Читать книгу Der verborgene Erbe - Billy Remie - Страница 6

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Donnergrollen weckte ihn in der Nacht. Vielleicht waren es auch die darauffolgenden grellen Blitze, die nicht einmal von den schweren Samtvorhängen seiner Gemächer gemildert werden konnten. Sein Bett war warm und weich, die schweren Decken hatte er über die nackten Beine bis zur Hüfte hochgezogen. Er murmelte im Schlaf, während er langsam erwachte. Sein Unmut darüber, noch vor dem Morgengrauen geweckt worden zu sein, verflog jedoch schnell, als er sich umdrehte und seinen nackten Körper an den warmen Leib kuschelte, der neben ihm im Bett lag und ihm das Gefühl von Geborgenheit und Heimat vermittelte.

In solchen Momenten fühlte er sich glücklich, wenn die Gedanken und der Morgen noch fern waren und nur er, sein Bett, und der Mann darin existierten, als gäbe es sonst nichts in seinem Leben, das sonst noch eine Bedeutung hätte.

Jene Stunden waren erfüllt von reiner Gegenwart, in ihnen besaß er weder Vergangenheit noch Zukunft, er lebte nur im Jetzt.

Doch das sorglose Gefühl wurde von einer seltsamen Empfindung überschattet, die durch seinen schlaftrunkenen Verstand drang und ihm die Schwere der Müdigkeit raubte. Denn plötzlich fühlte er eine dritte Präsenz im Raum, die ihm auf mysteriöse Weise ebenso fremd wie vertraut war.

Desiderius fuhr erschrocken auf, eine Hand auf Cohens schlafenden Leib liegend, der sich unter der dicken Samtdecke bei ruhigen Atemzügen leicht hob und senkte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war Desiderius bei jedem Erwachen immer wieder der festen Überzeugung erlegen gewesen, Wexmell würde neben ihm liegen. Nach zwanzig Jahren Zweisamkeit war dies wohl auch nicht verwunderlich. Doch Cohen hatte Nacht für Nacht wie ein Löwe darum gekämpft, diese Gedanken aus Desiderius` Bewusstsein zu verdrängen, indem er mit gesamten Körpereinsatz Desiderius daran erinnerte, an wessen Körper er sich im Schlaf gekuschelt hatte – und was dieser zutun vermochte. Welche Gelüste er entfachen und gleichermaßen wieder stillen konnte.

Desiderius tat sein Bestes, um Cohen nicht das Gefühl zu geben, nur zweite Wahl oder gar nur ein Trostpreis zu sein, nachdem sein Geliebter ermordet worden war. Und es tat seinem eigenen Gemütszustand gut, sich abzulenken und nicht ununterbrochen wehmütig an Wexmell zu denken. Jedoch war und wird er niemals in der Lage sein, Wexmell zu vergessen.

Doch er war rücksichtsvoll genug, Cohen nicht an jenen Gedanken teilhaben zu lassen.

Was er nun in seinem Schlafgemach spürte, war jedoch nicht die Erinnerung an Wexmell, auch nicht dessen Geist, der ihn vielleicht – oder vielleicht auch nicht – beobachtete.

Nein, Wexmells Nähe hätte Desiderius sofort erkannt. Es war jemand anderes im Raum.

Oder Etwas anderes.

Desiderius sah sich um, konnte jedoch auf den ersten Blick nichts entdecken.

»Zazar?«, flüsterte er in die Dunkelheit hinein, darauf hoffend, Cohen nicht zu wecken. Es war dennoch ungewöhnlich, dass Cohen sich tatsächlich nicht rührte, denn für gewöhnlich hatte der junge Mann einen sehr leichten Schlaf, aus dem er schnell aufschreckte; schneller noch als der stets wachsame Desiderius.

Niemand antwortete ihm, auch nicht auf sein zweites Flüstern. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit, doch er wusste bereits, dass es auch nicht sein Bruder war, der mal wieder unerlaubt, und seine Privatsphäre ignorierend, in den Raum gekommen war, um ihn zu beobachten. Desiderius‘ Herz schlug wie wild in seiner Brust, sein Körper antwortete mit Wachsamkeit auf die unbekannte Bedrohung.

Doch es war kein Feind, der ihm auflauern sollte.

Als dann ein weiterer Blitz den Raum erhellte, sah Desiderius es.

Oder besser gesagt, sah er ihn.

Erschrocken zuckte er bei dem Anblick des Umrisses zusammen. Ein großer Mann stand vor den Vorhängen des Balkons, die Blitze hinter den Fenstern beleuchteten gelegentlich seine muskulöse Gestalt, jedoch war außer seiner Statur nichts von ihm zu erkennen. Er war wie ein Schatten. Der Schatten eines Mannes, der keinen Körper mehr besaß.

Desiderius blinzelte, in der Hoffnung, die Erscheinung möge verschwinden. Doch er konnte spüren, dass der Schatten blieb, noch bevor er die Augen wieder öffnete, um sich davon zu überzeugen.

»Wer bist du?«, fragte er halblaut. Seine dunkle Stimme war rau vom tiefen Schlaf und bebend vor Nervosität. Ihm gefiel die Präsenz nicht, die von dem Schatten ausging. So fremd, und doch seltsam vertraut. Als würde man nach Jahrzehnten einem alten Freund gegenüberstehen, den man längst vergessen hatte, dem man sich urplötzlich jedoch wieder nahe fühlte, als wäre kaum ein Tag seit dem letzten Wiedersehen vergangen.

Desiderius überlegte bereits fieberhaft, ob es ihm gelingen würde, herum zu wirbeln und nach seinem Schwert zu greifen, das in der Nähe seiner Bettseite an einem Sessel lehnte, der hervorragend als Rüstungsablage diente, wenn er sich abends auszog, um zu Cohen unter die Decken zu schlüpfen.

Als hätte der Schatten seine Gedanken erraten, schüttelte er im Licht eines Blitzes warnend den Kopf.

Desiderius fuhr zusammen, als plötzlich eine Fackel im Raum ohne sein Zutun aufflammte und seine Gemächer erhellte. Sie hing an der Tür, ihre warmen Flammen zuckten und warfen bewegte Schatten an die nackten Wände.

Als er sich wieder zum Fenster wandte, war der Schatten plötzlich verschwunden. Aufgebracht sah er sich um, zweifelte bereits an seinem Verstand. Vielleicht hatte er sich den Umriss im dunklen Zimmer auch nur eingebildet. Vielleicht hatte er geschlafen, und war gerade erst erwacht. Wie so oft, musste er vergessen haben, die Fackel an der Tür zu löschen, nachdem Cohen und er getan hatten, was sie gerne bei Licht zusammen taten.

