Читать книгу Der verborgene Erbe - Billy Remie - Страница 8

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Es flackerten etwa ein Dutzend weiße Kerzen im Inneren der Kapelle, als er zögerlich den nach Weihräuchern duftenden Raum betrat. Es war seltsam an diesem jahrelang verlassenen, düsteren Ort Licht zu sehen. Langsam schritt Eagle die Reihen der dunklen Bänke ab und versuchte, sich zu erinnern, wann er zuletzt hier gewesen war. Als Junge, der gerade erst Laufen gelernt hatte und sich stets aus der Aufsicht seiner Mutter gestohlen hatte, um die Welt zu erkunden. Schon immer war die Neugierde im ihm stark gewesen, stärker als jedes andere Gefühl, ihm war nichts wichtiger, als Neues zu erkunden, selbst als kleiner Fratz, der noch unsicher auf wackligen Beinen herum stakste. Er lächelte traurig bei der Erinnerung, wie die Rufe seiner Mutter durch die Festungshallen schallten, und er sich kichernd aus dem Staub gemacht hatte. Hier, unter einem dieser Bänke, hatte er sich versteckt. Eine Wache hatte ihn gefunden und wie einen jungen Wolf aufgehoben und zu seiner panisch aufgelösten Mutter zurückgebracht, um deren Hals er lachend die kleinen Arm geschlungen hatte.

Keiner von ihnen hätte damals ahnen können, dass Eagle ihr eines Tages das Leben nehmen würde.

Schwer seufzend ließ er sich in der düsteren Kapelle auf eine Bank nieder und stützte das Gesicht in die Hände. So nach vorne gebeugt war er gut vor allen Blicken verborgen, die vielleicht zur offenen Tür hineingeworfen wurden.

Nicht, dass ihn jemand zur Geisterstunde suchen würde.

Seltsam war, dass ihn sein Weg nach jedem Alptraum vom Bett ohne Umwege genau hierherführte, wo dieser Ort doch einst nur ein vergessener Raum gewesen war. Seine Mutter war nicht unbedingt gläubig gewesen, und die unter Bann stehende Bevölkerung der Festung hatte keinen freien Willen gehabt, um sich an einen möglichen Glauben zu erinnern. Ohnehin hatte kaum etwas in dieser Kapelle mit dem Glauben der menschlichen Kirche zu tun, alles hier war luzianischer Abstammung. Kein Gold, keine Opfergaben oder beigestellte Reichtümer, um den Göttern zu imponieren. Nur nackter Stein, gemeißelte Bilder im massiven Gesteinsaltar und in den Wänden, die von Göttern erzählten, die lachten, weinten, bluteten und kämpften wie Sterbliche. Weiße Kerzen, eine angelaufene Bronzeschale für geweihtes Wasser. Sie war stets leer gewesen, doch irgendjemand musste sie neu gefüllt haben. Dieser Jemand hatte wohl auch die wenigen Kerzen angezündet, den Staub von den Bänken und Fenstern gewischt, Blumenvasen aufgestellt, die Wandteppiche abgeklopft und den Boden gefegt, sodass die Kapelle für alle ruhelosen Seelen wieder einladend wirkte. Vielleicht war dies der Grund, weshalb Eagle diesen Ort aufsuchte. Vielleicht kam er auch nur hier her, weil er glaubte, hier würde niemand nach ihm suchen.

Eagle fühlte sich schuldig und konnte mit dieser Schuld nicht leben.

Er hatte seine Mutter getötet, wie könnte er je wieder ruhig schlafen?

So sehr er sich auch sagte, das Richtige getan zu haben, so viele ihn auch als Bannbrecher feierten, er fühlte sich wie ein Mörder. Immer wieder musste er sich fragen, ob es nicht einen anderen Weg gegeben hätte. Eine Lösung ohne Blutvergießen. Doch dann kam ihm wieder das Gesicht seiner Mutter in den Sinn, in jenem Moment, als sie alles unternahm, um seine Freunde zu töten. Er wusste, er hatte keine andere Möglichkeit gehabt, nicht ohne andere in Gefahr zu bringen, dennoch konnte er sich selbst nicht vergeben. Er wünschte nur, er hätte nicht auch noch das Gefühl davongetragen, seine Mutter nie wirklich gekannt zu haben. Was musste sie für ein schrecklicher Mensch gewesen sein, wenn sie, um ihr Geheimnis zu wahren, unschuldige Wanderer und Flüchtlinge ermorden ließ?

Und was sagte es über ihn aus, dass er es nicht bemerkt hatte?

»In düsteren Zeiten, kommen düstere Gedanken.«

Eagle sah auf, er fühlte sich seltsam ertappt. »Vergebung, ich wusste nicht, dass noch jemand hier ist.«

»Ich sollte um Vergebung bitten, ich wollte Euch nicht stören.« Alliqua, der Mönch, den sie in der Dorfkirche am Fluss gerettet hatten, bedeutete Eagle, sitzen zu bleiben. »Bitte, darf ich mich zu Euch setzen?«

Eagle, der halb am Aufstehen gewesen war, setzte sich wieder und nickte zustimmend. »Ich fürchte, ich bin keine gute Gesellschaft.«

»Das hier ist ein Ort der Stille und Andacht, Eure Hoheit«, Alliqua setzte sich dicht neben Eagle und faltete die Hände in seinem Schoß, »ich erwarte keine zwanglosen Plaudereien, bin jedoch ganz Ohr, falls es Euch danach verlangt.« Er lächelte Eagle derart herzerwärmend an, dass es fast väterlich wirkte, obwohl er in Eagles Alter zu sein schien. »Wenn Ihr jedoch Stille bevorzugt, versichere ich Euch, dass ich hervorragend schweigen kann.«

Eagle nickte dankbar aus Höflichkeit, jedoch hatte er den Argwohn in seinen Augen nicht vertreiben können. Er erriet nicht, weshalb der Mönch sich zu ihm setzte, wenn er Eagle nichts zu sagen hatte. Doch froh war er trotzdem um diese Zurückhaltung, da er allmählich genug davon hatte, das andere – insbesondere Desiderius – ihm sagten, was er jetzt zu tun hatte.

War er nicht der Erbe?, dachte er zynisch. War er nicht der Kronprinz, der über alle Befehle erhaben ist? Warum konnte sich Desiderius nicht auch daranhalten? Warum musste der Blutdrache Eagle immer bevormunden und tadeln, als sei er ein Kind.

