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KILOMETER 5 IN DEN LEISTUNGSSPORT

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Ich bin ein Freund des Bauchgefühls. Ein kühler Kopf, der zu rationalen Gedanken fähig ist, gefällt mir zwar auch gut, aber ich habe in meiner Laufkarriere schon mehrmals erlebt, dass es das Bauchgefühl war, das mir den richtigen Weg gewiesen hat. So war es auch, als ich an der Schwelle zum Leistungssport stand.

Im Herbst 2005 entschied Harry Olbrich, dass seine Trainingsgruppe so groß geworden sei, dass er Unterstützung brauchte. Sein früherer Laufkollege Frank Zimmermann, zu der Zeit Ingenieur beim Mercedes Benz, war in den 1970er-Jahren einer der besten deutschen Langstreckenläufer gewesen, hatte mehrfach den deutschen Meistertitel über 5000 Meter gewonnen und mit 13:18 Minuten über 5000 und 27:42 Minuten über 10.000 Meter wahnsinnig starke Bestzeiten erreicht, die ihn noch immer weit oben in der ewigen deutschen Bestenliste platzieren.

Wir lernten uns in einem Trainingslager im Schwarzwald kennen. Frank wollte nur Leute in seiner Gruppe, die es ernst meinten, damit sich sein Aufwand, die Trainingsarbeit zusätzlich neben dem Hauptberuf zu machen, auch lohnte. Das konnte ich nachvollziehen, und wir entwickelten sofort einen guten Draht zueinander. Also beschloss ich, weil mein Bauch auch zustimmte, gemeinsam mit meinem Teamkollegen Arne Lorenz bei Frank zu trainieren.

Die ersten Monate nach einer jahrelangen unbeständigen Phase, die mir meine Wachstumsprobleme beschert hatten, sind enorm wichtig für den Wiedereinstieg. Frank, der seine eigene Karriere Mitte 20 wegen anhaltender Beschwerden im Knie und an der Achillessehne hatte beenden müssen, fand genau die richtige Mischung aus behutsamem Aufbau und forderndem Anspruch. Anfangs lief ich nur auf Rasen, um die Ermüdungsbrüche in Fuß und Wadenbein nicht überzubelasten. Es ging nicht um wahnsinnige Umfänge, sondern um einen sinnvollen Aufbau, und so trainierte ich sechsmal die Woche vor allem Grundlagenausdauer und Athletik. Der Plan war, dass ich mich zunächst auf den kürzeren Distanzen wie 1500 und 3000 Meter verbessern sollte, um meine Schnelligkeit zu trainieren. Wir arbeiteten mit Bergläufen und Fahrtspielen, setzten die Tempoläufe aus dem klassischen Mittelstreckentraining eher dosiert ein, weil Frank zunächst eine solide Basis aufbauen wollte.

Dass uns das gelungen war, konnten wir wenige Monate später bei den deutschen Crossmeisterschaften im März 2006 in Regensburg sehen. Ich rannte erstmals in die Top acht der Einzelwertung der männlichen Jugend A, was eine großartige Bestätigung für unsere Arbeit war. Beim Einstieg in die Bahnsaison verbesserte ich meine Bestzeit über 3000 Meter auf 8:33 Minuten, und so war Frank davon überzeugt, dass ich auch bei den Deutschen A-Jugend-Meisterschaften im Juli in Wattenscheid eine gute Leistung zeigen konnte.

Schon die Anreise dorthin hatte Stil: Frank konnte von seinem Arbeitgeber Testfahrzeuge übers Wochenende privat nutzen. Und so reisten wir in einem sehr gut motorisierten Mercedes höchst komfortabel ins Ruhrgebiet. Unsere Zielsetzung war, den achten Rang der Cross-DM zu bestätigen, aber wenn ich ehrlich bin, wussten wir beide überhaupt nicht, auf welchem Stand ich wirklich war und wie ich mit der Konkurrenz würde mithalten können. Trotz meiner 19 Jahre waren das meine ersten deutschen Einzelmeisterschaften in einem Stadion.