Desiderius wollte gerade aufstehen, um das Zimmer in Dunkelheit zu hüllen, als er den Schatten wieder erblickte.

Er stand in der offenen Tür, hinter der ein dunkler Gang in eine tiefe Schwärze führte, die endlos zu sein schien. Der Schatten nickte in die Dunkelheit und bedeutete ihm, ihm durch den Flur zu folgen.

Für einen Moment starrte Desiderius dem dunklen Umriss nach, bis dieser im Gang mit der Finsternis verschmolz und verschwand. Ein Ruck ging durch ihn durch, als die Neugierde über die Vorsicht siegte. Doch sorglos folgte er nicht, dafür hatte er in seinem Leben genug gelernt. Er warf sich seinen schweren Morgenmantel über und zerrte ihn mit dem Waffengürtel zusammen, an dem sein Schwert hing.

An der offenen Tür nahm er die Fackel aus der Vorrichtung und folgte dem Schatten.

Die Flure und Treppen der Festung waren verlassen und totenstill in der Nacht. Alle schliefen noch tief und fest, Menschen wie Tiere, selbst die Mäuse im Gemäuer schienen zu schlummern.

Es war die Stunde der Geister, so tief in der Nacht, dass kaum ein sterbliches Wesen im wachen Zustand war. Es war unheimlich, durch die Festung zu wandern, und nichts zu hören oder zu sehen. Sämtliche Lichtquellen waren versiegt, und wo Fackeln brennen sollten, erloschen die Flammen an den Wänden wie von Geisterhand, als der Schatten an ihnen vorrüberging.

Desiderius folgte stumm, aber trotz steigender Unruhe, empfand er keine Angst. Er hatte mittlerweile so häufig gegen Dämonen gekämpft, dass er beinahe sicher war, einen zu erkennen, wenn er einem begegnete.

Doch der Schatten, der ihn führte, schien weder sterblich noch dämonisch zu sein.

Desiderius wurde in das Gewölbe tief unter der Erde geführt, wo die Hitze des Sommers niemals hingelangen konnte. Die Kälte aus dem Fels, in den die Festung gehauen worden war, hatte hier unten schon lange die Herrschaft übernommen. Nebliger Atem kam stoßweise aus seinen halb geöffneten Lippen und leicht geblähten Nasenflügeln, während er vorsichtig immer weiter die steinernen Stufen einer gewundenen Treppe hinabstieg.

Der Schatten führte ihn immer tiefer in die Eingeweide der alten Festung, in Gänge, die schon so lange niemand mehr passiert hatte, dass Desiderius sich mittels Fackel einen Weg durch die dichten Spinnenweben bahnen musste. Vorbei an Bibliotheksräumen, die, je weiter er ging, mit immer älteren Schriftrollen vollgestopft waren. Er leuchtete gelegentlich in einen der Räume und betrachtete die fast zu Staub verfallenen Rollen. Ehrfurcht stellte sich bei ihm ein, als er daran dachte, wie viel Geschichte die Festung beherbergte. Die Geschichte seines Volkes, die Geschichte vieler großer Könige.

Und alle waren Wexmells Vorfahren gewesen.

Der Schatten führte ihn in einen weit hinten gelegenen Raum eines langen, tunnelförmigen Flures. Als Desiderius sich unter der niedrigen Tür durchgeduckt hatte, beleuchtete er den großen Bibliotheksraum mit der Fackel. Er staunte nicht schlecht über die gut erhaltenen Schriftrollen in den morschen Holzregalen, die zu mehreren hohen Reihen wie Raumteiler aufgestellt waren. Langsam durchschritt er die Reihen auf der Suche nach dem Schatten, hier und dort blieb er stehen um einige Schriften zu begutachten. Ein blauer Nebelschleier umgab sie. Es war Magie, die diese Schriften erhielten.

Schnell zog er die Finger zurück, als ihm dies bewusstwurde. Er konnte nicht ahnen, welche Art Magie auf diesen Rollen lag, aber wenn es sich um Schutzzauber handelte, wollte er sie lieber nicht berühren und riskieren, sich zu verletzen. Magie war ihm nach wie vor unheimlich, und er würde ihr stets mit gesundem Argwohn begegnen.

Er drehte sich herum und suchte nach links und rechts die Regalreihe ab. Der Schatten stand am Ende des Gangs an einer Wand und nickte ihn wieder zu sich.

Desiderius folgte ihm schweigend. Mit behutsamen Schritten ging er den Gang hinunter und bog am Ende nach rechts ab. Der Schatten stand nun vor einer Wand und streckte den langen Arm aus.

Langsam ging Desiderius auf ihn zu, je näher er mit der Fackel kam, je mehr hoffte er, das Gesicht seines stummen, nächtlichen Besuchers zu erkennen.

Je näher er kam, je unwohler wurde ihm, und als er schließlich unmittelbar vor den Mann trat, blickte er leichenblass in sein eigenes Gesicht.

Der vermeidliche Schatten sah ihm ohne seelische Regung entgegen, er wartete, bis Desiderius sich soweit gefangen hatte, dass er wieder aufnahmefähig war, und deutete schließlich erneut auf das, was er Desiderius zeigen wollte.

Nur widerwillig riss sich Desiderius von seinem eigenen Gesicht los, hielt den Schatten für einen Geist, der keine eigene Gestalt besaß und deshalb seine benutzte. Trotzdem war ihm unwohl dabei, in sein eigenes Gesicht zu blicken.

Seine Augen folgten dem Fingerzeig des Schattens voller Unbehagen.

Zwischen zwei Regalen fand Desiderius, worauf der Schatten deutete. In die Wand war eine dunkle, morsche Holztür eingefasst. Unter ihrem Schlitz strahlte grelles Licht hindurch, wie er es noch nie gesehen hatte.