Vielleicht, kam es ihm sofort in den Sinn, weil er sich wie ein Kind verhielt, das sich vor den eigenen Männern versteckte. Zumindest hatte Bellzazar es am Abend so ausgedrückt, als Eagle nach einer weiteren Diskussion mit Desiderius fluchend durch die Flure gestreift war.

Sie wollten allesamt, dass er zu seinen Männern sprach und den Zweiflern die Zweifel austrieb. Sie sagten, er könnte sich nicht darauf verlassen, dass diejenigen, die ihn lobpreisten, ihre Kameraden von ihm überzeugten. Es lag an ihm, den Männern zu beweisen, dass er wirklich ihr Prinz war, und nicht der Sohn einer Verräterin.

Die Wahrheit war, das Eagle gar nicht wusste, was er sagen sollte, doch Desiderius schien das nicht zu verstehen. Desiderius schien fest daran zu glauben, die Worte steckten in Eagle, er müsse sie nur ergreifen. Doch da täuschte er sich. Eagle wusste nichts zu sagen, und er hatte furchtbare Angst, es noch schlimmer zu machen. Derzeit gab es immerhin mehrere Hundert Männer, die an ihn glaubten. Er wollte nicht riskieren, dass diese Zahl schrumpfte, wenn er das Falsche sagte.

Das Königsamt fürchtete jedoch nicht, im Gegenteil. Es war das einzige, das ihn zurzeit aufrechterhielt. Er wollte herrschen, er hatte schon immer gewusst, dass er zu Größerem berufen war. Es steckte in ihm, in seinem Blut. Er war zum Herrschen geboren worden.

Doch solange er innerlich zerrissen war, konnte er kaum kluge Entscheidungen treffen, geschweige denn eine Rede zurechtlegen, die seine Armee von Zweifeln befreite. Eagle hegte selbst noch Zweifel daran, ob er ihre Treue verdiente. Er fühlte sich wie der Sohn einer Verräterin, fühlte sich, als habe er selbst Nohva verraten, weil er das wahre Gesicht seiner Mutter ohne seine Freunde nie selbst erkannt hätte.

Wie sollte er da mehreren Hundert Soldaten erklären, sie täuschten sich?

»Es ist schwer, die eigenen Missetaten zu vergeben«, hörte er sich plötzlich in der Stille sagen. Seine Stimme war nicht mehr als ein raues Kratzen.

Alliqua saß mit Gesicht nach vorne und geschlossenen Augen in Andacht vertieft neben ihm, doch Eagle glaubte zu spüren, dass der Mönch darauf gewartet hatte, dass Eagle zu ihm sprach. Als hätte er gewusst, dass sein Amt als Mönch vom Erben gebraucht wurde.

»Kommt Ihr deswegen jede Nacht her, Eure Hoheit?«, fragte der Mönch leise. »Erhofft Ihr Euch Vergebung von den Göttern, weil Ihr selbst nicht in der Lage seid, Euch zu vergeben?«

Eagle blickte verbissen zum Altar. »Leider sind die Götter wie immer so schweigsam wie eine undankbare Frau nach dem man bei ihr lag. Oder ist gar das Schweigen ihre Antwort? Es fühlt sich so an.«

»Fangt an, euch selbst zu vergeben, und die Götter werden euch auch vergeben«, zitierte der Mönch aus einer der heiligen Schriften.

Zynisch lächelnd sah Eagle den Mönch wieder an. »Das hilft mir nicht.«

Alliqua drehte Eagle das Gesicht zu und erklärte bedächtig: »Es bedeutet, dass wir den Göttern zeigen, dass wir selbst das Verständnis aufbringen, um Missetaten vergeben zu können. Es bedeutet, dass sie sehen wollen, dass wir zur Vergebung bereit sind. Und nur dann, wenn wir vergeben können, gestatten sie uns ihre göttliche Vergebung.«

»Und woher weiß ich, dass sie mir vergeben?«, fragte Eagle verzweifelt. »Ich brachte meine eigene Mutter um. Ist das nicht eine Todsünde?«

»Und beging Eure Mutter denn nicht auch Todsünden?«, warf der Mönch vorsichtig ein.

Eagle starrte zitternd zu Boden, Wut drohte ihn zu überwältigen. Wut auf seine Mutter, auf sich selbst, auf das verdammte Schicksal.

»Sie tötete vorsätzlich Unschuldige, um sich selbst zu schützen«, erinnerte Alliqua, woraufhin Eagle gequält die Augen schloss, »sie verriet König und Land für eine Festung und Wohlstand, sie nutzte ihre magischen Fähigkeiten, um eine ganze Armee in die Leibeigenschaft zu zwingen, um hunderte Männer einzusperren. Sie hielt Euch, den wahren Erben, gefangen, belog Euch.«

»Um mich zu beschützen«, konterte Eagle, in dem schwachen Versuch, seine Mutter zu verteidigen.

»Sie wollte Eure Freunde töten«, sagte der Mönch mit einem mitfühlenden Zucken seiner Mundwinkel, »und sie hätte es auch getan, hättet Ihr sie nicht aufgehalten.«

Ernüchtert ließ Eagle den Kopf hängen. Das Gespräch brachte ihn nicht weiter. Er drehte sich nur um Kreis, seine Gefühle blieben zwiegespalten. Was der Mönch zu ihm sagte, redete er sich selbst immer wieder ein, doch diese Worte brachten ihm keinen Trost.

Die Schuld blieb.

Alliqua betrachtete Eagle mit einem gerührten Gesicht. »Ein Sohn wird seine Mutter stets lieben und ehren. Die Bindung zwischen der Mutter und dem Sohn ist eine ganz besondere. Doch für Euch wird sie zum Fluch. Ihr wisst, sie hat Verbrechen begangen, und Ihr als König habt schließlich nur Eure Pflicht getan. Ihr trauert um die Frau, die Euch aufzog, schämt Euch, weil ihr sie aufhalten musstet. Doch Schuld trifft Euch keine.«

Eagle sah überrascht auf, in seinen Augen standen verzweifelte Tränen. »Glaubt Ihr das wirklich?«

»Ihr seid unser rechtmäßiger König, und habt als dieser Eure Pflicht bereits erfüllt. Ihr habt uns allen bewiesen, dass Euch Euer Volk und Euer Land alles bedeutet, und dass Ihr jeden bestraft, der Euer Volk und Euer Land in Gefahr bringt, ganz gleich, wie sehr Ihr diese Person liebt.«

Eagle schüttelte frustriert den Kopf und wandte den Blick ab. »Mich trifft trotzdem Schuld.«

»Jetzt mag die Schuld noch eine große Last sein, die Euch niederdrückt, doch wärt Ihr nicht stark genug, sie zu tragen, wärt Ihr bereits daran zerbrochen«, sprach der Mönch auf ihn ein. »Seht Euch einmal genauer die Götter an, Eure Hoheit.«

Neugierig sah Eagle ihn wieder an, suchte Rat und Befreiung in den Augen des anderen jungen Mannes.

