Читать книгу Der verborgene Erbe - Billy Remie - Страница 5

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Die Pergamentrolle in ihrer Hand knisterte, je fester sie sie umschloss. Ihr Blick gereichte über den Balkon ihrer Gemächer zum fernen Horizont. Sie war nachdenklich, in sich gekehrt, und voller Furcht, während hinter ihr in ihren privaten Räumen ihre Kinder miteinander auf dem Boden saßen und mit Rollo, ihrem Hund, spielten. Eine Amme bewachte die drei Geschöpfe.

Vor ihrem inneren Auge sah sie noch immer die geschriebenen Worte vor sich, die auf dem Zettel standen, den sie eisern umklammerte. Er war schon vor Tagen angekommen.

Flüchte so schnell du kannst mit den Kindern und unserem Ungeborenen zu den Rebellen. Ich treffe dich dort. In Liebe, C.

Cohen.

Endlich hatte er den richtigen Weg gewählt, dachte Sigha bei sich. So lange hatte sie versucht, ihn dazu zu drängen, weil sie selbst nicht mehr hier sein wollte, nachdem ihr geliebter Raaks im Krieg gefallen war. Hätte sie sich damals nicht in Raaks verliebt – dem Kronprinzen – hätte Sigha schon im Jugendalter das Gebirge verlassen, um sich den Rebellen anzuschließen. Gerne auch als Kriegerin. Doch dann hatte sie ein Kind empfangen – und alles hatte sich verändert.

Und auch jetzt, obwohl sie es sich ersehnt hatte, bekam sie Furcht davor, diesen Schritt zu wagen. Stünde nur ihre eigene Sicherheit auf dem Spiel, wäre sie schon vor Tagen aus der Burg geflohen. Es wäre ihr ein leichtes gewesen, da König Rahff noch mit schweren Wunden kämpfte und bettlägerig war. Niemand schenkte ihr große Beachtung.

Sie hätte längst fliehen können.

Doch Sigha zögerte. Denn sie musste auch an die Sicherheit ihrer Kinder denken. Sie waren noch so jung, und Sigha erwartete bereits das nächste. Natürlich wollte sie, dass Cohen sein leibliches Kind in die Arme schließen konnte, doch was für eine Mutter wäre Sigha, wenn sie ihre unschuldigen Kinder in den Krieg führte?

Denn genau das würde wohl geschehen. Die Rebellen waren Krieger, Kämpfer des Aufstandes. Vielleicht hatten Kinder und Schwangere dort nichts verloren.

Andererseits … wie viel sicherer waren sie hier auf der Burg? Die Schavellens hatten es bereits geschafft, Rahffs letzten rechtmäßigen Erben in eine Falle zu locken. Jetzt blieb dem König nicht einmal sein Bastard, denn Cohen hatte sich gegen ihn gestellt.

Warum?

Sigha hätte ihn gerne danach gefragt. Was war dort draußen geschehen? Was hatte Cohens festgefahrene Meinung geändert? Warum dieser plötzliche Sinneswandel?

Letztlich waren die einzig noch verbliebenen Erben der Linie der Youris Sighas Kinder, Marks und Ilsa. Und sie ahnte, dass das kranke Missfallen der Schavellens nun auf sie fallen würde.

Egal, was Sigha tat, ob sie floh oder hierblieb, ihre Kinder waren überall in Gefahr. Und das war das Schlimmste für eine Mutter. Sie konnte ihre Kinder nicht schützen.

Aber sie würde ihr Möglichstes tun.

Zärtlich strich sie sich über die sanfte Wölbung ihres Leibs. Obwohl sie Cohen nicht als Gatten liebte, liebte sie ihr gemeinsames Kind.

Doch wo sollte es aufwachsen? In welche Welt sollte es reingeboren werden?

In ihrer Verzweiflung hatte sie früh an jenem Morgen den Rat der Hexen aufgesucht, die tief im Wald versteckt verweilten, und den Verzweifelten die Zukunft verkündeten.

Wie befürchtet, rieten sie umgehend zur Flucht. Angeblich hätten sie genau das schon vor Monaten kommen sehen. Das Kind in Sighas Leib – sie musste es zu seinem Vater bringen. Nur so würde es überleben.

Was ihr Leben und das Leben ihrer beiden älteren Kinder betraf – die Kinder des Mannes, den sie so sehr geliebt und verloren hatte – hielten die Weissagungen keine Antworten bereit.

Aber so war das mit den Hexen, sie gaben nur preis, was sie preisgeben wollten, um die Geschehnisse der Welt nach ihren eigenen Maßstäben zu formen.

Sigha hatte das immer gewusst, trotzdem suchte sie den Rat des Zirkels, weil sie nicht wusste, wo sie sonst um Rat bitten sollte.

Bei der Kirche? Wie lächerlich das klang, in den Ohren einer Frau, die von ihrer Kirche dazu gezwungen wurde, dem Willen der Männer zu unterliegen.

Trotzdem zögerte Sigha weiterhin, denn sie sorgte sich um Marks und Ilsa, wollte nicht, dass die beiden inmitten eines Krieges heranwuchsen.

Doch fern waren die Kämpfe ohnehin nicht mehr. Sigha blickte auf den düsteren Schatten am Horizont, der sich immer weiter ausbreitete. Die Dämonen nahmen sich all das, was der Krieg bereits in Brand gesteckt hatte.

Ihr Land war dem Untergang geweiht. Und Sigha war zu verzweifelt, um eine endgültige Entscheidung zu treffen.

Jetzt schien es ohnehin zu spät.

Vor wenigen Augenblicken hatte Sigha über das Geschwätz der jungen Amme erfahren, dass König Rahff wohlauf war und seine Gemächer verlassen hatte, um sein Amt walten zu lassen. Der König war nicht leicht zu töten, und jetzt wieder genesen genug, um seine Untertanen zu bewachen.

Dazu zählten auch Sigha und ihre Kinder.

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, stieß jemand die Türen zu ihren Gemächern auf, sodass die Kinder mit einem leisen Aufschrei aufsprangen und zurückwichen.

Sigha drehte sich um, sie raffte die Röcke ihres grünen Seidenkleides, das ihrer dunklen Haarmähne schmeichelte – die sie bei Hof hochgesteckt tragen musste – und eilte vom Balkon ins Innere ihrer Räumlichkeiten.

»Was soll das?«, fragte sie barsch.

König Rahffs düstere Miene schlug ihr augenblicklich entgegen. Er war in den Raum gestampft und stand nun groß und imposant vor ihr, hinter ihm die königliche Leibgarde, stumme Männer mit reglosen Mienen, wie teilnahmslose Statuen.

»Nimm die Kinder und geh mit ihnen spazieren, Frida!«, trug er der Amme auf, ohne den starren Blick von Sighas trotziger Miene zu nehmen.

»Ja, Eure Hoheit. Sofort, Eure Hoheit.« Die eingeschüchterte junge Frau legte die Stickerei fort, an der sie gearbeitet hatte, und ging auf die Kinder zu.

Sigha wollte sich ihr in den Weg stellen, als die Leibgarde des Königs plötzlich vorschoss und sie ohne eine Waffe zu heben allein durch seine Körpersprache bedrohte.

Wütend – trotz ansteigender Nervosität – warf Sigha einen Blick ins Rahffs Miene.

Der König sah blass aus, sehr kränklich. Sein Kopf war mit einem nässenden Verband umwickelt, der die eine Hälfte seines Gesichts verbarg. Sigha hatte Geschichten über die tiefe Wunde des Königs gehört, sie jedoch nie selbst gesehen. Neugierig war sie schon, wie das Gesicht unter dem Verband nun aussah.

»Mami?«, quiekte Ilsa ängstlich.