Wie magisch angezogen ging er auf die Tür zu, der Schatten war vergessen. Alles, woran er dachte, war das, was hinter der Tür verborgen sein mochte. Es war für Desiderius, als sähe er sich selbst deutlich verlangsamt dabei zu, wie er die Hand ausstreckte und wie gelenkt von einer anderen Macht den runden goldenen Türknauf umfasste und drehte. Die Scharniere der Tür kreischten wie eine Irrlichtmutter, als er sie schließlich aufzog. Doch noch bevor er sie gänzlich aufgemacht hatte, traf eine Druckwelle auf die Tür und warf sie mit einem gewaltigen Ruck auf, sodass er zurücktaumelte und die Arme hochriss, als das grelle Licht dahinter ungehindert auf ihn traf und ihn in ein gleißendes Inferno hüllte, das ihn augenblicklich verschlang …

***

Schweißgebadet fuhr er aus dem Schlaf, kerzengrade saß er zwischen zerwühlten, feuchten Laken. Er schluckte hart zwischen zwei japsenden Atemstößen. Nur langsam erholte er sich von seinem intensiven Alptraum. Strähnen seines dunklen Haars klebten ihn auf seiner vom Schweiß nassen Stirn. Desiderius strich sie zurück, während er versuchte, seinen Atem zu kontrollieren, was ihm nach und nach etwas leichter fiel, je mehr er vom Traum in die Wirklichkeit zurückkehrte.

Suchend betastete er die andere Bettseite, hoffte, auf Wärme und Trost zu treffen, doch er fand nur leere Decken und ein kaltes Kissen vor.

Er war allein.

Ruhelos strampelte er die Decke von seinen Beinen und stand auf. Die Vorhänge wehten im warmen Wind eines hellen, sonnigen Morgen. Keine Spur vom Unwetter aus seinem Traum, es hatte kein Donnergrollen und keine Blitze in der Nacht gegeben, höchstens ein lauwarmes Lüftchen, das durch die offenen Balkontüren geweht kam und seinen vom unruhigen Schlaf gequälten Leib liebkost hatte.

Es musste schon spät am Morgen sein, denn der Wind trug das Klirren von Metall das auf Metall schlug, und die dumpfen Schläge von Schwertern, die auf Schilde trafen, durch die Vorhänge in sein Schlafgemach. Wie jeden Morgen übten die Truppen des wahren Erbens unerbittlich innerhalb der Mauern der Festung für die bevorstehenden Kämpfe.

Desiderius ließ alles wie es war, die geschlossenen Vorhänge und das zerwühlte, schweißnasse Bett. Wie in seinem Traum, warf er sich nur seinen schweren Morgenmantel über, der eigens für seine Statur angefertigt worden war, und eilte aus dem Raum.

Er ignorierte die freundlichen Begrüßungen und Verbeugungen der Dienstmägde, die ihm entgegenkamen, während sie ihren Pflichten nachgingen. Hier und dort brachten sie saubere Laken, Tücher und Kleidung in die Zimmer, die nun unter Eagles Herrschaft standen. Kein Diener, keine Dienstmagd und keine Wache oder Soldat beklagte sich je über die Arbeit auf der Festung, alle begegneten ihren Befreiern und Rettern mit Dankbarkeit und Demut. Desiderius wusste nicht recht, mit so viel Wohlgefallen umzugehen, ebenso wenig wie Cohen, weshalb sie es größtenteils ignorierten. Sie waren nicht arrogant, nur unsicher in Angesicht solch großer Dankbarkeit, die sie ihrer Meinung nach nicht verdienten. Die Bediensteten und Soldaten schienen ihre Bescheidenheit mit Humor und weiterem Wohlgefallen hinzunehmen. Was aus alledem nur einen Teufelskreis machte.

Vom gewöhnlich zugänglichen Gewölbe, indem sich die Speisekammern befanden, die Unmengen Wein und Getreide beherbergten, gelangte Desiderius in den selten besuchten Teil der Festung, tief im Felsen. Er hing eine Fackel ab und suchte den Weg, der ihm im Traum von dem Schatten gezeigt worden war.

In einem der Bibliotheksräume fand er, wie jeden Morgen, Eagle.

Der junge Rothaarige lag halb auf einem schiefen Tisch mitten in Büchern und Schriften, und schnarchte leise vor sich hin. Der Erbe las sich gern in den Schlaf, gerne auch mitten am Tisch. Desiderius vermutete, dass Eagle in seinem Bett noch keinen Schlaf fand. Verübeln konnte er es ihm nicht, immerhin litt Eagle noch darunter, dass er seine eigene Mutter hatte töten müssen. Verschlimmert wurde Eagles Verlust dadurch, dass niemand auf der Festung das Mitgefühl aufgebracht hatte, ein Begräbnis für seine Mutter zu halten, weshalb Eagle sie allein fernab der Mauern im Gebirge begraben hatte. Cohen war der einzige gewesen, der Eagle an jenem Tag nachgelaufen und ihm beigestanden hatte. So sehr Desiderius Eagle auch liebte, er wollte nicht der Frau die letzte Ehre erweisen, die einen Großteil der Schuld daran trug, dass er seine Heimat hatte verlassen müssen.

Als Desiderius an Eagle vorbeiging, strich er ihm flüchtig über den roten Haarschopf, dann ging er weiter, ohne seinen Herrscher zu wecken.

Es war nicht schwierig, die Stelle aus dem Traum zu finden, Desiderius kannte den Weg. Doch das Licht seiner Fackel traf auf eine Mauer, statt auf eine Tür. Nichts deutete darauf hin, dass hinter dieser Wand ein Gang oder ein Raum verborgen sein könnte. Alles war nur ein Traum gewesen.

Frustriert starrte er die Wand an, als könnte er sie mit Blicken durchbohren oder gar zum Einsturz bringen, doch er bezweifelte, dass dort hinter etwas zu finden wäre.

Ein Geräusch lenkte seine Gedanken von der Mauer und seinem Traum ab. Sein Kopf ruckte herum, als er das leise Plätschern hörte, das wie ein lockendes Flüstern durch die stillen Flure des Gewölbes hallte.

Lächelnd wandte er sich von der Mauer ab und nahm die Fackel mit, um dem verlockenden Geräusch zu folgen. Er ging ein Stück tiefer ins Gewölbe, sah das Flackern anderer Lichtquellen aus einem offenen Raum in den dunklen Gang flimmern.

Der Duft von schweren Blüten wehte ihm entgegen und ließ ihn augenblicklich zielstrebiger vorangehen.

Als Eagle ihnen die unterirdischen Bäder gezeigt hatte, hatten ihre Augen geleuchtet. Das klare, warme Wasser hatte sehr zu Desiderius‘ Genesung beigetragen. Heute brauchte er die Wasserbecken nur noch für vergnüglichere Dinge.