»Auch die Götter kämpfen und auch sie töten, um Unschuldige zu schützen. Auch sie tragen Schuld, werden angeklagt, müssen sich selbst vergeben. Der Unterschied ist, dass sie wissen, dass es ihre Pflicht ist, mit ihrer Schuld zu leben, weil sie wissen, dass andere daran zerbrechen würden. Als König ist es ähnlich. Ihr habt Eure Mutter zum Wohle vieler geopfert, Ihr mögt diese Schuld bis ans Ende Eurer Tage mit Euch tragen, doch Ihr werdet weiterhin aufrecht gehen. Das bedeutet es, ein König zu sein. Ihr seid der Schild, der die Last der Welt trägt, damit Euer Volk erblühen kann. Versteht Ihr, worauf ich hinauswill?«

Eagle begann langsam zu nicken. Er fühlte sich wie betäubt. Benommen, nach einem Alptraum, aus dem man erwachte. Es war kein schönes Erwachen, aber ein erträgliches.

»Ich bin der Erbe«, sagte er langsam wie zu sich selbst, »und ich ertrage jede Schuld, die mir das Schicksal auferlegt, sofern ich damit mein Land und meine Völker schütze. Ich bin der Märtyrer meiner eigenen Geschichte.«

»Selbstaufopferung ist die größte Bürde eines Königs«, sagte Alliqua ernst, »Eure Vorfahren wussten darum.«

»Und ich weiß nun auch darum«, wandte Eagle ein, er regte stolz das Kinn nach oben. »Ich bin ein Airynn. Mehr noch als ich der Sohn meiner Mutter bin, bin ich der Nachfahre der wahren königlichen Blutlinie. Ich kann mit der Schuld umgehen.«

»Dann seid bereit, Euch selbst zu vergeben«, riet ihm der Mönch. »Tut es für Euch selbst, Prinz Eagle. Es werden noch mehr schwerwiegende Entscheidungen auf Euch zukommen, Ihr werdet viele gute Männer in den Krieg – und viele davon in ihren Tod – führen, um jene zu befreien, die unter der Herrschaft der Kirche leiden. Auch das ist eine Schuld, die Ihr dann tragen müsst.«

Eagle runzelte halbbelustigt, halbverwundert seine Stirn. »Was für ein Mönch seid Ihr eigentlich?«

Alliqua lachte leise. Er senkte etwas ernüchtert den Kopf. »Kein sehr guter, wie es scheint. Vergebung, ich will nicht gegen die Kirche aufbegehren, nichts läge mir ferner. Doch was unsere Kirchenoberhäupter angezettelt haben, halte ich für gänzlich falsch. Ich glaube nicht an rachsüchtige Götter, oder daran, dass sie Unterdrückung, Opfer und Hass von uns erwarten, dass sie wollen, dass wir andere Religionen auslöschen, und jene töten, die andere Götter anbeten. Und ich muss recht haben, sonst hätten die Götter nicht ihre schützende Hand über mich gehalten und Euch und Eure Gefährten zu mir in die Kirche geschickt. Ich sehe mich gern als einziger Mönch, der die Wahrheit erkennt, vielleicht bin ich auch nur abtrünnig geworden. Aber zumindest folge ich meinem Herzen und bleiben meinen Überzeugungen treu. Ich könnte sonst nicht mit mir leben.«

»Ich habe Euch gestern Nachmittag beobachtet. Als Cohen und Desiderius im Hof gemeinsam übten. Das Duell ging in ein Raufen über, sie lachten, rangelten und küssten sich. Ihr habt zugesehen und gelächelt. Aber verbietet der Glaube nicht die Liebe zwischen zwei Männern? Ich wundere mich schon länger, weshalb Ihr bei uns bleibt, obwohl ich doch in den Augen der Kirche so viel Sünde in meinem Haus zulasse.« Nicht, dass Eagle je vorhätte, es wirklich als Sünde zu sehen. Ehe würde er die Kirche niederbrennen, als Desiderius und Cohen zu verbieten, sich zu lieben, oder es auch nur heimlich als falsch zu empfinden.

»Ich kann mir nicht erklären, wer dieses Gesetz ernannte, und zu welchem Zweck, doch ich bin der festen Überzeugung, dass einvernehmliche Liebe niemals etwas Falsches sein kann.«

Eagle lächelte verkniffen. Er war kein frommer Mann, war er nie gewesen. Sein Glaube an die Götter hatte sich darauf beschränkt, dass er ihre Existenz anerkannte, jedoch nicht ihre Macht über alles was sterblicher Natur war. Deshalb hatte er nie verstanden, wie sich ein ganzes Volk von einer Horde fetter, nach Reichtum gierender Priester zum Massenmord anstiften lassen konnte. Eagle gab offen zu, die Kirche nicht gemocht zu haben, dennoch hatte sein Weg ihn in die Kapelle geführt, als sein Herz innerlich zerrissen war und er einfach nicht mehr weiterwusste. Er verstand mehr denn je, weshalb Sterbliche einen Glauben nötig hatten. Und Alliqua der Mönch, hatte ihm gegeben, wonach sein Herz sich gesehnt hatte. Rat, der ihn tröstete. Dies war es, was ein Glaube ausmachen sollte, nicht der Krieg draußen auf den Feldern.

»Es gibt Hoffnung für uns alle«, hörte er sich sagen. »Hoffnung für die Kirche, Hoffnung für das Land, Hoffnung für die Krone. Alles kann erneuert werden, um im neuen Glanz zu erstrahlen.« Eagle sah sich langsam um und lächelte leicht. »Wie diese Kapelle hier nach zwanzig Jahren wieder erstrahlt.«

Alliqua lächelte bescheiden. »Es ist wohl eher ein schwacher Schimmer.«

»In der Dunkelheit erstrahlt jedes Licht so hell wie der Vollmond in finstere Nacht«, sinnierte Eagle gedankenverloren vor sich hin. Er selbst hatte das Licht seines Lebens noch nicht gefunden, er glaubte aber zu spüren, dass das Licht in seinem Leben die Krone seiner Vorväter sein würde.