Sigha zwang sich, ihrer Tochter zuzulächeln, die sich dagegen sträubte, aus dem Raum gebracht zu werden. »Schon gut, Schatz. Geh mit Frida. Ich komm sofort nach.«

Die kleine Maus schien skeptisch. Sigha nickte ihrem Sohn zu, der seine Schwester an die Hand nahm und sie mit sich zog, dabei beruhigend auf sie einredete.

Rahff sah ihnen nach und sagte nachdenklich: »Er ist ein tapferer kleiner Bursche. Klug. Stark. Beschützt schon jetzt seine Schwester.«

»Er kommt nach mir.« Es bereitete Sigha Freude, den König zu reizen, indem sie ihren Kindern nur Eigenschaften ihrer eigenen, unbedeutenden Bauersfamilie zusprach, statt zuzulassen, dass Rahff behauptete, Marks könnte nach seinen Vorfahren kommen.

König Rahff ging nicht darauf ein. Er sah Sigha an, doch seine harschen Worte richteten sich an seine Männer: »Lasst uns allein!«

Ohne das geringste Zögern wurde der gebellte Befehl befolgt. Doch Sigha war sich sicher, dass sie vor der Tür ihre Position bezogen.

»Ein einfaches Bitten darum, mit mir zu sprechen, hätte vollkommen genügt!«, sagte sie, nachdem sie alleine waren. Sie hasste die zur Schaustellung von Macht, wie Rahff sie gerade präsentiert hatte.

Sie wandte ihm den Rücken zu und trat an eine Kommode, um sich stark verdünnten Wein einzuschenken. »Sollen meine Kinder denken, sie müssten fürchten, Ihr könntet mir etwas antun?«

»Der Feind steht fast vor unseren Toren, deine Kinder werden sich demnächst noch vor sehr viel mehr fürchten, sie sollten sich also daran gewöhnen, in Angst um dein Leben zu leben«, konterte Rahff. Seine Stimme klang kratzig, rau, als hätte er eine Erkältung. Sein Körper war noch schwach, wie Sigha feststellte.

Mit einem sardonischen Grinsen nahm sie einen Schluck aus ihrem Kelch, wohlwissend, dass er es nicht sah. Es erfüllte sie mit Freude, den Mann leiden zu sehen, der nicht gestattet hatte, dass sie und Raaks sich vermählten.

Der König ging steifen Schrittes zu einer rotgepolsterten Liege und nahm Platz.

»Cohen wird nicht zurückkommen.«

Sigha stellte den Weinkelch ab und drehte sich zu ihm um. »Ich weiß.«

Sie hatte ihn ja gewarnt.

»Du hattest Recht«, gestand der König ein und blickte zu ihr auf. »Cohen ist ein Verräter der Krone, bald wird es das ganze Land wissen. Und das bringt mich zu meinem Anliegen.«

Sigha beschlich ein äußerst unbehagliches Gefühl, das in der Magengrube begann und sich über ihre Brust hinweg ausbreitete.

»Ich will dich auch gar nicht lange aufhalten«, Rahff stemmte die Hände auf die strammen Schenkel und hievte sich hoch, »deshalb komme ich gleich zum wesentlichen Grund meines Besuchs.«

Sigha sah ihm stumm entgegen, nicht willens, das Geschehen zu akzeptieren.

»Du kennst die Gesetze, Sigha«, sagte der König gefühlskalt, »die Familie eines Verräters ereilt dieselbe Strafe wie ihn.«

»Ihr wollt mich hinrichten?« Sigha machte drei lange Schritte auf ihn zu, das schmale Kinn trotzig emporgehoben. »Und meine Kinder? Wozu? Cohens Verrat kann ihm erst dann angehängt werden, wenn es Beweise dafür gibt. Doch Cohen ist und bleibt verschollen. Alles, was wir haben, ist Eure Geschichte-«

»Ich bin dein verfluchter König!«, brüllte Rahff so laut und erbost, dass es Sigha fast von den Füßen fegte. Mit großen Augen taumelte sie einen Schritt zurück, unwillkürlich fasste sie sich an den leicht gewölbten Leib, als wollte sie das Kind darin beschützen.

Rahff war kein unbeherrschter Mann, und so wütend hatte sie ihn noch nie aus der Haut fahren sehen.

Tiefdurchatmend kniff sich Rahff ins Nasenbein und suchte nach Beherrschung.

»Die Kirche drängt, dich und deine Kinder im Kerker einzusperren. Sie sehen noch eine Notwendigkeit in euren Leben, sei es nur, um Cohen herzulocken«, erklärte Rahff schließlich etwas ruhiger.

Sigha atmete laut aus und rieb sich die enge Kehle. Angst schnürte ihr die Luft ab.

Wäre sie doch nur geflohen!

»Aber ich sagte, nein.«

Überrascht blickte sie auf, direkt in Rahffs Augen.

»Ich erkläre es dir jetzt nur einmal, also hör mir genau zu«, sagte er drohend und macht einige Schritte auf sie zu, bis sie gegen die Kommode mit dem Wein darauf stieß und ihm nicht mehr entwischen konnte. »Da Cohen ein Verräter ist, habe ich keinen Erben mehr, dem ich die Krone überlassen könnte, da deine Kinder als Verräter gelten. Die Schavellens lecken sich bereits die Finger nach dem Thron, sie können mein Ableben kaum erwarten. Und ich nehme doch stark an, dass du ebenso wenig wie ich möchtest, dass eines Tages Cocoun mit seinem dürren Arsch auf dem Thron Nohvas sitzt.«

Niemand könnte das tatsächlich wollen, Cocoun war ein verwöhnter Bengel, der sadistischen Spaß an Folter und Morden hatte.

»Du bist die einzige Frau, die mir Enkel geschenkt hat«, fuhr Rahff leise fort, »Marks ist der letzte Erbe meiner Blutlinie.«

Sigha begann allmählich zu verstehen …

»Mir und dir bleibt jetzt nichts Anderes übrig. Du willst deine Kinder beschützen, und ich das Fortbestehen meiner Blutlinie. Du wirst meine Frau, Sigha. Damit ich Marks zum Erben ernennen kann, oder Cohens ungeborenes Kind, sollte es ein Junge sein, oder um …«

Rahff brachte den Satz zwar nicht zu Ende, doch seine Augen glitten überdeutlich an Sighas Körper hinab.

Oder um eigene Kinder mit ihr zu zeugen.

Sigha schluckte, ihr wurde schlecht. Trotzdem brachte sie einen trotzigen Blick zustande, angewidert lehnte sie sich vor ihm zurück. »Nur über meine Leiche!«

»Willst du lieber mit Ilsa und Marks im Kerker sitzen?«, fragte Rahff. »Denk doch mal nach, ich hielt dich eigentlich für klüger, du kleine, aufmüpfige Ziege. Du könntest die Mutter des neuen Herrschers sein. Ihn beeinflussen.«

So wie er gerade versuchte, sie zu beeinflussen?

So ein Mensch war sie nicht.

»Und alles, was ich dafür tun muss, ist die Beine für Euch breit zu machen, sobald das Kind eures Sohnes geboren wurde«, konterte sie hasserfüllt.

Rahff lächelte kalt, er legte seine große Hand über ihren Bauch und drückte sanft die Rundung. »Noch bevor es geboren wird«, korrigierte Rahff finster grinsend.

Sigha sah ihn starr an, die Farbe wich aus ihrem Gesicht.

Es klopfte an der Tür, doch das brachte den König nicht dazu, von ihr Abstand zu nehmen.

»Jetzt nicht!«, bellte er.

»Der Gesandte aus Gino ist eingetroffen, Eure Hoheit, Ihr batet darum, umgehend informiert zu werden, wenn er angekommen ist«, entschuldigte sich die Wache.

Rahff richtete sich etwas auf, er nahm die Hand von Sighas Körper, woraufhin sie die Luft aus ihren Lungen entweichen ließ.