Leise bog er in den Raum ein. Runde Säulen umschlossen das im Boden eingelassene Becken, dessen klares Wasser leichte Wellen schlug. In der Mitte des Beckens befand sich eine Statue, drei Nachtschattenkatzen aus weißen Marmor saßen aufrecht auf einem Podest in einem Kreis, aus deren Münder flossen Wasserfälle, die für stetigen Zufluss frischen Wassers aus dem Gebirge sorgten, ein Abfluss unterhalb der Wasseroberfläche spülte das dreckige Wasser zurück in den Felsen, wo es durch den Berg gefiltert wurde.

Langsam schritt Desiderius am Rand des Beckens entlang, verborgen hinter den schmalen Deckensäulen, der Mosaikfußboden unter seinen Füßen fühlte sich durch den Wasserdampf warm und feucht an. Eine Dienstmagd trat ein und kippte zwei volle Krüge mit heißem Wasser in das Becken. Sie bemerkte ihn nicht, ebenso wenig wie der badende Mann.

»Das war nicht nötig, aber danke«, hörte Desiderius ihn sagen.

Die Dienstmagd lächelte und machte einen vornehmen Knickst. »Stets zu Diensten, Herr.« Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie Desiderius, der gegenüber von ihr halb hinter einer Säule versteckt zu ihr blickte.

Noch bevor sie auf ihn aufmerksam machen konnte, schüttelte er streng den Kopf.

Sie kämpfte mit einem amüsierten Lächeln, als sie sich zurückzog. Glücklicherweise hatte der Badende keine Augen mehr für sie gehabt, und ihre Belustigung nicht bemerkt.

Angeregt beobachtete Desiderius den Rücken des jungen Mannes, der sich allein im Raum glaubte.

Er stand am Beckenrand, mit dem Rücken zur Statue, und rieb seine Arme und Schultern mit duftendem Blütenöl ein, das aus Erfahrung seine Haut seidenzart werden ließ.

Desiderius` Atem ging schwerer, je weiter er zusah. Während die Hände des anderen Mannes an dem geschmeidigen Körper hinabwanderten und das glänzende Öl auf Brust und Bauch verteilten, glitten auch Desiderius‘ Hände an sich hinab, zu dem Fleisch zwischen seinen Beinen, das unter dem Morgenmantel rasch an Härte gewann. Gebannt sah er dabei zu, wie der andere selbst in tiefere Körperregion gelangte und stöhnend den Kopf in den Nacken legte.

Mit einem lüsternen Lächeln ließ Desiderius den Morgenmantel am Rand des Beckens zu Boden fallen und stieg leise in das Wasser.

Cohen zuckte heftig zusammen, als er sich an dessen feuchten Rücken drängte.

»Ich bin es«, hauchte Desiderius ihm rau ins Ohr. Er umschlang Cohen von hinten, sofort lehnte sich der Körper seines Liebhabers an seine Brust und schmiegte sich wie eine glitschige Schlange an ihn, die herrlich nach Lilien duftete.

Der Geruch berauschte die Sinne beider Männer gleicher Maßen.

Trotzdem griff Cohen noch vor dem Austausch von Zärtlichkeiten rasch nach der schwarzen Augenklappe, die direkt neben ihnen am Beckenrand lag, und die für gewöhnlich seine zugenähte leere Augenhöhle und die schräg darüber laufende tiefe Narbe verdeckte.

Es gelang Desiderius, ihn daran zu hindern. Er umfing Cohens Handgelenk und zwang den ausgestreckten Arm zurück, während er versicherte: »Die brauchst du nicht.«

Das Zögern in Cohens Gliedmaßen war deutlich zu spüren und mit bloßem Auge zu erkennen, aber als Desiderius ihm seine Härte in den Rücken stupste, war Cohen bereit, die Augenklappe zu vergessen.

Desiderius führte seine Hände an Cohens eingeölter Brust hinab über das Spiel der strammen Bauchmuskeln bis zwischen seine Beine, wo er Cohens Finger durch seine ersetzte.

»Lass mich dir helfen«, hauchte er ihm heiser vor Lust zu und knabberte an seinem Ohrläppchen.

Cohen ergab sich mit einem leisen Keuchen. Er legte den Kopf schief und fuhr mit den nassen Fingern in Desiderius‘ dunkles Haar, um ihn an seinen Hals zu ziehen.

Küssend liebkoste Desiderius Cohens schlanken Hals, fuhr hauchzart mit der Zungenspitze durch die Kuhle seines Schlüsselbeins, das Öl, das seine Haut bedeckte, schmeckte bitter auf Desiderius‘ Zunge.

Sanft massierte Desiderius das lieblich duftende Öl in die erhitzte Haut ein, das Cohen bereits auf seinem Körper verteilt hatte, bis der glänzende Leib unter seinen Berührungen restlos entspannt an seiner Brust lehnte.

Mit einem stetigen Schmatzen fuhr seine kräftige Hand an Cohens aufgestelltem Glied rauf und runter, die zur Faust geballten Finger kannten keine Gnade für das harte Fleisch, und brachten es schnell zum Pulsieren. Cohens Atem wurde lauter, schwerer.

»Ich bin ohne dich aufgewacht«, flüsterte Desiderius ein wenig anklagend in das Ohr seines Liebhabers, und küsste erneut zärtlich dessen Hals.

Cohen rieb das Gesicht an Desiderius‘ rauen Bartstoppeln. »Die Hitze trieb mich aus deinem Bett, ich wollte dich so früh nicht wecken.«

»Hättest du es nur getan«, seufzte Desiderius.

»Wieder dieser Alptraum?« Cohens Becken zuckte vor und zurück, um das ölbeschmierte Glied in Desiderius‘ Faust zu stoßen. Dabei drängte sich Desiderius von hinten an ihn und presste sein eigenes hartes Fleisch zwischen die zwei prallen Pobacken, um zu verdeutlichen, dass er auch noch da war. Liebevoll strich Cohen ihm durchs Haar, sein sündhaft süßer Mund küsste Desiderius‘ Mundwinkel, als wollte er ihn um Verzeihung bitten.