»Mein Prinz?«

»Ja?« Eagle sah Alliqua wieder in die Augen. Die Ernsthaftigkeit, die ihm entgegenstrahlte, nahm ihm Atem und Sprache.

»Die Götter haben Euch geschickt«, sagte der Mönch mit einem entschlossenen Nicken, »und sie waren es, die Eure Hand führten, um den Bann von der Armee zu nehmen, damit sie Frieden schaffen kann. Ihr tragt die Schuld für den Tod Eurer Mutter also nicht allein.«

Eagle lächelte amüsiert. »Das hören die Götter gewiss nicht gerne.«

»Wenn sie mich dafür bestrafen, lasse ich es Euch wissen, denn dann hätte ich mich geirrt.«

Tief im Inneren hoffte Eagle, dass dies nicht nur leere Worte waren. Denn wenn das Schicksal es so vorherbestimmte, wer war dann er, es zu hinterfragen?

Ja, er würde bis ans Ende seiner Tage mit der Schuld leben, denn er konnte nicht ändern, seine Mutter ermordet zu haben. Doch wenn es ihm allen Widrigkeiten zum Trotz gelang, Nohva in eine Zeit des Friedens zu führen, war er nicht umsonst zum Mörder geworden. Wenn er ein guter König wurde und sich das Recht zu herrschen verdiente, war dies jeden bezahlten Preis wert gewesen. Er war es Nohva schuldig. Seine Mutter hatte dafür gesorgt, dass es in seiner Pflicht stand, dass zu einen, das sie geholfen hatte, zu spalten.

Er atmete tief durch, spürte, wie ein Teil der Last, die ihn seit Wochen niederdrückte, von ihm abfiel, gerade genug, damit er damit aufrecht stehen konnte, und klatschte die Hände auf die Schenkel. »Nun denn, es ist spät, ich möchte Euch nicht vom Schlafen abhalten. Gewiss habt ihr viel zutun, als einziger Mönch unter Zweiflern.«

Alliqua stand ebenfalls auf und verneigte sich kurz vor Eagle. »Es war mir eine Freude, mit Euch zu sprechen, Eure Hoheit. Ich habe stets ein offenes Ohr – und gelegentlich einen mehr oder weniger hilfreichen Rat für Euch. Zögert nicht, mich aufzusuchen. Dafür schloss ich mich Euch an.«

Eagle lächelte dankbar. »Ihr habt mir aufgeholfen, als ich gerade am Boden lag. Ich danke Euch dafür. Jetzt muss ich aber gehen und versuchen, Schlaf zu finden. Ihr ahnt ja nicht, welch erbarmungsloser Kampflehrer unser Cohen sein kann. Ich kann nur hoffen, schnell Schlaf zu finden, sonst werde ich morgen ein ungenügender Schüler sein.«

Alliqua schmunzelte zurück. »Ich hörte, die kleine Schenke bei den Mannschaftsunterkünften bereitet einen recht wirkungsvollen Schlaftrunk zu, mein Prinz.«

»Danke für den Rat, Freund«, lachend und kopfschüttelnd ging Eagle an dem seltsamen Mönch vorbei, »doch Wein finde ich auch in meiner Küche.«

»Aber auch Gesellschaft?«

Eagle drehte sich verwundert zu Alliqua um, der die Augenbrauen vielsagend hochzog.

»Lasst nicht zu, dass die Schuld Euch in Einsamkeit zurücklässt «, sagte der Mönch. »Freundschaft und Liebe ist für den Einsamen wie der warme Honig für eine wunde Kehle.«

Eagle atmete kopfschüttelnd aus. »Wenn Ihr hier noch vor unserer Abreise eine Vermählung erhofft zu feiern, muss ich Euch bitter enttäuschen. Es gibt viele schöne Frauen hier, gewiss, und viele würden ihr Leben geben, um auch nur eine Nacht meine Frau sein zu dürfen, doch die Liebe fand ich bisher noch nicht. Es scheint nicht für mich vorgesehen, die wahre Liebe zu finden. Das überlasse ich meinen Freunden – und freue mich für die beiden, selbst wenn wir alle gelegentlich zwei Kissen über den Ohren brauchen, um ihre Liebe zu ertragen.«

Der Mönch lächelte nicht über Eagles Scherze. Er sah den jungen Erben ernst in die Augen und erwiderte nachdenklich: »Vielleicht habt ihr in den falschen Ecken gesucht, mein Prinz, oder Eure Augen waren zu fest verschlossen. Es gibt für jeden die wahre Liebe, vielleicht ist Euch Eure Zukünftige noch nicht begegnet, aber der Tag wird kommen.« Plötzlich lächelte er, als käme ihm ein Gedanke, der durchaus Sinn für ihn ergab. »Oder Eure Frau ist noch nicht erblüht.«

»Ich bevorzuge meine … Liebschaften in meinem Alter«, lehnte Eagle sofort ab. Die Vorstellung, seine zukünftige Gattin wäre zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind, behagte ihm nicht. Was sollte er mit einem Kind anfangen? Er wünschte sich eine starke, kluge und schöne Frau. Bisher hatte keine Frau, die er verführen konnte, genug Charme, um ihn zu verzaubern. Sein Problem war vielleicht auch, dass er eine zu genaue Vorstellung von seiner Zukünftigen hatte. Sie sollte nicht nur liebende Ehefrau sein, sondern auch seine engste Freundin, seine Gefährtin, Partnerin, Kameradin, Seelenverwandte. Er wollte die Liebe, wie Desiderius und Cohen sie hatten. Er wollte diese stillen und tiefen Blicke, die keiner Worte bedurften. Er wollte diese Leidenschaft, die alles verbrannte. Wollte tiefes Vertrauen, im Kampf und in Friedenszeiten. Eagle wollte mehr als eine gewöhnliche Gattin, er wollte eine Frau, die ihn verstand, und an die er sich lehnen konnte, wenn er, so wie in jener Nacht, verzweifelte.

Doch solch eine Frau gab es nicht für ihn. Das stimmte ihn nachdenklich. Selbst ein unsympathischer Barbar wie Großkönig Melecay hatte die Liebe seines Lebens gefunden. Vielleicht lag es allein an Eagle, dass es mit der Liebe nicht klappen wollte.

Wieder frustriert drehte er sich um und ging aus der Kapelle, wissend, dass er auch die nächsten Jahre allein im Bett verbringen würde. Er tröstete sich damit, dass er vermutlich so viel an Arbeit hatte, dass es ihm nicht auffallen würde. Und lieber war er allein, als einer dieser Könige zu sein, der eine viel zu junge Frau zur Gattin nahm. Was brachte ihn ein gebärfreudiger Körper, wenn er mit der Dame nichts gemein hatte. Er unterhielt sich nun mal gerne, und bezweifelte, dass er durch mehrere Jahrzehnte Altersunterschied viel mit einer jüngeren Frau zu bereden hatte.