Das Rennen ging über die in der Jugend klassische 3000-Meter-Distanz. Mit am Start waren auch Thorsten Baumeister aus Trier und Rico Schwarz aus Erfurt, die als die Jungstars der Szene galten. Sie hatten zwei Tage zuvor auch schon die 5000 Meter unter sich ausgemacht und wirkten auf mich sehr siegessicher. Wie bei taktischen Meisterschaftsrennen üblich waren die ersten 1000 Meter noch recht gemächlich, das Feld sortierte sich. Bei den zweiten 1000 ging es langsam zur Sache, und auf den letzten 1000 blieb ich so lange an Thorsten und Rico dran, dass wir innerhalb einer Sekunde gemeinsam ins Ziel liefen. Rico als Erster in 8:21,82 Minuten, dann Thorsten in 8:22,20 und als Dritter ich in 8:22,91. Ich konnte es kaum fassen, ich hatte meine Bestzeit um zehn Sekunden verbessert!

Genauso fassungslos waren auch Rico und Thorsten, weil da auf einmal jemand mit ihnen mitgehalten hatte, den sie gar nicht kannten. Es ist in dieser Altersklasse durchaus ungewöhnlich, wenn aus dem Nichts jemand aufs Treppchen läuft. Normalerweise kennt man seine Konkurrenten von vielen anderen Wettkämpfen aus den Jahren zuvor. Aber da ich in der Jugend nicht an Wettkämpfen hatte teilnehmen können, war es für Rico und Thorsten ein bisschen so wie in einem Sketch, in dem der Stadionsprecher ins Mikrofon brüllt: „Das, meine Damen und Herren, war Philipp Pflieger, wie Sie ihn noch nie gesehen haben! Und zwar, weil Sie ihn noch nie gesehen haben!“

Ganz nebenbei hatte ich die Norm für den Bundeskader, von deren Existenz ich bis dato überhaupt keine Kenntnis hatte, um nur eine Sekunde verpasst. Das rief den Bundestrainer auf den Plan, der mich logischerweise auch nicht kannte. Detlef Uhlemann kam also zu mir und fragte, ob ich in Sindelfingen bei Harry Olbrich trainieren würde. Nein, antwortete ich, der sei zwar lange mein Coach gewesen, inzwischen würde ich aber mit Frank Zimmermann arbeiten. „Ich kannte auch mal einen Frank Zimmermann, gegen den bin ich früher Rennen gelaufen“, sagte Detlef Uhlemann. Und so kam es, dass sich zwei frühere Konkurrenten nach Jahrzehnten wiedertrafen …

Im Rückblick war diese Zeit für meine Entwicklung ein Wendepunkt. Das Gefühl, dass sich das Durchhalten gelohnt hatte, gab mir ein gewisses Maß an Zufriedenheit zurück. Es war eine Genugtuung, dass ich in der deutschen Spitze meiner Altersklasse mithalten konnte. Gleichzeitig war es ein riesiger Ansporn, jetzt richtig durchzustarten. Ich war ein unbeschriebenes Blatt; dass ich mich so rasant verbessert hatte, war angesichts meiner Vorgeschichte wahrscheinlich gar nicht so überraschend. Mein heutiger Trainer sagte dazu einmal: „Du hast einen Porsche-Motor in einem Trabi-Chassis“, was bedeutete, dass mein Körper für das, was in ihm steckte, noch nicht gebaut war. Es war klar, dass ich viel tun musste, um das zu ändern.

Der Profisport war zu dieser Zeit trotzdem noch sehr weit weg. Und ich war kein Jahrhunderttalent. Meine Eltern waren immer hinterher, dass ich der Schule und später dem Studium Vorrang geben sollte. Und auch Frank teilte diese Einstellung, die sich sicherlich aus seiner eigenen Erfahrung speiste. Er warnte davor, das gesamte Leben in den Schatten des Sports zu stellen.

Trotzdem war das ein tolles Gefühl, wie sich die ersten Erfolge auswirkten. Vom VfL Sindelfingen gab es nach der Medaille bei der U-20-DM erste kleine Zuschüsse, und wenn die anderen in meinem Jahrgang von ihren Schülerjobs erzählten, erzählte ich, dass ich mein erstes Geld mit meinem Sport verdiente. Natürlich haben meine Eltern den Löwenanteil finanziert, und sie haben nicht nur Geld investiert, sondern vor allem eine Menge Zeit, und dafür kann ich ihnen bis heute nicht genug danken.