Mit einem abfälligen Brummen antwortete Desiderius auf die Frage. »Ich fürchte, ich werde diese Wand bald einreißen müssen.«

»Es ist nur ein Traum«, versuchte Cohen ihn zu beruhigen, er zog ihn wieder an seinen Hals. »Die Mauern, die uns umschließen, sind dir fremd, dein Verstand spielt dir Streiche, weil du dich unwohl fühlst. Sprich mit Bellzazar über den Traum, wenn du Zweifel hast – Oh, das fühlt sich gut an.«

Desiderius leckte noch einmal Cohens Halsseite hinauf bis zum Ohrläppchen, und sog den Duft der feuchten Haut in seine geblähten Nasenflügel. »Reden wir nicht über meine Träume, lass uns lieber versuchen, sie in Vergessenheit geraten zu lassen.«

Seine Hand fuhr über den steinharten Körper nach oben und legte sich sanft um die schlanke Kehle. Mit einem Lächeln ließ Cohen den Kopf zurückfallen und zog mit beiden Händen Desiderius an seinen Mund heran. Umgehend fanden sich ihre Lippen, bewegten sich lieblich aufeinander. Desiderius‘ Zunge glitt verspielt in Cohens Mund und nahm ihn in Besitz, während seine Faust mit Cohens Hüfte einen gemeinsamen Rhythmus fand. Cohen stöhnte in den Kuss hinein, erstickend an seiner eigenen Lust.

Während sie sich küssten, schabte Desiderius etwas Öl mit der Hand von Cohens Körper, um es anschließend auf seinem eigenen Glied zu verteilen. Mit dem Knie schob Desiderius behutsam Cohens Schenkel auseinander, er drängte ihn, das Bein auf den Beckenrand zu stellen. Er ging ein wenig in die Knie, wie von selbst fand die Spitze seiner Männlichkeit den Zugang zu Cohens warmen Innerem.

Der Muskelring zuckte, war jedoch noch ganz hart.

»Lass mich gewähren«, hauchte Desiderius seinem Liebsten lüstern zu, erneut legte er ihm die Hand um die Kehle und zwang den Kopf wieder in den Nacken, um ihn mit Lippen und Zunge in Ektase zu treiben. Dank seiner animalischen Küsse und seiner überaus geschickten Faust, die Cohens hartes Fleisch geradezu melkte, dauerte es kaum einen ganzen Augenblick, bis seine speerförmige Eichel durch die zuckende Barriere drang.

Cohen stieß ein Japsen aus, das Desiderius mit seinen Lippen erstickte. Starke Finger krallten sich in seinem dunklen, kräftigen Haar fest und zerrten daran, bis sie in unbequemer Stellung aufeinanderhingen; zwei verkrampfte Körper, die einander brauchten.

Es schien Cohen nicht zu stören, er bewegte weiter das Becken, um sein geschwollenes Glied in Desiderius` Faust zu stoßen, womit er sich immer wieder selbst aufspießte.

Keuchend rieben sie die langsam erhitzten Gesichter aneinander, während Cohen ihren Rhythmus ganz allein bestimmte, immer und immer wieder fanden sich ihre Münder zu stürmischen, atemlosen Küssen. Cohen biss Desiderius fest in die Unterlippe, sodass ihm ein heißer Schauer über den Nacken direkt ins Rückgrat lief. Das Wasser bewegte sich zusammen mit ihnen, die Wellen leckten an ihren Schenkeln und Genitalien, feucht und warm, wie tausend gierige Münder.

Es dauert nicht lange, bis die heiße Begierde sein Blut zum Kochen und sein hartes Fleisch zum Zucken brachte. Er spürte das Brennen in den Eingeweiden, das von seinem Magen in seine Lenden hin ausstrahlte, fühlte seine Hoden sich zusammenziehen, während sie im warmen Wasser gegen Cohens Schenkel stießen.

Er fluchte heiser an Cohens Lippen, es war ihr unausgesprochenes Zeichen dafür, dass er voreilig dem erlösenden Ende entgegensah. Cohen lächelte froh darüber, fuhr neckisch mit der Zungenspitze Desiderius‘ Grübchen in den Mundwinkeln nach, um ihn noch weiter zu provozieren.

»Warte, warte, warte«, japste Desiderius rasch hintereinander, doch es war bereits zu spät, die Welle der Lust schwappte über ihn hinweg und brachte ihn zum Beben. Noch einmal stieß er tief zu, versenkte sich bis zur Wurzel, sodass Cohen unwillkürlich grunzte und nach vorn gestoßen wurde. Er war zu tief. Doch Glücklicherweise war es genau das, was Cohen gebraucht hatte, um mit ihm den kleinen Tod zu sterben.

Zuckend ergoss sich sein Glied über Desiderius‘ Faust und Handgelenk auf das Mosaik am Beckenrand, während sein Innerstes um Desiderius‘ hartem Fleisch herum pulsierte.

Sie lehnten sich gegeneinander, während der Höhepunkt andauerte, erzitterten miteinander, streichelten und küssten sich, während sie einen der schönsten Augenblicke im Leben eines Sterblichen gemeinsam erlebten.

Als das Beben in ihren Leibern gemächlich abklang, legten sie die Köpfe aneinander und verfielen in ein angenehmes Schweigen. Zärtlich kraulten Cohens Finger Desiderius‘ Haar, an dem er vor wenigen Augenblicken noch gierig gezerrt hatte. Liebkosend knabberte Desiderius mit leerem Kopf und weit entfernt von jedweden Gedanken an Cohens Schulter.

Bis Cohen schließlich entspannt seufzte. »Ich liebe dich.«

Desiderius rieb die Nasenspitze an Cohens Hals, atmete seinen süßen Duft ein. »Und ich liebe dich.«

Doch wie stehts klang dieser Schwur seltsam belegt, was Cohen jedoch gerne überhörte.

Glücklich lächelnd ließ Cohen seinen Körper in Desiderius‘ Umarmung erschlaffen. Doch Desiderius zog sich behutsam aus ihm zurück.

Cohen spürte die plötzlich aufkommende körperliche wie geistige Distanz und bat leise, jedoch nicht flehend: »Bitte, bleib noch.«

Seiner Stimme war anzuhören, dass er wusste, dass seine Bitte kein Gehört fand.

Die Zeit drängte, die Übungen warteten, und zwar auf sie Beide. Noch einmal küsste Desiderius Cohens Hals, dann ließ er ihn los und wandte sich ab.

Er hörte keinen weiteren Protest, doch hätte er sich umgedreht, hätte er Cohens enttäuscht hängenden Kopf bemerkt.

***

Als er wenig später auf die Wehrgänge der Festung trat, trug er bereits seine vollständige Montur. Das dunkle Drachenleder seiner Rüstung war dick genug, um seinen Körper zu schützen, behinderte aber nicht seine Wendigkeit, wie es eine schwere Plattenrüstung getan hätte.

Desiderius verschloss die letzten Riemen an seinen Armen und ließ seinen Blick über das Land schweifen, das sich unter ihm erstreckte.