Doch während Eagle hinausging, gab ihm der Mönch noch einige Worte zum Nachdenken mit auf dem Weg: »Es gibt viele Arten, wie Weiblichkeit erblühen kann, mein Prinz, und ich sprach nicht von der Wandlung vom Mädchen zur Frau.«

***

Nicht nur der junge Airynn Erbe fand in jener Nacht keinen Schlaf, auch Arrav strich ruhelos durch die dunklen Flure. Alle paar Schritte wurde sein Gesicht von einer Fackel erhellt, die gemächlich vor sich hin brannte und wohl bis zur Morgendämmerung erloschen sein würden. Er ließ sich ungern in der Festung blicken, betrat spät seine Gemächer und verließ sie früh, bevor jemand ihn bemerken konnte. Wie eine stille Maus schlicht er seit Wochen durch dieses riesige Anwesen, und hatte erfreut festgestellt, dass es gar nicht so schwer war, den anderen Bewohnern aus dem Weg zu gehen.

Es war nicht so, dass er nicht mehr hinter seiner Entscheidung stand, Cohen treu zu folgen, dem wahren Erben zu dienen, es lag viel mehr an der Tatsache, dass er das Gefühl hatte, sein Schlafgemach in der hohen Festung nicht verdient zu haben.

Nur, weil Cohen sich für ihn eingesetzt hatte, die Hand für ihn ins Feuer legen würde, hatte Arrav ein Bett in der Festung erhalten. Zwar keines der großen Gemächer wie der Erbe und der Blutdrache, aber trotzdem weit über dem Standard der Dienerschaft oder den Unterkünften bei der Kaserne. Dabei lag ihm nichts an einem großen Bett und einer weichen Matratze, er wäre viel lieber in den Mannschaftsunterkünften geblieben, größtenteils, weil er dort dem großen, bösen Drachen entgehen konnte. Aber Cohen hatte darauf bestanden, dass Arrav ein eigenes Schlafgemach in der Festung erhielt, und weil sich sein Kommandant und Freund so sehr für ihn einsetzte, hatte Arrav nicht erwähnt, wie unwohl ihm dabei war. Nach all den Jahren als Bastard im Dreck, war er natürlich auch froh um die drastische Verbesserung seiner Lebensumstände – was auch ein Grund dafür war, dass er seine Entscheidung nicht bereute; alles war besser als das Leben dritter Klasse – dennoch würde es noch eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte, nicht mehr nur eine schäbige Küchenschabe zu sein, die geradeso überleben konnte, wenn sie nicht mit der Armee ausrücken musste.

Er hatte noch nichts für den Erben geleistet, er hatte sich noch keine Belohnungen verdient, weder Schlaf noch Essen. Arrav würde sicherlich anders fühlen, wenn er endlich für den wahren Prinzen kämpfen durfte. Wenn er Schweiß und Blut für ihn vergossen, Schmerzen ertragen und ihm zum Sieg verholfen hatte, dann würde er sich wohler in seinem Bett fühlen. Dann hätte er all das auch verdient.

Und vielleicht, mit viel Glück, würde ihn der Blutdrache dann nicht mehr mit diesen düsteren Blicken voller Argwohn betrachten, vielleicht würde er Arrav sogar die Hand geben – oder wenigstens ein respektvolles Nicken schenken. Bisher jedoch hielt es Arrav für wesentlich klüger, dem großen, bösen Drachen nicht zu nahe zu kommen. Vor allem nicht, wenn Cohen dabei war.

Wenn Arrav sich zu seinem Freund gesellte und auch nur kurz mit ihm sprach, spürte er bereits nach wenigen Augenblicken den drohenden Blick aus stechend grünen Augen auf sich, die Feuer auf ihn zu sprühen schienen. Was seltsam war, denn er glaubte fest daran, dass er seine Absichten gegenüber Cohen nie durch Gesten oder Blicke preisgab. Trotzdem spürte er die Eifersucht des Blutdrachen auf mehrere hundert Fuß Entfernung, und der imposante Mann hütete Cohen wie seinen Augapfel.

Nach wie vor begehrte Arrav Cohen, doch nicht so sehr, dass er dumm genug wäre, wegen eines schönen Mannes den Zorn des Blutdrachen auf sich zu ziehen, also hielt er sich im Hintergrund.

Als er einmal scherzhaft zu Cohen meinte: »Dein Drache schaut mich an, als wolle er mich gleich fressen, vielleicht sollten wir zukünftig nur noch über Briefwechsel mit einander kommunizieren« - Hatte Cohen nur kopfschüttend geantwortet: »Du täuschst dich. Er hegt höchstens Zweifel an deiner Aufrichtigkeit, immerhin könntest du auch nur hier sein, um uns auszuspionieren. Mit mir hat das nichts zu tun, gewiss nicht, da überschätzt du seine Gefühle für mich.«

Arrav hätte beinahe Mitleid mit Cohen gehabt, der so unglücklich verliebt schien, doch das Mitleid hatte sich nicht auf Cohens verletzte Gefühle bezogen. Cohen war es, der sich täuschte, denn Arrav sah als Außenstehender mehr als deutlich, wie vernarrt der Blutdrache in Cohen war. Doch da Cohen ihm ohnehin nicht glauben wollte, mischte er sich bei den beiden nicht ein. Er wusste, dass er gegen den Blutdrachen keine Chance hatte, und zog sich würdevoll als Geschlagener zurück, außerdem hatte er die beiden mehr als einmal zusammen beobachtetet und eines schlagartig begriffen.

Was er suchte, würde Cohen ihm nicht geben können. Und das verwirrte ihn sehr.

Diese Verwirrung trug Schuld daran, dass er seit einigen Tagen nicht schlafen konnte, und nächtliche Gänge zur Küche unternahm. Dort fand er, was seine Gedanken lähmte und ihm beim Wiedereinschlafen half. Als er in die dunkle Küche kam, entzündete er eine einzelne Kerze auf einem Tisch und goss sich Wein ein.