Seltsam, sie hatte nicht bemerkt, wie sie den Atem angehalten hatte.

»Nun denn, dringende Angelegenheiten warten auf mich.« Er musterte sie noch einmal gründlich. »Wenn der nächste Vollmond am Himmel steht, findet die Vermählung statt. Es versteht sich von selbst, dass ich dich bis dorthin überwachen lasse. Deine Kinder darfst du danach wieder in die Arme schließen, versprochen.«

»Cohen ist mein Gatte, Ihr könnt mich nicht …«

»Ich bin der König«, zischte er drohend, »ich kann, meine Liebe, und ich werde. Und wenn ich jede verheiratete Frau auf dieser Welt zu meiner eigenen machen will, so werde ich es tun, weil es mein gutes Recht ist!«

Sigha schwieg verzweifelt.

»Und du tätest gut daran, deinen Trotz zu unterbinden, Liebling. Zum Wohle deiner Kinder!«, drohte er ihr.

Er drehte sich um und stampfte zur Tür. Sie blieb mit abgeschnürter Kehle bei der Kommode zurück und sackte haltlos dagegen.

»Ach und«, der König blieb noch einmal an der Tür stehen und drehte sich mit einem süffisanten Grinsen zu ihr um, »bevor du sinnlos in den Wald spazierst, um den Rat der Hexen einzuholen …«

Leichenblass sah sie ihn an.

Woher wusste er …?

»… ich habe die dreckigen Ketzerinnen von meinen Rittern in den Kerker sperren lassen, falls du sie aufsuchen willst.«

Rahffs Soldaten hatte sie am Morgen verfolgt! Anders konnte es nicht sein. Sie fühlte sich schuldig, weil sie Rahffs Männer direkt zum Zirkel geführt hatte.

»Ich werde dir am Morgen der Vermählung Bedienstete schicken, die dich … hermachen. Bis dahin ist es dir nicht gestattet, dein Zimmer ohne Bewacher zu verlassen«, erklärte er ihr, riss die Tür auf und knallte sie hinter sich wieder zu, sodass Sighas ganzes Mobiliar wackelte.

Fassungslos atmete Sigha aus, mit schwankenden Schritten stolperte sie durchs Zimmer, bis sie sich an ihren Frisiertisch auf den Stuhl fallen lassen konnte.

Seltsamerweise erinnerte sie sich ausgerechnet in jenem Moment an ihre erste gemeinsame Nacht mit Raaks. Sie hatten sich heimlich im Mondschein getroffen, oben auf der Anhöhe im Wald, mit Blick über die Schwarzfelsburg. Es war kühl gewesen, aber Raaks hatte sie in Decken gehüllt, und sie mit seinem warmen Körper vor der Auskühlung bewahrt. Sie spürte noch seine zärtlichen Berührungen, seine sanften Küsse auf ihrem Hals, ihrem schmalen Kinn und ihren weichen Lippen, schmeckte noch seine Zunge, roch noch seinen Atem. Damals hätte sie nie für möglich gehalten, dass sie einmal gezwungen werden würde, seinen Vater zu heiraten; noch während sie das Kind seines Halbbruders im Leib trug.

Das Leben einer Frau unter dem Banner der Kirche war eine wahrlich große Bürde.

Rahff war nicht mehr derselbe, seit Cohens Verrat, stellte sie ängstlich fest. Eigentlich war Rahff nie durch und durch grausam gewesen. Gelegentlich kalt berechnend, aber nie derart unbeherrscht. Oder gar ein Mann, der eine Frau zwang, ihn zu heiraten. Das hatte er nie nötig gehabt.

Zeiten veränderten Menschen. Und zum Teil konnte sie Rahffs Wut und Verzweiflung sogar verstehen. Wie würde sie sich wohl fühlen, würde eines ihrer Kinder sich gegen sie stellen, um gegen sie anzukämpfen.

Rahffs Lieblingssohn war sein Feind geworden. Etwas Schlimmeres hätte ihm nicht passieren können. Und Sigha musste es nun ausbaden.

Wütend war sie deshalb nicht auf Cohen. Sie wünschte nur, sie wäre früher geflohen. Oder hätte die Möglichkeit, ihm eine Nachricht zu schicken …

Da kam ihr plötzlich eine Idee.

Eilig suchte sie sich Feder, Tinte und ein Stück Pergament zusammen. Sie schrieb hastig einen Brief, und pustete die Tinte trocken. Dann stand sie auf und eilte auf den Hof hinaus.

Zwar wurde sie auf dem Fuße verfolgt, sobald sie aus dem Zimmer trat, doch das machte überhaupt nichts.

Da sie nicht wusste, wo Cohen sich gerade befand, und die verzauberte Taube, die er zu ihr geschickt hatte, sofort wieder davongeflogen war, gab es nur einen Weg, Cohen zu erreichen: Galia.

Die Stute war seit Cohens Verschwinden unruhig. Der Stallmeister fluchte stets über sie. Sigha besuchte sie jeden Tag, brachte ihr trockenes Brot mit, weshalb ihr Gang zu den königlichen Ställen nicht ungewöhnlich war.

Sie ging zu Galia rein und strich dem Pferd über den Hals. Es wirkte, als würde sie Galia streicheln, doch im Verborgenen flocht sie in die dicke Mähne des Pferdes das Pergament.

Als sie fertig damit war, kraulte sie Galia hinter dem Ohr und flüsterte ihr zu: »Ich weiß, du kannst spüren, wo er ist. Bitte, ich hoffe, du verstehst mich, du musst zu ihm gelangen, mein Mädchen. Finde Cohen!«

Doch als Begleittier eines Jägers, war das Auffinden gar nicht nötig, Galia spürte, wo ihr Herr war, sie würde es immer spüren.

In einem unbeobachteten Moment, öffnete Sigha die Stalltür. Noch bevor sie gänzlich offen war, preschte Galia wild bockend hervor und galoppierte durch die Gasse nach draußen.

Stallburschen rannten ihr rufend nach, doch niemand konnte sie aufhalten, nicht einmal die Wachen beim Tor, die ihr erst in den Weg sprangen, und sich dann doch zur Seite warfen, als das wilde Tier keinen Halt machen wollte.

Sigha war umgeworfen worden. Ihr Bewacher hielt alles für einen Unfall. Er kam auf sie zu und zog sie auf die Beine. »Alles in Ordnung, Lady Sigha?«

»Ja.« Sie klopfte sich den Staub von den Röcken und lächelte verstohlen. »Ja, jetzt ist alles in Ordnung.«

***

Als er durch die Flure seiner Burg ging, waren Rahffs Schritte noch immer schwach und schlurfend. Er mahlte verbissen mit den Kiefern, weil er seine eigene körperliche Schwäche verabscheute.

Zu lange hatte er im Bett verbracht, zu viel Zeit mit seiner Genesung vergeudet, und obwohl die Heiler ihn weiterhin ans Bett fesseln wollten, war er aufgestanden, um sein Amt walten zu lassen.

Er war der König, verflucht noch mal! Ohne ihn ging das Land unter, er konnte sich den Luxus nicht erlauben, seine Wunden abheilen zu lassen.

Nun war er auf dem Weg zu einer wichtigen Verhandlung und wünschte sich, seine Beine würden sich nicht anfühlen wie Blätter im Wind. Schwach und leicht umzuknicken. Oder, dass sein Körper zumindest in der Lage wäre, aufrecht zu stehen, denn er wollte nicht, dass der Gesandte aus Gino die Botschaft zu seinem Lord brachte, dass der König schwach und angreifbar war. Er wollte sich die Folgen daraus gar nicht ausmalen.

Doch als er durch den Doppeltürbogen schritt und den Mann am Fenster erblickte, der hinaussah und mit dem Rücken zu ihm stand, waren all seine Gedanken dahin.

Ihn hätte er hier nicht erwartet.

