dem König unterstellt war? Er, der dem König einen feierlichen Schwur geleistet und der Krone die Treue geschworen hatte?
Vor einem Jahr hätte er laut gelacht.
Er musste sich nicht fragen, was sich oder seine Einstellung geändert hatte. Es war nicht das Angebot seines Vaters gewesen oder das offensichtliche Interesse des Königs an seiner Person. Nein, der Grund war wesentlich gefährlicher und trug blond gelocktes Haar.
Desiderius hatte sich von ihm fernhalten wollen, aber in der Nacht, als er Seite an Seite mit Bellzazar unter dem Felsvorsprung gesessen und auf den Morgen gewartet hatte, war ihm nicht nur die Idee mit dem Orden gekommen. Er hatte über den Schutz der Königsfamilie nachgedacht und was er dazu beitragen konnte, als ihm bewusstwurde, dass ihm vor allem die Sicherheit des jüngsten Prinzen wichtig war.
Und diese war durch Arerius gefährdet, der zu viel wusste und bereits mit einer öffentlichen Bekanntmachung über ihr Geheimnis gedroht hatte. Desiderius machte sich plötzlich mehr Sorgen um den jungen Prinzen als um sich selbst, das war Neuland für ihn, aber diesem Drang hatte er nicht widerstehen können.
Er würde sich von Wexmell fernhalten, aber er würde dennoch alles Mögliche tun, um ihn zu schützen. Deshalb war er hier und deshalb brachte er die besten Kämpfer, die er kannte, in diesen Palast. Selbst wenn Arerius etwas ausplaudern würde, wäre Desiderius in der Lage, den Prinzen in Sicherheit zu bringen, noch bevor die ganze Stadt den Palast stürmte und vom König fordern konnte, den eigenen Sohn hinrichten zu lassen.
Desiderius verbot sich selbst den schönen Blonden, aber das bedeutete nicht, dass er ihn nicht mochte oder dass ihm gar dessen Schicksal nicht kümmerte. Nein, er hatte für den jungen Prinzen etwas übrig, es behagte ihm zwar nicht, aber es war nicht mehr zu leugnen. Und wenn er sich schon selbst verbot, ihn zu nehmen, so konnte er doch wenigstens dafür sorgetragen, dass der junge Prinz hier im Palast ein langes und sorgloses Leben führen konnte. Desiderius wollte ihn beschützen, vor allem vor seiner eigenen Naivität. Es erschien ihm richtig, dass er deshalb in Dargard blieb.
Ein Poltern über ihm war zu hören, das ihn kurz aus seinen Gedanken riss, ihn aber nicht weiter kümmerte. Vermutlich rangelten mal wieder die Prinzen miteinander.
Er hatte ein Zimmer im Stockwerk unter den Gemächern der königlichen Familie zugeteilt bekommen. Es handelte sich in diesem Flur ausschließlich um Gästezimmer, aber der König hatte beschlossen, alle Schlafkammern den Männern zur Verfügung zu stellen, die Desiderius für den Orden gewinnen konnte. Desiderius hatte zwar versichert, dass sie sich alle, einschließlich ihm, mit einem weniger prunkvollen Schlafplatz begnügt hätten, aber der König hatte darauf bestanden. Damit wurde ihnen schon mehr zuteil als der königlichen Leibwache oder dem Ritterorden, obwohl die Männer noch nicht einmal eingetroffen waren.
Desiderius unterschrieb den Zettel mit seinen Initialen, er legte die Feder beiseite und pustete anschließend die Tinte trocken. Danach ließ er die Schrift noch etwas lufttrocknen und lehnte sich entspannt zurück. Er griff nach seinem Becher und trank von dem noch lauwarmen Würzwein, der seinen leeren Magen füllte.
Bei all der Aufregung hatte er ganz vergessen, etwas zu essen, aber es war bereits zu spät für eine Mahlzeit, weshalb er sich lieber noch einmal aus dem Weinkrug nachgoss, der ihm von einem Bediensteten gebracht worden war.
Es klopfte erneut leise an den Türrahmen.
Desiderius drehte den Kopf und blickte zur Tür, die er offengelassen hatte, als er vor einigen Stunden hereingekommen war.