Wein, wie er ihn noch nie getrunken hatte. Stark und vollmundig. Würzig. Nicht wie diese gepantschte Brühe, die er sein Leben lang getrunken hatte. Seit Wochen kam er nicht los von dem roten Getränk, allein dafür hatte sich sein Verrat an Rahff gelohnt. Doch Arrav respektierte Rahff als Mann natürlich weiterhin, immerhin verdankte er ihm sein Leben. Ohne Rahff hätte Arrav nie das erwachsenen Alter erreicht. Trotzdem bereute er seinen Entschluss, ihn zu verraten, keineswegs. Er wusste, genau wie Rahff es hätte wissen müssen, dass er gar keine andere Wahl gehabt hatte, wenn er ein besseres Leben führen wollte.

Und wer würde nicht gerne aus dem Dreck steigen, wenn er darin badete?

Als die Tür zur Küche leise quietschend geöffnet wurde, zuckte Arrav unwillkürlich ertappt mit dem Becherrand am Mund zusammen.

Er erkannte den anderen Mann sofort, drehte diesem dem Rücken zu und zog den leichten, seidenen Morgenmantel vor der nackten Brust zusammen. Er fühlte sich seltsam entblößt, so knapp bekleidet, er hatte nicht damit gerechnet, zu dieser Stunde noch jemandem zu begegnen.

»Oh.« Eagle stockte überrascht an der Tür. »Vergebung, ich wusste nicht, dass jemand hier ist.«

»Ich muss um Vergebung bitten, Eure Hoheit.« Arrav hielt den Morgenmantel mit einer Hand fest zusammen, als er sich umdrehte und leicht den Kopf ergebend neigte. »Ich bin es, der Euren Wein ohne Euch kostet.«

Lächelnd trat Eagle gänzlich ein und ließ die Tür leise wieder zufallen. Es war ihm jedes Mal deutlich anzusehen, dass er den Respekt genoss, der ihm nun zuteilwurde. Arrav hielt deswegen nicht weniger von ihm, Eagle besaß genug Charme, um durch das Genießen der Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, nicht arrogant zu wirken.

»Es ist unser aller Wein«, warf Eagle großzügig ein.

Arrav wusste, dass es ihm gestattet war, sich alles aus der Küche zu nehmen, was sein Magen begehrte, doch er wollte zeigen, dass er das nicht als selbstverständlich hinnahm.

»Außerdem trinkt Ihr das falsche Zeug.« Eagle ging an dem verwunderten Arrav mit einem beinahe überheblichen Schmunzeln vorbei, bückte sich nach einer Schranktür zu Arravs Füßen und riss sie auf. Eine kurze Weile kniete der Prinz vor dem Schrank und räumte einige Töpfe und Pfannen aus, die schon deutliche Gebrauchsspuren aufwiesen, ehe er genug Platz geschaffen hatte, um sich weit in den Schrank zu lehnen. Ein Knacken und Poltern war zu hören, als der Erbe eine Geheimtür öffnete. Kurz darauf kam er wieder hervor und hielt eine verstaubte Flasche in der Hand, der Korken war noch unversehrt.

»Wein aus Gino, aus dem letzten Jahrhundert«, verkündete Eagle und ging, sein Chaos einfach hinterlassend, zum Tisch mit der Kerze. Auf dem Weg dorthin, nahm er noch einen Becher auf.

Er setzte sich mit dem Gesicht zu Arrav, der ihn nur reglos beobachtet hatte.

Arrav hatte das Gefühl, gehen zu müssen. Gegenüber Adeligen fühlte er sich stets unwohl, weil er das Talent besaß, andere vor den Kopf zu stoßen. Er sagte gerne das, was er dachte, ohne sich darüber Sorgen zu machen, ob es jemanden beleidigte. Unter seines Gleichen möge das durchgehen, denn sollte er jemanden verärgern, artete es höchstens in einer Prügelei aus – und er wusste sich gelegentlich auch zu wehren. Bei Adeligen hingegen konnte schnell mal der eigene Kopf rollen, dabei musste die Beleidigung nicht einmal gewollt gewesen sein, es genügte schon, wenn dem Adeligen der Blick nicht gefiel, mit dem man ihn ansah. Er wollte seinen neuen Herrscher nicht schon jetzt verärgern, also hielt er lieber Abstand, obwohl er gern gewusst hätte, für wen er nun eigentlich kämpfte.

Arrav kippte den Inhalt seines Bechers in den Rachen und wollte gehen, doch gerade als er den Becher abstellen wollte, deutete Eagle auf den freien Stuhl ihm gegenüber.

»Setzt Euch«, bat Eagle, »und trinkt mit mir das gute Zeug.«

Doch Arrav zögerte unschlüssig, überlegte, wie er höfflich ablehnen konnte.

Eagle schien enttäuscht, als er Arravs Weigerung spürte. Er stützte die Arme auf den Tisch und ließ den Kopf hängen.

Sein melancholischer Blick traf die gekerbte Tischplatte, doch er stach Arrav mitten ins Herz. Plötzlich schien der junge Mann älter zu sein als der jahrhundertalte Wein auf seinem Tisch. Arrav nahm sich ein Herz und ging zu ihm. Überrascht hob Eagle den Blick, als der Stuhl ihm gegenüber leise über den Boden gezogen wurde, und Arrav sich setzte.

Lächelnd griff er zur Flasche und entkorkte sie.

»Arrav, richtig? Cohens Freund.«

Arrav nickte stumm, er schob den Becher über den Tisch.

Eagle nickte schmunzelnd auf Arravs Brust, die unter dem Morgenmantel von der leuchtenden Kerze angestrahlt wurde. »Ihr wisst, dass Ihr einen Morgenmantel für unsere weiblichen Gäste tragt?«

Das bestickte Blumenmuster und die schöne hellgefärbte Seide hatten ihn einen gewissen Aufschluss darauf gegeben, ja.

»Ich habe mich wohl vergriffen.« Arrav lief rot an, er strich sich verlegen sein schulterlanges Haar hinter die Ohren. »Schlaftrunken wie ich war, griff ich nach dem erstbesten Kleidungstück, das ich im Schrank vorfand.«

Eagle nickte nur.

»Ich sehe Euch öfter nächtlich zur Küche gehen«, bemerkte Eagle dann, während er erst Arravs Becher füllte, und dann seinen eigenen. Er stellte die Flasche behutsam ab. »Welche Sorgen treiben Euch umher? Seid Ihr nicht mehr sicher, ob Ihr hier sein solltet?«

Arrav umfasste den Becher und führte ihn zu den Lippen, während er verneinend den Kopf schüttelte. Er kostete einen Schluck und musste den Drang niederringen, genüsslich zu stöhnen. Der Wein war ganz sanft auf seiner Zunge, liebkoste seinen Gaumen und entfaltete in seinem Rachen einen lieblichen Geschmack, der alle Sinne berauschte. Ein gefährlicher Tropfen, zu süß, um seine gewaltige Stärke zu bemerken.