»Welch eine Ehre, Euch persönlich anzutreffen.« Rahff hatte schnell seine Fassung zurückerlangt. Trotz Schwindelgefühl im Kopf und Schmerzen in seinem pochenden Gesicht, drückte er den Rücken durch und straffte stolz seine muskulösen Schultern. Er trat ein und ließ durch ein knappes Nicken die Türen von seiner Leibgarde schließen.

Seine feinen Fingernägel begutachtend, drehte sich der andere Mann gelangweilt zu ihm um. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und beleuchtete die linke Hälfte seines dunkelhäutigen Gesichts, sein dunkles Haar reichte ihm über die Stirn bis kurz über die mandelförmigen Augen, die sich recht überheblich an Rahff wandten. »Die Ehre sollte wohl auf meiner Seite vorherrschen, nicht wahr, mein König?« Der Gesandte verneigte sich voller Anmut, doch Rahff konnte den Spott, der von der vermeidlich unterwürfigen Geste ausging, beinahe in der Luft im Raum schmecken.

Er schnaubte verachtend, konnte sich aber eilig wieder zusammennehmen und Haltung wahren. Während er hinter seinen Arbeitstisch trat, bedeutete er seinem Gast, sich davor in den Stuhl zu setzen. Wenn Rahff in seiner Zeit als König eines gelernt hatte, dann war es, seine Launen und Gedanken Beiseite zu schieben. Es brachte ihn nicht weiter, sich von Gefühlen, ob guten oder schlechten, leiten zu lassen. In Zeiten des Konflikts konnte er sich Hass nicht erlauben, es sei denn, ihm wäre sein Volk egal. Und auch wenn die Gerüchte anderes behaupteten, Rahff war sein Volk nie gleichgültig gewesen. Er liebte Nohva, er wollte das Beste für Nohva.

Deshalb war es an der Zeit, umzudenken. Und da er Schavellen nie dazu bringen konnte, den Krieg mit den Rebellen beizulegen, musste er sich nach anderen Verbündeten umsehen.

Ein Bündnis war unabdingbar, es war notwendig in dieser Zeit, denn jetzt stand ein alter Feind wieder auf dem Spielbrett und – die Götter mögen ihn bewahren – dieses Mal war M`Shier zur Festung gelangt, und da Clivia keine Meldung über dessen Tod geschickt hatte, konnte Rahff davon ausgehen, dass sein Erzfeind eine mächtige Armee befreit hatte.

Und dies war erst der Anfang.

Rahffs Gast setzte sich und überschlug vornehm die langen Beine. Er war ein großer, schlanker Mann, ganz offensichtlich ein Politiker, kein Krieger. Sein Blick war kühl, ein wenig überheblich, aber nicht herablassend. Geduldig wartete er ab, was der König im zu sagen hatte, ohne ungeduldig zu schnauben, während Rahff ihn eingehend betrachtete. Der Mann strich sich über Brust und Bauch und glättete dabei die beigefarbene Seide, die hauteng an seinem Körper lag. Wäre er nur etwas kleiner, seine Haut heller und seine Augen rund und groß, hätte er Rahff mit seiner Haltung und seinem Blick an Sevkin erinnert.

Als die Erinnerung an seinen jüngsten Sohn wie ein Gespenst durch seinen Kopf spukte, verspürte Rahff einen todeskalten Stich im Herzen.

Nicht nur, dass er um ihn trauerte, wäre Sevkin nicht gehängt worden, hätte Rahff auch Cohen nicht verloren. Dessen war er sich sicher.

Er räusperte sich und zwang sich, den Kopf aufrecht zu halten, weil er vor seinem Gast niemals geknickt wirken wollte.

»Nun denn«, begann Rahff ruhig und gelassen, als litte er keine unerträglichen Schmerzen, körperlich und im Geiste. »Ich nehme an, Euer Vater reiste nicht mit Euch, Si`haas?«

Si`haas lächelte Rahff an. »Vergebung, nein.«

Rahff lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nun, ich nehme an, der Lord von Gino hat viel zu tun, das kann ich verstehen und verzeihen. Ich rechnete ohnehin mit einem Gesandten, aber da er mir seinen einzigen Sohn schickt, vermute ich, dass er die Hand der Freundschaft annehmen möchte, die ich versucht bin, ihm zu reichen.«

Wieder umspielte ein leichtes Lächeln die Lippen des anderen Mannes. »Um ehrlich zu sein, mein König, sagte mein Vater auf Euer Drängen nach einer Verhandlung hin, er würde Euch nur dann anhören, wenn er Euch hinterher den Kopf abschlagen und Euren falschen Göttern zum Fraß vorwerfen kann.«

Rahff hatte mit nichts anderem gerechnet. Dennoch machte ihn die Antwort wütend, er rieb sich gereizt das bandagierte Kinn, seine Wunde pochte. »Was wollt Ihr dann hier?«

Si`haas lächelte erneut, dieses Mal wirkte er listig. »Mein Vater weiß nichts davon, dass ich jetzt hier bin, er wollte Euch die Antwort schuldig bleiben. Aber ich denke, ein Gespräch hat noch niemanden geschadet, mein König.« Er neigte ergebend das Haupt. »Unter dem Schatten des Krieges leben nicht nur grausame Männer. Lasst uns reden und sehen, was wir für unsere Völker tun können.«

»Und Euer Vater?«

»Warten wir ab, ob uns das gefällt, was wir uns zu sagen haben, erst dann machen wir uns Gedanken über meinen Vater«, lächelte Si`haas mit einem gerissenen Funkeln in den Augen.

Rahff rang es doch tatsächlich ein leichtes Lächeln ab, das beinahe entspannt wirkte. Seufzend stand er auf, obwohl seine Beine müde waren, und ging hinüber zu einem Beistelltisch, auf dem Wein und ungefüllte Becher warteten.

»Wir scheinen immerhin dieselbe Sprache zu sprechen«, bemerkte Rahff in vielerlei Sinne und füllte zwei Becher mit Wein, die er zum Tisch mitnahm und einen davon seinem dankbaren Gast reichte. »Wein, um die Kehle zu befeuchten.«

»Und um unsere Zungen zu lockern«, bemerkte Si`haas belustigt, ohne jede Spur von Argwohn. Sie prosteten sich zu, Si`haas wartete ab, bis Rahff einen Schluck nahm, erst dann traute er sich, ebenfalls vom Wein zu kosten.

»Gewiss nicht so vollmündig wie Eure Weine«, entschuldigte sich Rahff, »aber sicherlich nicht vergiftet.«

»Vorsicht ist der Nachsicht stets vorzuziehen«, prostete Si`haas und nahm noch einen Schluck. Der Wein schien ihm zu schmecken. »Trocken. Das mag ich. Unsere Weine sind mehr süß, sehr lieblich. Auf Dauer bekommt dies meinem Magen nicht.«

Rahff rang sich ein Lächeln ab. Obwohl er wusste, dass Plaudereien zu solchen Spielchen dazu gehörten, war er an jenem Tag gewiss nicht in der Lage, sich mit Belanglosem aufzuhalten. Er schwankte bereits wieder, die Heilkräuter machten ihn müde, das Räucherkraut gegen seine Schmerzen ließ allmählich nach, sein Körper verlangte nach Ruhe und Schlaf. Aber er hatte noch mehr zu erledigen, als dieses Gespräch, bevor er sich den Gang zurück zu seinen Gemächern erlauben konnte, wo ihn wieder die Alpträume von Drachen und verräterischen Söhnen heimsuchten.

Dabei empfand er gegenüber Cohen keinerlei Hass. Er fürchtete sich mehr als alles andere davor, das Cohen sterben könnte. Und jetzt war Rahff nicht mehr in der Lage, ihn zu schützen.