Die Sonne schien auf die Festung hinab, die zwischen grauen Bergspitzen emporragte. Der Himmel war klar und erstrahlte in einem endlosen Hellblau, der dunkle Schatten am nördlichen Horizont, wo die Dämonen die Schwarze Stadt beherrschten, war noch sehr weit entfernt. Vögel zogen singend durch das Gebirge im Westen, das Rauschen des Tobenden Meeres war zu hören, die dunklen Wellen waren in Richtung Osten weit unterhalb des Gebirges zu entdecken, und hinter ihm im Süden – Südosten, wenn man es genau nehmen wollte – kroch die Hitze aus der Wildnis den Gebirgspass empor und brachte einen heißen Sommer mit sich. Von hier oben aus war es fast, als könnte er alles in Nohva überwachen.

Ein plötzliches lautes Krachen ließ ihn herumfahren und dem Anblick seiner geliebten Heimat den Rücken kehren.

Er schritt über den Wehrgang und blickte auf die Übungsplätze nahe bei der Kaserne hinab. Das Klirren der Schwerter war verstummt.

Soldaten halfen sich laut fluchend gegenseitig wieder auf die Beine, einige von ihnen lagen in den Trümmern eines alten Karrens.

»Und ihr wollt gegen Dämonen kämpfen, ihr schwächlichen Sterblichen?« Es war Bellzazar, der mit den Soldaten trainierte, und er war wie jeden Tag unerbittlich. »Das war eine einfache Druckwelle. Ein Taschentrick! Bei euren verfluchten Göttern, genügt das denn wirklich schon, um eure Linie zu durchbrechen. Ihr da!«

Bellzazar schritt vor den frustrierten Soldaten auf und ab, sein schwarzer Umhang wehte im lauen Wind, die gewellte Klinge seines Zweihänders blitzte in der Sonne, als er mit der Spitze auf einen Kommandanten deutete und ihn in die Mangel nahm.

»Was starrt Ihr so verblüfft aus der Wäsche? Warum macht Ihr von Eurer Befehlsgewalt keinen Gebrauch und lasst die Lücke von Euren Männern schließen?«

Desiderius lehnte sich gemächlich auf einen Mauervorsprung und beobachtete die Übungen.

»In der Zwischenzeit sind hunderte Dämonen durch diese Linie gebrochen und zerfleischen gerade eure Kameraden«, rief Bellzazar laut und tadelnd, damit die knapp zweihundert Soldaten ihn hören konnten. Es waren nur ein Bruchteil der Kräfte, die sie tatsächlich zur Verfügung hatten, Bellzazar bildete jedoch nur die Besten der Besten aus.

»Wir veranstalten hier kein Kaffeekränzchen, meine Damen, das ist bitterer Ernst. Wenn schon die kleinste Druckwelle die Formation schwächen kann, wird sich eure Front kaum einen Augenblick lang im Kampf halten können! Und dann sind wir alle verloren.«

»Das ist nicht gerecht, Ihr seid unbesiegbar!« Einer der Soldaten stampfte aufmüpfig mit dem Fuß auf.

Desiderius sah in seinen jungen Augen die gleiche Frustration wie bei all den anderen. Es lag keineswegs an irgendeinem Mangel ihrer Fähigkeiten, dass sie an Bellzazar scheiterten, diese Männer waren sich einfach noch nicht sicher, wofür sie sich überhaupt in eine solche Gefahr begeben sollten. Sie hätten keinen Augenblick gezögert, sich gegen Rahffs und Schavellens Truppen zu stellen, doch als Desiderius vor einigen Wochen ihr erstes Ziel verkündet hatte, waren sie unsicher geworden.

»Unsterblich, aber nicht unbesiegbar, mein sterblicher Freund«, wandte Bellzazar ein. Er schritt vor der sich langsam wieder aufstellenden Reihe der Soldaten wie ein strenger General auf und ab. Desiderius hatte den Eindruck, sein Bruder wäre für diesen Posten geboren worden. Das brachte ihn zum Schmunzeln.

»Wenn ihr mich bereits für unbesiegbar haltet, dann wird euch eine unerfreuliche Überraschung erwarten, denn ich bin bei weitem nicht so stark, wie die Dämonen, auf die wir treffen werden, und ich habe nicht einmal meine ganzen Kräfte benutzt. Ihr müsst euch jetzt mal alle zusammennehmen.«

»Warum wir?«, rief einer der Kommandanten zornig. »Was ist mit den Desserteuren, diesen dreckigen Menschen? Warum schicken wir die nicht an die Front?«

»Ja«, stimmten einige mit ihm überein.

»Sie sind doch auch Schuld, dass die Dämonen einen Weg in unsere Welt fanden!«

»Schnauze!«, schalte Bellzazar sie. »Denn genau genommen ist jeder Sterbliche schuld daran. Ja, selbst ihr, eure Eltern, selbst eure lieben Großmütter, haben das Land zu dem gemacht, was es heute ist: verbrannt vom Krieg. Asche.«

Bellzazar ließ die Worte einen Moment wirken, ehe er etwas versöhnlicher fortfuhr: »Außerdem solltet ihr nicht gegen eure Verbündeten sticheln. Ja, sie sind Menschen, aber auch Soldaten wie ihr es seid. Sie haben nur getan, was ihre Pflicht war, hatten aber den Mut, ihre Ehre mit Füßen zu treten, um den Unschuldigen zu helfen. Steht zusammen, wir sind zu wenige, um uns den Luxus erlauben zu können, andere zu hassen.«

»Und außerdem seid ihr Luzianer!« Desiderius laute Stimme ließ die geknickt hängengelassenen Köpfe der mutlosen Soldaten wieder aufsehen.

Er kam die Treppe hinunter und ging mit vor Stolz erhobenem Kinn auf die Linie zu. »Unser Volk kann nicht von Dämonen besessen sein. Wollt ihr lieber die wenigen Menschen vorschicken, die sich uns als Verbündete anschlossen, und unseren Sieg riskieren, weil ihr selbst Angst habt?«

Räuspern und Husten ging durch die Reihen, kaum einer wagte es, Desiderius‘ in die Augen zu blicken, und diejenigen, die es taten, senkten umgehend wieder ihre Köpfe.

»Gleichwohl ich diese Furcht verstehe«, lenkte Desiderius ein und lächelte die Soldaten an, deren Augen ihn durch die winzigen Öffnungen ihrer hellglänzenden Eisenhelme entgegensahen. »Auch ich fürchte die Magie, vor allem Zazars Taschenspielertricks.«

Sie lachten zögerlich.