Arrav sah Eagle in die Augen, als er schwor: »Ich stehe mit dem Herzen hinter meiner Entscheidung, für Euch zu kämpfen, mein Prinz.«

Der Kerzenschein zuckte über Eagles trauriges Lächeln. »Wohl eher bleibt Ihr, um für Cohen, Euren Freund und Kommandanten, zu kämpfen.«

»Mag sein, dass meine Entscheidung fiel, weil ich Cohens Urteil vertraute, aber welchen Unterschied macht das? Ich bin hier, mein Schwert wird für Euch Blut vergießen.«

Eagle starrte nachdenklich in seinen Wein und drehte den Becher in seiner Hand. »Die Loyalität meiner Männer, sollte allein mir gehören, stattdessen gehört sie wohl eher meinen Freunden. Und ich kann keinen von ihnen einen Vorwurf daraus machen. Meine Armee ruft jubelnd den Namen des Blutdrachen, und Ihr folgt Cohen. Und nur, weil ich das Blut der Airynns als einziger in mir trage, wollen Cohen und Desiderius für mich kämpfen. Aber wer würde darüber hinaus allein zu mir stehen, nur wegen dem, an das ich glaube? Ohne Desiderius und Cohen, würde wohl kaum eine Seele zu mir stehen.«

Arrav senkte den Blick und dachte eine Weile stumm darüber nach. Das einzige Geräusch in der finsteren Küche war das leise Zischen der einzigen, entflammten Kerze, deren weißes Wachs auf den Tisch tropfte.

Er hegte Mitleid für Eagle, wusste jedoch genau, wo das eigentliche Problem lag. Er fand noch nicht den Mut, offen zu sprechen.

»Verzeiht«, Eagle rang sich ein Lächeln ab, das beinahe entspannt wirkte, »zu dieser Stunde hege ich düstere Gedanken. Aber Ihr habt sicher Eure eigenen.«

»Wer wären wir, würden wir einander nicht zuhören?«, warf Arrav ein. »Dann hätten wir mit unseren Feinden nur allzu viel gemein, glaube ich.«

Es rang Eagle ein leises Lachen ab, doch er schien weiterhin zu müde für dieses Leben.

Der junge Erbe fuhr sich geradezu frustriert durchs Haar, die rotblonden Strähnen schimmerten herrlich im Lichtkegel des Kerzenscheins, und weckten den intimsten Wunsch, selbst einmal die Finger hindurch gleiten zu lassen. Sich gegebenenfalls auch einmal festzukrallen …

Seufzens trank Arrav noch einen Schluck. Als sie das Lager der Flüchtigen damals fanden, und Solran auf Rahffs Befehl hin dem schlafenden Eagle eine Klinge an den Hals hielt, war Arrav bereits fasziniert von der Schönheit des jungen Mannes gewesen. Diese starken Augen, dieses männliche, ausdrucksstarke Gesicht, mit seiner perfekt geraden Nase und seinem vollen Kussmund, und natürlich diese kräftigen Muskeln unter jedem Zoll heller Haut, hatten Arrav in ihren Bann gezogen. So jung, so schön, so unbeugsam, trotz der verzweifelten Lage, in der er damals steckte. So entschlossen, tapfer zu sterben, kein Winseln um Gnade, nur trotziges Wehren, trotz Klinge an seiner sehnigen Kehle. Und diese Haarfarbe! Im Dämmerschein wie Bronze, aber die Sonne gab den Blondanteil preis. Selbst der Bartschatten schimmerte weich in dieser hellrötlichen Farbe, seine langen Wimpern waren an den Spitzen feuerrot und wurden zum Augenlid hin immer heller, sodass sie am Ende fast durchsichtig erschienen. Seine unsagbar eisblaue Augenfarbe, berühmt für seine Familie väterlicherseits, machten das Bild perfekt. Selbst die grünen Schuppen, die beinahe die Hälfte seines Körpers bedeckten, konnten seiner Schönheit nicht abträglich sein. Im Gegenteil, wann immer eine Schuppe unter der Kleidung hervorblitzte, ob im Nacken oder am Handrücken, weckten sie in Arrav den Wunsch, herauszufinden, ob sie sich so hart und trocken anfühlten, wie sie aussahen. Ob Eagle es spürte, wenn man mit den Fingerspitzen oder Fingernägeln über sie streichelte …

»Es ist einsam, plötzlich der rechtmäßige Erbe eines uralten Königreichs zu sein«, gestand Eagle unerwartet offen, während Arrav noch seinen Fantasien nachhing.

»So einsam wohl auch wieder nicht«, Arrav gab sich die allergrößte Mühe, nicht zynisch zu klingen, »gewiss gibt es mehr als genug willige Damen, die sich nach Euch verzehren … oder auch Männer.«

Eagle lächelte Arrav müde an. »Frauen, ja gewiss. Doch nach meiner Gefangenschaft auf dieser Festung sind nicht mehr viele übrig, die ich nicht bereits hatte, und die, die ich kenne, reizen mich nicht mehr. Von interessierten Männern weiß ich nichts.« Er lachte bei letzterem auf.

Arrav scherzte amüsiert: »Dann solltet Ihr es herausfinden, wenn Ihr Euch bereits so einsam fühlt.«

Doch Eagle schüttelte ernst den Kopf. »Ich überlasse das Fischen am eigenem Ufer dem Blutdrachen und Cohen. An Männern hege ich kein Interesse, so einsam kann ich gar nicht sein.«

Arrav fühlte sich wie geohrfeigt, ließ es sich jedoch nicht anmerken.

Eagle seufzte schwer. »Ich meine, mir ist es gleich, wer bei wem liegt, es kümmert mich keineswegs. Und wenn alle Frauen bei Frauen liegen und alle Männer bei Männern, warum sollte ich mich dadurch gestört fühlen? Jedoch weiß ich sehr genau, was ich will. Vielleicht sogar zu genau, um eine passende Gefährtin zu finden.« Er scherzte auflachend, um seine schwermütige Stimmung zu überspielen: »Und ich weiß ziemlich genau, dass mich ein kratziger Bart beim Küssen stören würde.«

Unwillkürlich fuhr sich Arrav über seinen Bart.