Er versteckte seine Freude über den Besucher und seufzte gespielt genervt: »Sag mir nicht, dass ich eine Mauer vor dieser Tür hochziehen muss, um dich von mir fernzuhalten.«
Prinz Wexmell lehnte im Türrahmen, seine schlanken Beine überkreuzt, und lächelte. »Nein, ich wollte dich nur kurz belästigen, dann lasse ich dich in Frieden.«
Desiderius schnaubte leise: »Das wage ich zu bezweifeln.«
Der junge Prinz überging den Kommentar, er legte den Kopf schief und fragte hoffnungsvoll: »Stimmt es, dass du bleibst?«
»Ich werde bald erneut aufbrechen, fürchte ich«, erwiderte Desiderius und hob den Becher an seine Lippen.
»Aber du kommst wieder«, grinste der junge Prinz. »Mein Vater erzählte uns bereits die guten Neuigkeiten.«
»Die königliche Familie hat wohl keine Geheimnisse voreinander, hm?«, stichelte Desiderius und warf Wexmell einen strengen Blick zu.
»Du deutest meinen Bruder Karic an«, erkannte der Prinz richtig. Er runzelte besorgt die Stirn und fragte: »Bist du wütend, weil ich ihm von uns erzählt habe?«
»Ich bin jedenfalls nicht glücklich darüber«, erklärte Desiderius grob.
Gleich darauf tat es ihm leid, als er sah, wie Prinz Wexmell bekümmert den Blick zu Boden richtete.
Seufzend lenkte er ein und fügte versöhnlicher hinzu: »Ich wäre allerdings um einiges verärgerter, wenn wir beide infolgedessen vor dem Scharfrichter stehen würden.«
Der junge Prinz erwiderte das Lächeln, das Desiderius ihm zuwarf.
Nach einer kleinen Pause, gestand Wexmell mit abgewandtem Blick: »Als du einfach ohne ein Wort abgereist bist, dachte ich schon, ich würde dich nie wiedersehen.«
Desiderius senkte den Blick und betrachtete den Inhalt seines Bechers, sagte aber nichts dazu.
»Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut«, erklärte Wexmell. »Ich wollte nicht, dass wir in diesem Graben festsitzen, noch wollte ich, dass du dich verletzt.«
Zwar hatte Desiderius ihm die Schuld zugeschoben, doch mittlerweile war ihm bewusst, wie kindisch er sich verhalten hatte. Ohne ihn anzusehen, warf er ein: »Wir tragen beide daran Schuld, also vergiss es einfach.«
»Ich wollte wirklich nicht, dass du Ärger bekommst«, sprach Wexmell unbeirrt und voller Reue weiter. »Als ich sah, wie deine ganze Familie dich behandelte, wurde mir erst richtig bewusst, was du meintest, als du sagtest, dass ich dein Leben riskiere.«
»Ich bin durchaus in der Lage, mich vor meiner Familie zu verteidigen«, warf Desiderius ein und sah den jungen Prinzen verärgert an. »Also danke, aber ich komme schon zurecht.«
»Ja«, lenkte Wexmell sofort ein, »natürlich.«
»War es das dann?«, fragte Desiderius ungeduldig und gab dem jungen Prinzen das Gefühl, unerwünscht zu sein, obwohl das Gegenteil der Fall war.
Er konnte sehen, wie er dem Blonden mal wieder das Herz brach.
»Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich dir keine Schwierigkeiten mehr machen werde«, sagte der junge Prinz traurig. »Du kannst also ganz beruhigt hierbleiben, ich werde dich nicht behelligen, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
Damit wandte sich der junge Prinz sichtlich widerwillig ab und verschwand im Flur.
Getrieben von einem Drang, den er nicht benennen konnte, sprang Desiderius auf und ging mit eiligen Schritten zur offenen Tür. Er spähte aus dem Rahmen und sah gerade noch, wie Prinz Wexmell im Zugang zur Treppe, die hinaufführte, verschwand.
Ausatmend und mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust, lehnte Desiderius seinen Rücken gegen den Türrahmen und schlug den Hinterkopf gegen das harte Holz. Er schloss die Augen und flüsterte vor sich hin: »Du nervst mich nicht.«
Er hasste sich dafür, dass er es nicht offen zugeben konnte.