»Aber ich werde euch beweisen, dass selbst Dämonen fallen!« Desiderius zog das Drachenflügelschwert aus der Scheide. Für einen herrlichen Moment erklang die Melodie der Klinge auf dem totenstillen Hof, ehe der lauwarme Wind sie ins Gebirge hinaustragen konnte. Auf einer nahegelegenen Weide wieherte Wanderer und tänzelte aufgeregt am Zaun auf und ab, als erwartete er, dass sie umgehend in eine Schlacht reiten würden.

Der arme Hengst benötigte dringend Beschäftigung. Während seiner Genesung und den Übungen danach, hatte Desiderius kaum Zeit für seinen Rappen gefunden. Er nahm sich vor, mal wieder gemeinsam mit Cohen am Abend einen Ausritt mit Wanderer zu machen. Damit würde er auch bei Cohen wieder gut machen, dass er ihn allein im Wasser zurückgelassen hatte.

Aber zunächst musste er bei seinen Soldaten den Kampfgeist wecken.

Desiderius drehte sich zu seinem Bruder um, auf dessen schmalen Lippen ein amüsiertes Lächeln lag. »Ich werde wohl nicht extra bitten müssen.«

»Ich hätte nichts gegen einen vornehmen Knicks von dir«, grinste Bellzazar, seine dunklen Augen färbten sich blau und blitzten herausfordernd, als sich ihre Blicke trafen.

»Dafür müsstest du mir schon ein Bein stellen.« Desiderius drehte sich in Kampfhaltung zu ihm um.

Bellzazar trat zwei Schritte zurück, ehe auch er Haltung annahm. »Das lässt sich einfädeln.«

»Ach, ich könnte dich mittlerweile im Schlaf besiegen«, schnaubte Desiderius arrogant. Er war guter Dinge an jenem Morgen. Eigentlich erging es ihm an fast jeden Morgen so, sofern er nicht gerade an die vergangenen zwei Jahrzehnte erinnert wurde. Und wenn er guter Laune war, schien auch Bellzazar froh zu sein.

»Du bist überheblich.« Bellzazar richtete sich auf, als ärgerte er sich darüber, und ließ das Schwert locker in der Hand baumeln. Doch sein Grinsen wurde breiter. »Welch ein Glück, dass ich das auch bin.«

Mit einem Mut gewinnenden Kampfgebrüll stürmte Desiderius auf seinen Bruder zu, doch statt das Schwert, erhob Bellzazar den Arm und streckte die freie Hand mit zu krallengeformten Fingern nach Desiderius aus.

Ein kaum zu erkennendes Flimmern schoss von Bellzazar aus auf ihn zu, wie eine aus Luft bestehende Sense. Bevor die Druckwelle ihn traf, warf Desiderius den Oberkörper zurück, bis sein Hinterkopf fast den Boden berührte. Er spürte einen Stich in der Wirbelsäule, ignorierte den Schmerz aber. Die Druckwelle zischte knapp über ihn hinweg und schleuderte eine Wache, die hinter ihm an der Zugangstreppe der Wehrgänge gestanden hatte, gegen die Mauer.

Die Soldaten sahen mit offenen Mündern der Druckwelle hinter her, während Desiderius weiter auf Bellzazar zustürmte. Es dauerte einen Moment, bis die Männer begriffen hatten, was geschehen war, doch dann jubelten sie und feuerten den Blutdrachen an, Bellzazar – in ihren Worten – fertig zu machen.

***

Obwohl es für Cohen nicht ungewöhnlich sein sollte, allein zurückgelassen zu werden, nachdem er Leidenschaft mit Desiderius ausgetauscht hatte, stellte sich bei ihm jedes Mal aufs Neue tiefe Enttäuschung ein.

Cohen wusste, dass es ihm nicht zustand, traurig deswegen zu sein, er konnte sich schon glücklich schätzen, dass der Mann, den er liebte, nachts neben ihm liegen blieb und zumindest seit einigen Nächten nicht mehr ständig Wexmells Namen flüsterte wie eine Beschwörungsformel. Dennoch schlug sein Herz schwer und langsam, als er aus dem Wasser stieg und sich ankleidete. Ihm war durchausbewusst, dass Desiderius sein Bestes gab, um Cohen gut zu behandeln, trotzdem schlichen sich durchweg immer wieder jene schlechten Gedanken in Cohens Bewusstsein, er sei nur eine Ablenkung, ein netter Zeitvertreib. Möglicherweise lag dies daran, dass er sich selbst nicht sonderlich wertschätzte. Also konnte er Desiderius wohl kaum einen Vorwurf machen. Das würde er auch nie tun. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er enttäuscht war und an Desiderius‘ Gefühlen zweifelte.

Das heiße Bad und das Blütenöl, dass er nach Rezept seiner Mutter selbst herstellte, hatten seine Haut weich und wohlduftend gemacht, sodass es ihm wie eine Misshandlung vorkam, sich jetzt in die rauen Unterkleider zu zwingen. Aber die Pflicht rief ihn, er war schon spät dran. Er legte die Augenklappe an, weil er niemanden seine Narbe zeigen wollte, und ging durch die Flure zu seinem Schlafgemach, das er ohnehin selten benutzte – nur um sich für das Training anzukleiden – da er die meisten Nächte von Desiderius in dessen Bett gelockt wurde.

Als Cohen die massive Holztür öffnete, stach ihm umgehend etwas ins Auge, das nicht in diesen Raum gehörte. Zumindest war es noch nicht anwesend gewesen, als er zuletzt nachgesehen hatte. Auf seinem Bett, auf dem seine Rüstung bereitlag, die er sich aus der verfluchten Dorfkirche am Östlichen Fluss angeeignet hatte, entdeckte er auch ein langes, in Leder gehülltes Geschenk. Eine einzelne orangefarbene – seine Lieblingsfarbe – Lilie lag darauf, und gab Aufschluss, von wem die Gabe kam.

Kopfschüttelnd trat Cohen in seine sonnenlichtgefluteten Gemächer und schalte sich einen Narren, weil er Desiderius anlasten wollte, ihn nicht wie einen Geliebten zu behandeln, nur weil er morgens lieber die Übungsplätze aufsuchte, statt noch eine Weile mit ihm zu verbringen. Dabei war Desiderius nicht im Geringsten rücksichtslos oder kalt gegenüber Cohens Gefühlen, er war einfach pflichtbewusst und in großer Eile.