»Aber von dieser Art Einsamkeit sprach ich ohnehin nicht«, gestand Eagle leise und wieder vollkommen ernst. »Alle erwarten etwas von mir als Prinz, vor allem meine engsten Freunde. Jeder hat seine Meinung, jeder weiß, wie er es besser machen könnte. Man ist plötzlich alles, nur kein Freund mehr. Keiner will mehr reden, alle wollen nur ihre Ansichten durchsetzen und mich als Sprachrohr benutzen. Keiner fragt, was ich denke, und sage ich es, wollen sie mich belehren. Ich bin zwar Prinz, doch wusste ich nicht, dass ich dadurch jegliche Macht verliere.«

»Ihr müsst Ihnen zeigen, dass Ihr aus gutem Grund der Prinz seid, sonst hören sie nie auf Euch.«

Aufmerksam hob Eagle den Blick. »Was bedeutet das?«

Arrav senkte den Kopf und nagte an seiner Lippe. »Darf ich offen sprechen?«

»Ihr habt die Erlaubnis«, Eagle machte eine drängende Handgeste, als wolle er Arravs Worte aus ihm herauswinken, »so sprecht frei und ehrlich.«

In jenem Moment stieg Eagles Ansehen bei Arrav immer weiter.

»Hört zu, mein Prinz«, Arrav lehnte sich auf die Tischkante, Eagle tat es ihm gleich, mit wachem, interessiertem Blick. »Wir alle wissen, was Ihr getan habt, vor allem Eure Männer. Viele sind begeistert, dass Ihr das Wohl aller anderen über das Leben Eurer eigenen Mutter gestellt habt. Doch Zweifel stellten sich ein, ob Ihr nicht einfach nur ein Tyrann seid.«

Eagle wurde augenblicklich leichenblass. »Ein Tyrann?«

»Ich weiß, Ihr hört es immer wieder, aber Eure Freunde haben in einem Recht: Ihr solltet zu Euren Männern sprechen, damit sie sehen, wer Ihr seid.«

»Und wenn ich etwas Falsches sage?«

»Das werdet Ihr.«

Eagle blinzelte überrascht.

»Für den ein oder anderen werdet Ihr das Falsche sagen«, erklärte Arrav wissend, »weil Ihr niemals in der Lage sein werdet, es allen Recht zu machen. Dem einem gefällt, was ihr sagt und versprecht und plant, dem anderen wird es missfallen.«

Frustriert ausatmend schüttelte Eagle den Kopf, er wandte den Blick zur Seite und starrte in die dunkle Küche.

»Aber das darf Euch nicht kümmern. Letztlich zählt nur, dass Ihr der Prinz seid. In Eurer Pflicht steht es, Eure Untertanen stets daran zu erinnern, und Ihnen zu beweisen, dass Ihr aus gutem Grund der Erbe seid. Sie mögen Zweifel haben, aber zeigt Ihnen niemals, dass auch Ihr Zweifel habt. Sie müssen denken, dass Ihr, bei allem was Ihr entscheidet, voll und ganz von Eurer Entscheidung überzeugt seid. Seid Ihr stark, sind es Eure Männer auch.«

Wieder aufmerksam geworden, sah Eagle Arrav erneut ins Gesicht.

»Seid offen für Ratschläge, gebt Euch nicht zu arrogant, ignoriert die Meinungen und Wünsche Eurer Freunde, Verbündeten und Untertanen niemals, aber beweist auch Stärke und Mut. Ihr seid der Prinz, nehmt Vorschläge an, habt jedoch auch den Willen, Eure eigenen Pläne zu schmieden. Auch wenn Ihr viele durch Eure Entscheidungen verärgert – das könnt Ihr nicht verhindern – werden viele auch dann zu Euch stehen, wenn Ihr ihnen beweist, dass Ihr das Zeug zum Herrschen habt.«

Eagle schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wie?«

»Indem Ihr Eure eigenen Entscheidungen trefft, darauf besteht, dass man Euch vertraut, und indem Ihr das Vertrauen Eurer Untergebenen nicht missbraucht. Zeigt ihnen, dass Eure Pläne aufgehen, zeigt ihnen allen, dass Ihr wisst, was Ihr tut.«

»Und wenn ich Fehler mache?«

»Jeder gute Mann macht Fehler«, warf Arrav ein. »Und wenn etwas schiefgeht, zeugt es auch von Stärke, den Fehler einzugestehen, und um weitere Ratschläge zu bitten. Vergesst aber nicht, Ihr seid der Prinz, niemand steht über Eurem Wort.«

Eagle runzelte nachdenklich seine Stirn, während er gründlich darüber nachdachte. Immer deutlicher sah Arrav, wie sich die Schultern des müden Prinzen strafften, als schöpfte er neuen Mut.

Und Arrav hatte noch mehr zu sagen.

»Rahffs größtes Problem war die Kirche«, erklärte er dem jungen Erben, »er hat sich entschlossen, seine Stärke aus dem Bündnis mit der Religion zu ziehen. Um seine Macht nicht zu verlieren, hielt er die Füße still. Wenn Ihr meinen ehrlichen Rat hören wollt, dann macht nicht den gleichen Fehler wie er. Ihr seid König, oder werdet es sein, und nichts darf über Euch stehen.«

Eagle hörte ihm aufmerksam zu.

»Akzeptiert die Existenz der Kirche, toleriert den Glauben Eurer Völker, aber lasst nichts davon Macht über Euch oder Eure Entscheidungen haben. Akzeptiert den Einfluss des Adels, doch lasst ihn nicht über Euch stehen oder gar mit Euch spielen. Achtet Eure Verbündeten, doch lasst sie nicht über Euch richten. Ihr müsst ein anpassungsfähiger König sein. Zeigt Stärke und Entschlossenheit, aber auch Güte und Gnade. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass Ihr genau wisst, was Ihr tut. Zeigt Selbstvertrauen. Lernt, zwischen dem schmalen Grat von Tyrannei und Konsequenz zu balancieren. Ihr seid der König, und nur Euer Wille zählt.«

Nachdenklich und ein wenig zweifelnd nagte Eagle an seiner Lippe. Arrav streckte eine Hand über den Tisch und drückte Eagles kräftigen Unterarm, er lächelte den Erben an.

»Und wenn ich Euch so ansehe«, sagte Arrav aufrichtig, »hege ich keinen einzigen Zweifel daran, dass diese Stärke in Euch wohnt. Lasst Euch von niemanden verunsichern. Nur Euer Wort ist Gesetz, vergesst das nicht. Macht von Eurer Stellung gebrauch, zeigt Ihnen, auch dem Blutdrachen, dass Ihr der König seid, auf den alle gewartet haben, und sie werden Euch folgen.«

Der verborgene Erbe

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