Hingegen hatte Rahff, seit der Begegnung in Osten mit M`Shier, für diesen alten Feind tiefe Hassgefühle übrig. Zuvor hatte er M`Shier bis zu einem gewissen Grad immer respektiert, obwohl sie Feinde waren. Rahff hatte ihn ein wenig bewundert, aber auch ein wenig gefürchtet, wie jeder kluge Mann seine Feinde bewunderte und fürchtete, wenn sie Respekt verdienten. Aber gehasst hatte Rahff M`Shier nie. Niemals. Er hatte sogar immer ein gewisses Maß an Mitleid für ihn empfunden, weil er den Schmerz nachvollziehen konnte. M`Shier hatte König und Heimat verloren, er hatte letztlich alles verloren. Rahff hatte mit ihm gefühlt. Bis zu jenem Tag, als M`Shier ihm seinen Sohn genommen hatte. Seinen einzig verbliebenen Sohn. Seinen Cohen, den er mit Stolz heranwachsen gesehen hatte. M`Shier hatte Rahff seinen kleinen Cohen gestohlen. Und noch mehr, er hatte ihn entweiht. Ihn zu seinem Eigen gemacht. Rahff befürchtete für Cohen, dass es M`Shier nur um Rache und um sonst nichts ging.

Aber so sehr Rahff Cohen auch liebte, es war zu spät für seinen Sohn. Cohen hatte seinen Weg gewählt, Rahff war von jetzt an nicht mehr in der Lage, etwas daran zu ändern. Cohen war erwachsen, er musste die Konsequenzen seiner Entscheidungen tragen, Rahff konnte ihn nicht beschützen. Nun waren sie Feinde, und das Wissen darum zerriss ihn innerlich, und fachte das Feuer seiner Wut auf M`Shier noch weiter an.

Doch es stand schlecht um Rahffs Truppen, nachdem viele seiner Anhänger nach dem Anblick des Blutdrachen Fahnenflüchtig geworden waren. Was ihn schließlich zurück zu seinem Gast und seinem Anliegen brachte.

»Reden wir nicht lange drumherum«, seufzte Rahff müde, »oder tun so, als wüssten wir nicht beide ganz genau, worum es geht. Wir sind im Krieg, aber keiner von uns kann sich weitere Schlachten leisten. Noch vor dem Winter war es meinen Truppen gelungen, die Versorgungswege Eurer Truppen abzuschneiden. Hunger und Kälte hat Eure Armee aus den Wäldern zurück in Eure Ländereien getrieben. Schavellens Truppen gelang ein Vorstoß bis zu einer Eurer Tempelanlagen.«

»Die Ihr geplündert habt«, bemerkte Si`haas. Jedoch wirkte er keineswegs empört oder gar verstimmt deswegen. Er blinzelte lediglich gelassen.

»Kriegsverbrechen bleiben nicht aus«, tat Rahff die Sache ab. »Lord Schavellen benötigte Ressourcen, um die Grenzen zu sichern.«

»Im Tempel war nur leider nichts zu holen.«

»Er fand Gold.«

»Gold, das ihm nicht zusteht«, sagte Si`haas, nun doch wütend geworden. Gold schien ihm wichtig. »Gold, das uns gehört. Meinem Vater, und eines Tages mir. Gold, das wir versprachen, Euch für einen guten Preis zu verkaufen. Wir hätten dieses Handelsabkommen wahrlich gut gebrauchen können, Eure Hoheit. Die Ernten fallen jährlich schlechter aus, schon vor dem Krieg. Jeder kommende Sommer wird heißer, trockener. Keine Saat will mehr sprießen. Wir hätten gut und gerne einen Sack Getreide gegen einen Karren Goldbarren eingetauscht. Wir wollten nicht einmal Silber. Aber Schavellen wollte nicht für das Gold bezahlen, das seiner Meinung nach Euren Göttern allein zusteht.«

»Es war schon immer Brauch, den Göttern mit goldenen Opfergaben zu huldigen. Wer auf Gold verzichtet, um es den Göttern zu geben, wird mit Macht und Reichtum belohnt.«

So jedenfalls laut der Kirche. Rahff war sehr wohl bewusst, dass Schavellen das erbeutete Gold ausschließlich in die eigene Tasche stecken wollte. Der Umbau des Palasts sollte damit finanziert werden. Schavellen hatte schon mit Händlern in Elkanasai Kontakt aufgenommen. Besagte Umbauten hatten auch dafür gesorgt, dass der verborgene Raum und das Portal entdeckt worden waren. Die Habgier eines einzigen Mannes, hatte dafür gesorgt, dass Rahffs Königreich auf schwachen Pfeilern stand. Denn ohne das Portal, wäre M`Shier niemals zurückgekommen.

»Alles in unserer Welt gehört nun mal den Göttern, Si´haas, Schavellen empfand es empörend, dass ihr für das Gold einen Preis erhebt«, versuchte Rahff, es zu erklären.

»Gold, das von unseren Arbeiten abgeschürft wird. Gold, unter unseren Boden, in unseren Bergen, abgetragen von unseren Minenarbeitern, die ihr Leben riskieren. Dieses Gold steht nur Euren Göttern zu, an die mein Volk nicht einmal glaubt? Könnt Ihr nicht verstehen, weshalb wir mit Wut und Gewalt auf diese Ungerechtigkeit antworteten?«

»Euch geht es also um Gold«, tat Rahff die Frage ab. Er musste sich zwingen, sich nicht genervt die schmerzende Stirn zu reiben. Sein Schädel fühlte sich an, als pumpte jemand ohne Unterlass heiße Luft hinein. In seinen Ohren dröhnte es, als sei er mehrere tausend Fuß tief getaucht. Sein Kopf schien platzen zu wollen, er hatte keine Geduld für derartige Gespräche, aber er konnte es nicht vertagen.

»Mir geht es um Gold«, gab Si´haas glücklicherweise gelassen zu. Doch er runzelte ernstlich besorgt seine ansonsten glatte Stirn. »Aber meinem Vater geht es um seine Religion.«

Stöhnend vergrub Rahff nun doch das Gesicht in den Händen, seine Fingerspitzen fuhren in sein dunkles Haar. »Als gäbe es nicht schon genug Männer, die wegen ihres Glaubens in den Krieg ziehen.«

Si´haas lächelte, als Rahff ihn wieder ansah. »Es überrascht mich nicht, das von Euch zu hören. Trotz aller Gerüchte.«

Rahff zog die Augenbrauen hoch.

»Seht Ihr, es heißt, Ihr seid ein frommer König, aber ich habe Euch schon vor langer Zeit durschaut, König Rahff. Ihr tut nur, was Ihr tun müsst, damit die Krone weiterhin auf Eurem Kopf liegt, nicht wahr?« Rahff hob an, um ihn streng zurechtzuweisen, doch Si`haas hob beschwichtigend eine Hand. »Es sollte ein Kompliment werden, beruhigt Euch. Ganz genau wie ich, wisst Ihr eben einfach, was zu tun ist, um zu bekommen, was Ihr wollt – oder es zu behalten. Aber mal ganz unter uns, Schavellen ging es nie um die Götter. Er mag sich als frommer Mann ausgeben und eng mit Eurer Kirche zusammenarbeiten, doch wie so viele andere auch, nutzt er den Glauben lediglich, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Um die Götter geht es ihm überhaupt nicht. Er denkt nur an Reichtum und Macht, und beides wird ihm von der Kirche verliehen. Deshalb bin ich heute wohl auch hier, nicht wahr? Die Gerüchte drangen bereits bis zu uns durch, Euch laufen die Leute davon. Ihr habt uns aus den Tiefen Wäldern verdrängen können, jedoch berichteten uns unsere Späher, dass die Rebellen den Toten Wald einnahmen. Und sie setzten Dargard immer mehr zu. Ihr habt Recht, wir können uns beide keinen Krieg mehr erlauben, jedoch scheint niemand bereit, die Waffen niederzulegen.«