Der Krieg wartete auf niemanden, irgendwann würde er sie einholen, wenn sie ihm nicht entgegentraten. Das war alles, was Desiderius umtrieb. Würde Cohen ihm nichts außer die Befriedigung seiner Bedürfnisse bedeuten, würde Desiderius ihn wohl kaum jede Nacht nach dem Beischlaf in seine Arme ziehen und festhalten. Er würde auch die Abende nicht mit ihm verbringen, oder sich auf seine stille Weise für sein Verhalten entschuldigen.

Cohen trat an das Fußende des großen Bettes heran und nahm die Lilien in die Hand, er schnupperte kurz daran, liebte diesen lieblichen Duft, der seine Sinne berauschte. Behutsam legte er die verletzliche Blüte Beiseite, nahm sich vor, sie in Wasser zustellen, um länger davon zu haben, und griff nach dem in ledergehüllten Paket. Es war sehr lang und an einer Seite leicht gebogen, die Form verriet ihn bereits, was es sein könnte.

Lächelnd wickelte er den Langbogen aus, umgehend leuchteten seine Augen voller Ehrfurcht. Er drehte die Waffe herum und fuhr mit den Fingerspitzen über das schwarze Holz, in das liebevolle Handarbeiten eingekerbt waren. Es musste lange gedauert haben, diesen einzigartigen Bogen anzufertigen, weshalb er nun auch verstand, warum Desiderius die letzten Wochen viel Zeit in der Werkstatt verbracht hatte.

Während Cohen den Bogen eingehend betrachtete und bereits befürchtete, es nicht übers Herz zu bringen, ihn im Kampf zu benutzen, bemerkte Cohen abgesehen von den filigranen Mustern im Holz eine Gravierung im inneren Griff.

Dort stand feinsäuberlich: Weil ich dich brauche. In Liebe, Desiderius.

Cohen biss sich glücklich lächelnd in die Unterlippe, vergessen war die Enttäuschung, das Desiderius nicht noch eine Weile mit ihm gebadet hatte, zurück blieb nur ein warmes Gefühl in der Herzgegend, während Cohen an seinen Blutdrachen dachte.

»Du romantischer Drecksack«, sagte er halblachend, »du hast es mal wieder geschafft.«

Von draußen vom Hof her erklang Jubel. Cohen legte den Bogen behutsam auf das Bett und sah nach, was die Männer plötzlich in derartige Hochstimmung brachte. Seit Wochen herrschten Zweifel und Frustration auf der Festung. Zwiespalt hatte sich ausgebreitet, während die einen Eagle als Befreier feierten, begegneten die anderen ihn mit Argwohn, weil er weiterhin der Sohn der Verräterin blieb. Und Eagle war noch nicht bereit gewesen, zu seinen Männern zu sprechen. Cohen und Desiderius hofften seit Tagen darauf, Eagle würde sich seinen Männern endlich zeigen.

Doch als Cohen an sein Fenster trat und von der oberen Festung hinab auf die Übungsplätze blickte, war von Eagle nichts zu sehen. Dafür erkannte er recht schnell den Grund für die gute Laune unter den Soldaten.

Desiderius und Bellzazar waren in ein Duell verstrickt, wie man es nur auf dieser Festung geboten bekam. Magisch leuchtende Schwerter durchschnitten die Luft, Feuerbälle flogen herum, wendige Muskeln spielten unter Stoff- und Lederrüstungen, während zwei große Männer einander attackierten. Selbst von hier oben aus konnte Cohen das kindische, freche Lächeln erkennen, das auf beiden Gesichtern lag. Wie zwei junge Wölfe rauften die beiden Urgewalten miteinander, sie schenkten sich nichts.

Cohen hätte all sein Vermögen – nicht, das er etwas Wertvolles besaß, abgesehen von seinen Waffen und seiner Rüstung – auf seinen Blutdrachen gesetzt, doch Bellzazar forderte Desiderius alles an Können ab.

Letztlich wurde Bellzazar jedoch besiegt – und sei es nur vorgetäuscht, um den Soldaten Hoffnung zu schenken. Desiderius wich einer Feuerkugel aus, warf sich nach vorne, zog Bellzazar die Beine weg und beförderte ihn auf den Boden. Die Soldaten verstummten und hielten die Luft an. Mit einem lauten Krachen kam der Dämon auf dem Rücken zum Erliegen, Staub wirbelte auf, Desiderius trat ihm das Schwert aus der Hand und stellte einen Fuß auf seine Brust.

Mit einem Triumphgeschrei streckte der Blutdrache das Schwert gen Himmel, sofort bejubelten ihn die Soldaten.

»Seht ihr!«, brüllte Desiderius den Männern entgegen. »Er ist nicht unbesiegbar. Wenn ich das kann, könnt ihr das schon lange. Kommt her! Kommt her und übt mit uns, auf dass wir den Dämonen das Fürchten lehren. Denn wir sind Luzianer, und wir sind die Unbesiegbaren!«

Erneuter Jubel brach aus, dann schwärmten die Soldatenreihen aus, um mit den beiden Urgewalten für einen Kampf zu üben, den viele von ihnen nicht überleben werden.

Aber obwohl das Wissen darum in den Köpfen aller war, gelang es Desiderius, ihnen den Mut zu schenken, den sie brauchten, um mit Kampfeswillen in die Schlacht zu ziehen.

Das war es, was einen guten Kommandanten ausmachte. Cohen bemerkte immer wieder, dass Desiderius der geborene Heerführer war. Er erreichte die Herzen der Männer, er war einer von ihnen, er wusste, was sie fühlten, was sie hören mussten, und die Soldaten bewunderten ihn für seinen Mut und seine Stärke. Cohen fühlte es ihnen nach. Wenn er jemandes Fähigkeiten vertraute, dann denen des Blutdrachen. Von Beginn an.

Während Cohen seinen Liebsten einen Moment betrachtete, schien Desiderius zu spüren, dass er beobachtet wurde. Er sah sich zwischen zwei Übungen um und entdeckte Cohen am Fenster. Sofort leuchteten seine Augen glücklich auf, er lächelte und zwinkerte ihm verstohlen zu.

Cohen musste unwillkürlich zurück lächeln.

»Elgouo Joif udmmf zofjf, Hosiorfou«, flüsterte der Drache.

Unsere Zeit kommt jetzt, Geliebter.

Geliebter! Und nicht mehr nur Flüsterer!

Ja, dachte Cohen und nickte. Und an jenem Morgen hegte er keinerlei Zweifel mehr daran, dass Desiderius‘ Liebe zu ihm wahrhaftig war.

Der verborgene Erbe

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