Das erste Geld, das ich mit dem Laufen verdiente, wollte ich in jedem Fall in meine Sportkarriere investieren, auch wenn ich 2006 keinen blassen Schimmer hatte, in was genau. Für mich stellte sich zunächst die konkretere Frage, was im Sommer 2007 nach dem Abi anstand. Die Idee war, gemeinsam mit meinem besten Kumpel Basti Franz in einer Schule für behinderte Kinder in Sindelfingen den Zivildienst zu leisten und weiter bei Frank zu trainieren, denn dort lief es gut.

Ich fuhr also zur Musterung ins Kreiswehrersatzamt. Sechs Monate vorher hatte ich mich bei der Bundeswehr mal nach den Kriterien für die Aufnahme in die Sportfördergruppe erkundigt, diesen Gedanken aber angesichts der gemeinsamen Pläne mit Basti wieder verworfen. Also fragte ich die Dame am Empfang, wo man sich melden müsse, wenn man den Kriegsdienst verweigern wolle. „Ach, Sie wollen verweigern? Sie hatten doch Interesse an der Sportfördergruppe!“, war die Antwort. Interessant, was die über mich wissen, dachte ich. Gemustert werden muss man natürlich trotzdem, und diese Musterung hat mein Leben in einem Maße verändert, dass ich den kurzen Dialog nicht vergessen habe.

Arzt: „Herr Pflieger, treiben Sie Sport? Ich: „Gelegentlich.“ Arzt: „Ihr Sehtest war nicht gut. Für Ihre Körpergröße sind Sie an der Grenze zum Untergewicht. Außerdem haben Sie eine Verkrümmung der Wirbelsäule. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir Sie ausmustern?“ Ich: „Nein.“ Und schon hatte ich Tauglichkeitsstufe 5, für den Wehrdienst ungeeignet. Jackpot!

Die Konsequenz wurde mir erst auf der Rückfahrt bewusst. Was war jetzt der Plan B? Berufsausbildung oder Studium? Gut ist es dann, wenn man aufmerksame Eltern hat. Mein Vater hatte im Internet auf leichtathletik.de einen Artikel gesehen, dass es in Regensburg ein neues Projekt gab: ein Athletenhaus in unmittelbarer Nähe zur Universität, das der Verein LG Telis Finanz Regensburg für fünf Sportler anmieten würde, die Sport und Studium verbinden wollten.

Ich hatte zwar keinerlei Kontakte nach Regensburg und damals eigentlich auch keine Ambitionen, meine Trainingsgruppe zu verlassen, dennoch schrieb ich eine E-Mail und erhielt Antwort von Kurt Ring, der dann mein Trainer werden sollte: Ich solle doch mal zu einem Probetraining kommen, Und was soll ich sagen? Das Konzept hat mich total überzeugt. Einerseits wegen der sportlichen und universitären Infrastruktur, andererseits, weil ich das Gefühl hatte, dort – genauso wie in Sindelfingen – keine Nummer auf dem Papier zu sein, sondern in ein sehr menschliches, familiäres Umfeld eingebunden zu werden.

Für manche wirkte meine Entscheidung damals vielleicht überstürzt. Ich weiß, dass auch nicht jeder verstanden hat, warum ich mein funktionierendes Umfeld in Sindelfingen verlassen habe. Harry hat mir das ein Jahr lang übel genommen. Frank hat gespürt, wie ernst es mir war, und ihm hat das Konzept in Regensburg auch so gut gefallen, dass er mir zugeraten hat. Auch weil er wusste, dass der VfL Sindelfingen mir eine solche Möglichkeit mit der Vereinbarkeit von Sport und Studium nicht bieten konnte.

Meine Freunde aus der Trainingsgruppe haben mich ebenfalls mehrheitlich bestärkt. Na ja, ein Abschied eines guten Kumpels reißt ja immer irgendwie eine Lücke, das wäre bei jedem anderen in der Gruppe genauso gewesen. Bis heute habe ich mit den Sindelfinger Jungs am zweiten Weihnachtsfeiertag einen festen Termin in einer Bar in der Heimat, zu dem auch Harry kommt, und das ist mir sehr wichtig.

Menschen zurückzulassen, die mir etwas bedeuten und die mir sehr viel geholfen haben, fällt mir bis heute schwer. Aber es war richtig, nicht den bequemen Weg zu wählen, sondern den, der mich meinem Ziel näher brachte. Und so hörte ich wieder einmal auf mein Bauchgefühl und brach im Herbst 2007 auf zum Abenteuer Regensburg.

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