Rahff betrachtete Si`haas ärgerlich. »Weshalb seid Ihr eigentlich hier? Ihr redet und redet, doch es kommt nichts dabei herum. Warum hört Ihr mich an, wenn Euer Vater nicht dazu bereit war, an den Verhandlungstisch zu kommen?«

»Warum seid nur Ihr hier, und keiner Eurer Verbündeten?«, konterte Si`haas. Sein wissendes, arrogantes Lächeln ließ Rahffs Wut heißkochen. »Ich bin hier, weil ich mit den Entscheidungen meines Vaters nicht einverstanden bin. Aber ich bin nicht bereit, klein bei zu geben, wenn es um unser Gold geht. Es ist unser gutes Recht, für die gefährliche Abschürfung und die Ware an sich einen Preis zu verlangen.«

»Ich bin Euer König!«

»Da habt Ihr recht«, lenkte Si`haas ein. »Und als unser König ist es Euer gutes Recht, Euch zu nehmen, was Euch zusteht. Doch das hab Ihr nie getan. Ihr habt Schavellen freie Hand gelassen, an unserem Gold wart Ihr jedoch nie interessiert. Ich bin nicht dumm, ich weiß, was Ihr erwartet – und weshalb die Kirche bei den Verhandlungen außen vorgelassen wird: Eure Herrschaft wurde auf dem Rücken der Kirche erbaut, wenn Ihr Euch gegen sie stellt, schmeißt sie Euch einfach ab.«

Rahff musste gestehen, dass er die Klugheit des anderen Mannes bewunderte. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte lächelnd die Fingerspitzen aneinander. »Es ist doch so, Si`haas. Im Grunde ist das, was unsere Götter predigen, genau das gleiche, was Euch Euer Gott predigt.«

Si`haas schüttelte belustigt den Kopf. »Tun wir doch nicht so, als würden uns unsere Götter interessieren. Ich bin nicht gläubig. Seid Ihr es? Ich denke nicht.«

»Nichtsdestotrotz sind unsere Völker gläubig, das dürfen wir nicht vergessen«, warf Rahff ein. »Und im Interesse unserer Bevölkerung, sollten wir die Gemeinsamkeiten betrachten, statt die Nichtigkeiten, die voneinander abweichen.«

»Gemeinsamkeiten?« Si`haas schnaubte amüsiert. »Ihr meint die Frauenunterdrückung, die Verfolgung und Hinrichtung aller Hexen und Magieanwender, das strickte Verbot der gleichgeschlechtlichen Liebe und die Verschmähung unserer Bastarde?« Er lächelte wieder wissend, es wirkte etwas kühler als zuvor. »Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt. Und mein Vater würde es sicher gerne hören, wäre der alte Mann nicht zu engstirnig, um zu reden. Aber so ist er nun einmal, er ist zu stur, um den Konflikt beizulegen. Glaubt mir, alles, was er will, ist kämpfen bis zum Sieg – oder bis zum Tod.«

Rahff schüttelte frustriert den Kopf. Zu gerne hätte er auf die Tischplatte geschlagen, den Stuhl an der Wand zertrümmert, gegen die Wand geboxt, bis seine Knöchel blutig waren … Aber er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Die Wut verschlimmerte seinen Schwindel, er musste sich dringend hinlegen. Doch ohne ein Bündnis, würde er nie mehr Schlaf finden.

»Deshalb wird er wohl in absehbarer Zeit abdanken, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

Hoffnungsvoll blickte Rahff wieder auf. Das gerissene Funkeln in Si`haas Gesicht schenkte ihm die Zuversicht, die er brauchte.

»Was bietet Ihr mir an, sollte ich widererwarten bald Lord von Gino werden?«

Rahff wusste genau, was der junge Mann andeutete, und er hatte nicht den Wunsch, ihn an seinem Vorhaben zu hindern.

»Behaltet Euer Gold, bis auf die Menge, die ich zuzüglich der Steuer erheben werde, und werdet dafür wieder ein Teil des Königreichs«, antwortete Rahff.

»Und unser Glaube?«

»Wir lassen Euch den Euren, und Ihr uns den unseren. In ihren Strafen und Regeln unterscheiden sich unsere Religionen ohnehin kaum. Glauben und glauben lassen. Respektieren wir einander, respektieren den Glauben des anderen und die Kultur des anderen.«

»Als Teil des Königreichs wären wir dazu verpflichtet, Euch im Kampf gegen die Rebellion zu unterstützen, richtig?«

»Das gehört zu Eurer Pflicht, gewiss. Aber bedenkt auch, dass ich ein Handelsbündnis mit dem Kaiserreich schloss, von dem auch Ihr wieder profitieren könnt.«

»Es wäre mir also gestattet, mein Gold – außer jener Menge, die Euch als König zusteht – an den Kaiser zu verkaufen, oder gegen andere Ware einzutauschen?«

»Gewiss, sofern der Handel über mich geht und die Krone einen Teil des Gewinns bekommt.«

»So wie in früheren Zeiten also«, lächelte Si`haas. »Glücklicherweise wart Ihr diesbezüglich stets ein gerechter König, jedenfalls vor dem Krieg.«

»In Zeiten des Konflikts werden die Steuern höher, damit ich in der Lage bin, die Truppen aufzurüsten, die für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen«, konterte Rahff.

»Und was geschieht mit Schavellen, sollte ich mit einem Friedensabkommen einverstanden sein?«

Vor dieser Frage hatte Rahff sich gefürchtet, doch er konnte die Antwort darauf nicht auf ein anderes Mal verschieben und Zeit schinden, denn in Si´haas Augen las er bereits, dass dieser sich nicht abweisen lassen würde.

»Nun, Lord Schavellen ist und bleibt ein starker Verbündeter.«

»Das ist eine unerfreuliche Antwort«, bemerkte Si`haas. »Ich dachte, Ihr würdet ein Bündnis mit mir vorziehen, und dafür Schavellen fallenlassen.«

»Der Tag mag kommen, da ich ihn nicht mehr brauchen werde«, warf Rahff ein. »Dann können wir dieses Gespräch noch einmal führen. Ihr habt aber mein Wort, das Schavellen nie wieder in Euere Ländereien einfallen wird.«

»Das ist keine Genugtuung.«

»Mehr kann ich zurzeit nicht bieten.« Doch Rahff glaubte, es sei genug. Si`haas schien nicht auf Krieg aus zu sein, das machte Rahff Mut. »Es werden bessere Tage kommen, wenn wir die Rebellion zerschlagen haben. Genugtuung können wir uns dann immer noch verschaffen: Aber zunächst muss der Krieg beendet werden. Unsere Völker leiden, die Menschen hungern und sterben auf beiden Seiten. Unzählige Männer, deren Namen und Schicksale wir nicht einmal kennen, fallen für uns auf den Schlachtfeldern, weil Edelmänner wie wir wütend aufeinander sind. Es wurde genug Blut vergossen.«

Si`haas lehnte sich zurück und starrte mit geschürzten Lippen in seinen Weinbecher, den er langsam drehte. Er wirkte tatsächlich so, als würde er darüber nachgrübeln.

Lange nachgrübeln.

»Nun denn«, Si`haas stellte den Becher halbgeleert auf dem Tisch ab und erhob sich plötzlich, »da ist eine Menge, worüber ich jetzt nachdenken muss.«

»Gewiss.« Auch Rahff erhob sich, langsamer jedoch, ihm tat noch alles weh. Verdammter Blutdrache! »Ich lasse Euch zu Euren Gemächern bringen. Sicher seid Ihr nach der Reise hungrig und benötigt Ruhe.«

Si`haas winkte überraschend ab. »Danke, aber ich hatte nicht vor, zu bleiben.«

Überrascht sah Rahff ihm nach.

Der junge Mann ging zur Tür, die für ihn von den Wachen geöffnet wurde, und drehte sich noch einmal erklärend zu Rahff um. »Ich kam her, um mir anzuhören, was Ihr zu sagen habt, vergebt mir, dass ich mir auch die andere Seite anhören möchte.«

»Die andere Seite?«, wiederholte Rahff irritiert. Er verstand im ersten Moment wirklich nicht, wovon Si`haas da sprach.

Er lächelte Rahff gewitzt an. »Die Völker, um die Ihr Euch so sorgt, tragen Gerüchte stets sehr weit, mein König. Haltet Ihr mich für so unwissend? Jeder im Land hat es bereits gehört, die frohe Kunde verbreitet sich rasch: Ein Erbe der Airynns offenbarte sich. Vergebt mir und nehmt es nicht persönlich, dass ich zuerst nach Osten reise, um mir anzuhören, welche Vorteile mir ein Bündnis mit dem wahren König einbringt.«

Rahff war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass sich die Gerüchte über den Erben bereits derart schnell verbreiteten. Er hatte den Fehler begangen, seinen Feind zu unterschätzen. Clivias Bastard war nicht nur ein Kind, dem er das Fürchten lehren konnte, nein, der Erbe war ein junger Mann, der offenkundig nicht abwarten konnte, dass sich die Nachricht um seine Person verbreitete.

»Ihr werdet von mir hören, Eure Hoheit«, versprach Si`haas und verbeugte sich noch einmal zum Abschied.

Rahff wartete, bis er aus der Tür war und seine Schritte im Flur langsam verklangen, dann durchzuckte Wut seinen Körper und er fegte brüllend Pergamente, Weinbecher und Schreibfederhalter vom Tisch.

Das Tintenfass zerbrach und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem rotbraunen Teppich. Er trat in den Fleck und hinterließ Fußspuren, während er aus dem Zimmer eilte, um seine Wut an jemanden auszulassen, der es verdiente.

***

Nach der Massenhinrichtung im Frühling waren die Zellen im königlichen Kerker überraschend leer. Hier und dort saß mal ein Dieb in den Zellen, der in seiner Verzweiflung heraus ein Laib Brot oder eine Handvoll Obst vom Feld eines Bauern oder vom Marktplatz geklaut hatte, um nicht zu verhungern, ansonsten waren die Zellen verlassen.

Während Rahff die tropfnassen, finsteren Gänge abging, und alle paar Schritte sein Gesicht von einer Fackel angestrahlt wurde, drängte ihm sich der Gedanke auf, dass diese ungewollten Diebe vermutlich hier drinnen ein besseres Leben genossen als in Freiheit. Hier bekamen sie immerhin Wasser und etwas Brot, und mit ihrer Hinrichtung wurde ihnen ein schnelles Ende zuteil, so entgingen sie dem Hungertod.

Andererseits redete Rahff sich ihre Umstände vielleicht auch nur schön, weil er trotz seines starken Auftretens stets ein Mann des Mitgefühls war. Er fühlte jedes Mal große Schuld, wenn er hier runterkam und einen Verurteilten erblickte, der nur das Gesetz gebrochen hatte, weil er keinen anderen Weg mehr gesehen hatte.

Viele Familienväter hatten hier schon gesessen und auf ihren Tod gewartet, nur weil sie es nicht mehr ertragen konnten, ihre Frauen und Kinder hungern zu sehen. Unter anderen Umständen hätte er einer von ihnen sein können. Wäre sein Vater damals nicht zurückgekommen, hätte sein Vater die Schwarzfelsburg nicht zurückerobert, wäre Rahff jetzt nur der Sohn irgendeiner Hure. Vielleicht hätte er seine Liebste heiraten können, zumindest das wäre ein Trost gewesen, er hätte Cohen von Anfang an ein Vater sein können.

Doch zu welchem Preis?

Rahff konnte sich nicht vorstellen, dass er es ertragen hätte, seine Familie in Armut leben zu lassen, nur weil er ein Niemand war. Ganz gewiss wäre er auch zum Verbrecher geworden, um seine Liebste und seinen Sohn ein besseres Leben zu bescheren.

Wer weiß, unter anderen Umständen hätten er und M`Shier in derselben Diebesgilde landen können und sich sogar Brüder genannt. Aber es war anders gekommen, Rahff hatte seine Liebste nicht heiraten können, doch er hatte zumindest dafür gesorgt, dass sie niemals hungern musste. Sie war immer nur seine heimliche Geliebte gewesen, dafür aber satt und gesund. Und dann war sie ihm gestohlen worden. Auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, dass sie durch das Gift im Brunnen starb, so gab es ihm jedoch Frieden, daran zu glauben, weil sich seine Wut auf etwas richten konnte. Aber selbst, wenn M`Shier der Mörder war, so hatte er es nicht vorsätzlich getan. Letztlich liefen Rahffs Gedanken immer wieder auf dasselbe hinaus: Cohen. Er hasste M`Shier ausschließlich wegen Cohen, der ihm vorsätzlich gestohlen worden war. Auf eine Weise, die Rahff nicht verstehen, geschweige denn verzeihen konnte.

Rahffs Liebste war einem Anschlag zum Opfer gefallen, sie war tot, jedoch hatte es der Anschläger nicht auf sie abgesehen, weshalb Rahff seine Wut kontrollieren konnte. Cohen hingegen lebte. Cohen war wohlauf, er wurde auch nicht gezwungen, beim Feind zu bleiben, er verriet Rahff freiwillig.

Er verriet Rahff, wegen M`Shier.

Welcher Mann würde nicht den Mann abgrundtief hassen, der ihm den Sohn gestohlen hatte, der ihm von der einzigen Frau geschenkt worden war, die er je geliebt hatte?

So sehr Rahff auch versuchte, seinem Hass nicht die Kontrolle über sein Denken und Handeln zu überlassen, er konnte sich nur bedingt beherrschen. M`Shier würde sterben, und dieses Mal nicht wegen Nohvas Krone.

Von jetzt an, war es auch für Rahff etwas Persönliches.

Doch Rahff hatte ein ernstliches Problem, denn M`Shier war der Blutdrache, und dieser stand an der Seite des wahren Königserben. Die Völker würden in Scharen zu ihnen wandern. Es musste nicht deutlich erwähnt werden, weshalb Rahffs Rache alles andere als gewiss war. Allein konnte er nicht gegen die Armee des Erben antreten und seine Rache an M`Shier nehmen. Nein, er brauchte einen Plan. Einen verdammt guten, sehr durchdachten Plan.

Rahff hatte schon einiges in die Wege geleitet, vor allem die Sicherung des Fortbestands seiner Blutlinie. Aber nicht nur, dass er seinen Enkel zum Erben ernannte, sollte Grund für seine Vermählung mit Sigha sein, nicht einmal die Hoffnung, damit Cohen herzulocken und ihn einzusperren, bis alles vorüber war und sie von vorn beginnen konnten, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil sie ihn schon immer an seine erste Liebe erinnert hatte.

Er wollte sie, war jedoch nie ein Mann gewesen, der eine Frau zur Heirat zwang. Sein Entschluss hatte mehrere Motive, doch im Herzen wusste er, worum es ihm wirklich ging. Durch Sigha konnte er auch gewisser Weise Cohen noch nahe sein. Das Kind in ihrem Leib war Cohens Nachkomme. Rahff würde in ihm immer seinen Cohen sehen, ganz gleich, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde.

Rahff bekam eine zweite Chance als Vater.

Trotzdem fühlte er sich gegenüber Sigha schuldig, auch wenn er es sich nicht erlauben konnte, es zu zeigen. Doch die Zeiten, in denen sie lebten, erforderten, dass nicht nur das Land sich veränderte, sondern auch er, der König. Er konnte sich Mitgefühl nicht mehr erlauben, nicht, wenn er M`Shier töten wollte. Er musste sich beeilen, bevor die Kräfte sich verschoben, und wenn er dafür auf Magie zurückgreifen musste, war ihm auch dieses Mittel recht.

Eigentlich war er hier heruntergekommen, um seine verzweifelte Wut an ihnen auszulassen, doch auf dem Weg zu der abgelegenen Zelle hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Sein Zorn war leider schon verflogen, als er vor die Gitterstäbe trat, dafür war er wieder in der Lage, halbwegs durchdacht vorzugehen.

Es überraschte Rahff jedoch, dass sie keine Furcht vor ihm zeigten, als er an die Zelle herantrat und in den düsteren Raum hineinblickte. Im Gegenteil, sie kicherten, als hätten sie ihn genau hier und genau zu dieser Zeit erwartet.

Ihre Arroganz ärgerte ihn.

»Seht nur, meine Schwestern, welch Hoher Besuch«, schnurrte die eine.

Die anderen drei lachten düster.

»In Anbetracht eurer Lage würde ich mich auf die Knie werfen und betteln«, knurrte Rahff die Hexen an.

Am meisten verunsicherte ihn, dass sie völlig gelassen wirkten, sie schienen keine Furcht zu empfinden. Und trotz aller Folter wirkten sie noch immer wunderschön, jung und stark, geradezu unbeugsam und unverschämt anziehend. Die schönsten Frauen, die er je gesehen hatte, gerade erst erblüht, mit Augen, die das Wissen von alten Frauen ausstrahlten.

»Betteln?«, wiederholte die Hexe mit den langen, dunklen Locken, ihre braunen Augen besaßen ein bösartiges Funkeln, das ihn schaudern ließ. »Warum sollten wir betteln? Wir kennen unser Schicksal bereits.«

»Und hier endet es nicht«, fügte die Hexe hinzu, die Rahff wegen ihrer knabenhaften Gestalt für die jüngste hielt, jedoch war ihr langes Haar schneeweiß, als wäre sie bereits hundert Jahre alt. Ihre hellblauen Augen wirkten fast durchsichtig, als sie ihn amüsiert musterte.

»Ich möchte mit euch sprechen«, begann Rahff im herrischen Ton.

»Wissen wir«, sagte die dritte. Sie wirkte im Gegensatz zu den anderen eher wie eine reife Frau, mit schönen Rundungen, einer prächtigen, haselnussbraunen Haarmähne, einem rotgeschminkten, dicken Kussmund und stechend grünen Augen. Sie betrachtete Rahff lüstern, ihre Augen zogen ihn magisch an. Er schüttelte den Kopf, als umkreisten Fliegen sein Gesicht, um sich aus dem Bann ihrer Magie zu reißen.

»Wir hören trotzdem zu«, ermahnte die vierte Hexe ihre Zirkelschwestern, sie stand auf und warf ihr langes, glattes Haar zurück, das im Schein der Fackel maisgolden leuchtete.

Mit ihrem Wort brach der magische Sog ab, der Rahff fast dazu gebracht hätte, hier und jetzt die Hose runter zu lassen, um dem ketzerischen Weib durch die Gitterstäbe zu Willen zu sein.

»Ihr seid gekommen, um uns einen Pakt anzubieten«, wusste die Hexe mit dem blonden Haar sofort, die anderen drei Weiber hielten ihre Münder, während sie hinter die Gitterstäbe trat und Rahff aufmerksam ins Auge fasste. »Wir sollen Euch die Macht verleihen, einen Blutdrachen zu töten.«

Sie wirkte völlig kalt, während sie darüber nachdachte, und ihre Zirkelschwestern stumme, nervöse Blicke austauschten.

»Ganz recht«, bestätigte Rahff langsam, er fühlte sich nicht wohl dabei, dass sie seine Gedanken bereits erraten hatte. Andererseits war es wohl auch nicht schwer, herauszufinden, was sein Herz nach den letzten Ereignissen am meisten begehrte.

»Im Gegenzug«, versprach er ihnen, »verschone ich eure Leben.«

Sie betrachtete ihn stumm, jedoch vermochte er nicht, in ihren eisernen, kalten Mienen zu lesen, was sie dachten.

»Ich lasse euch frei«, wiederholte er etwas deutlicher, als seien sie schwer von Begriff, »ihr könntet gehen, zurück in den Wald, wenn ihr möchtet. Ich werde Sorge dafür tragen, dass euch nichts geschieht.«

Lange starrte die blonde Hexe ihn an, blinzelte nicht einmal, während ihre Augen die seinen durchforsteten. Er hielt dem Blick stand, zuckte nicht zurück, senkte nicht den Kopf.

Ihre Mundwinkel hoben sich leicht, es wirkte beinahe wie ein Lächeln. »Ich sehe, ihr sprecht reinen Herzens. Es ist die Wahrheit.«

Rahffs Herz schlug schnell in der Brust, er hätte es nicht für so einfach gehalten. »Dann … können wir übereinkommen?«

Doch sie legte bedauernd den Kopf schief. »Oh, armer Rahff, so unwissend.« Sie hob die Arme und legte die Finger um die Gitterstäbe, ihr schmales Gesicht schob sich in die Lücke zweier Stäbe direkt auf sein Gesicht zu.

Er sog ungewollt ihren Duft ein, sie roch nach Lavendel.

»Er hat Euch gezeichnet«, sagte sie mit leiser, ehrfurchtgebietender Stimme und streckte die Hand nach seinem Gesicht aus.

Rahff zuckte unwillkürlich harsch zurück. Sie zog die Hand wieder ein, doch ihre Augen funkelten voller Bewunderung für die Narbe, die Rahff abgrundtief hasste.

»Ich kann die Macht noch spüren, die dem Drachenflügelschwert anhaftet«, hauchte sie, erzittert erregt dabei. »Ich schmecke die Macht, die Eurem Feind anhaftet, durch Eure Wunde. Welch süßer Geschmack. Der Blutdrache! Er ist wahrlich zurück in diese Welt gekehrt.«

Wütend über die Ehrfurcht der Hexe knurrte Rahffs: »Ich hätte Euren Blutdrachen besiegt und getötet.«

»Aber Ihr habt es nicht getan«, bemerkte sie leise lächelnd. »Und jetzt ist es zu spät. Was Ihr auch tut, Ihr könnt die Schlacht um die Krone nicht mehr abwenden. Ihr könnt kämpfen, aber selbst wenn Ihr gewinnt, bleibt Euch nur die Krone. Ihr werdet restlos alles verlieren, dass Euch Menschlichkeit verleiht. Jeden Menschen, der Euch etwas bedeutet. Jede Hoffnung.«

Rahff sah sie drohend an. »Ihr werdet sterben, wenn Ihr nicht-«

»Euer Schicksal ist besiegelt«, hauchte sie ihm überheblich zu. »Der verborgene Erbe wird sich erheben, um nach all der Zeit endlich sein Erbe zurückzufordern. Er wird den Thron besteigen, er wird die goldene Flammenkrone tragen, wie es seine Bestimmung ist.«

Rahff zischte wütend: »Ich werde den Jungen töten!«

Die Hexen kicherten düster, was ihn unsicher umherblicken ließ. Rahff war kein Mann, der sich schnell einschüchtern ließ, aber in ihren Augen und Blicken stand ein Wissen, das ihn eine Gänsehaut einbrachte.

»Was lässt Euch glauben, wir sprechend von dem Jungen?«, fragte die Hexe mit den schwarzen Haaren und den verschlagenen dunklen Augen. Die Weißhaarige kicherte, als sie Rahffs verwirrten Blick bemerkte. »Ihr werdet die Krone verlieren, wenn Ihr nicht bald die Wahrheit erkennt, falscher König«, warnte ihn die Blonde mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. »Der rechtmäßige König ist Euch nicht fremd. Und er kommt Euch Tag für Tag näher.«

Der verborgene Erbe

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