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KILOMETER 4 ERSTER RÜCKSCHLAG

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Morbus Osgood-Schlatter. Klingt harmlos, könnte ein norwegischer Biathlet sein oder ein britischer Aktionskünstler. Ist aber laut Medizinlexikon eine „schmerzhafte Reizung des Patellasehnenansatzes am vorderen Schienbein“ – und das hätte mich um ein Haar (und mehrere Haarrisse) um den Verstand und meine Sportlerkarriere gebracht.

Als ich, der Spätentwickler, mit dem Laufen begann, waren an der Startlinie alle stets einen Kopf größer als ich. Mit 13 stand ich vor der Aufnahme in den Landeskader Württembergs, und anhand einer Messung meiner Handwurzelknochen wurde berechnet, dass ich 1,75 Meter groß werden würde, plus/minus fünf Zentimeter in beide Richtungen. Dass ich heute 1,88 Meter groß bin, sagt einiges über die Seriosität solcher Untersuchungen. Aber das wussten wir damals noch nicht.

Ich war 14, als die krassen Wachstumsschübe einsetzten. Es gab mehrere Phasen, in denen ich innerhalb weniger Monate zehn Zentimeter wuchs. Und in all diesen Phasen hatte ich extreme Knieschmerzen in den sogenannten Wachstumsfugen unterhalb der Kniescheibe, wo die Patellasehne ansetzt. Es begann mit moderaten Schmerzen unter Laufbelastung, die wir anfangs als Folge übermäßigen Trainings abtaten, weil sie abklangen, sobald ich mich schonte. Wenn ich dann wieder loslegen wollte, kehrten die Schmerzen zurück. Und zwar brutal. Am Ende war es bei jedem Schritt so schlimm, als würde jemand ein Messer in meine Knie bohren.

Anfangs versuchte ich, das Übel mit Salben, Verbänden, Globuli und Ruhe in den Griff zu bekommen. Schmerzmittel nehmen, um trainieren zu können, war für mich und meinen damaligen Trainer Harald Olbrich zum Glück keine Alternative. Schmerzmittel bekämpfen nie die Wurzel des Schmerzes, sondern nur die Symptome. Relativ schnell wurde leider klar, dass Hausmittel nicht halfen. Und so begann eine Odyssee durch die Arztpraxen unserer Region. Meine Eltern waren unglaublich geduldig mit mir, sie fuhren mich vom Heilpraktiker zum Orthopäden, wir versuchten es mit Einlagen und sonderangefertigten Schuhen. Aber es blieb dabei: Wenn ich wuchs, und ich wuchs viel, war an Laufen nicht zu denken.

Ich konnte nicht einmal die Treppe vom ersten Stock nehmen, ohne mich am Geländer abzustützen. Wie ein 80-Jähriger, gefangen im Körper eines Teenagers. Irgendwann fand ein Arzt dann heraus, dass Morbus Osgood-Schlatter die Ursache für meine Schmerzen war. Die Prognose lautete: Der ganze Mist erledigt sich, sobald du ausgewachsen bist. Das Problem: Keiner konnte sagen, wann das sein würde. Es konnte mit 15 sein, aber auch erst mit 20. Ich musste also abwägen, ob ich bereit war, im schlechtesten Fall mehrere Jahre zu leiden. Aber weil mir Laufen in jener Zeit schon am meisten Freude machte, war Aufhören für mich keine Option. Ich hatte beim VfL Sindelfingen eine tolle Trainingsgruppe, in der ich meine besten Freunde gefunden hatte. Und so hielt mich die Aussicht darauf, irgendwann meine Endgröße erreicht zu haben, in der Bahn.

Ungewissheit und fehlende Perspektive haben mich damals allerdings oft fertiggemacht. Wenn man eine Verletzung hat, die zeitlich einzugrenzen ist und durch gezielte Reha-Maßnahmen behandelt werden kann, ist das eine andere Situation. Wenn du jedes Mal, wenn die Schmerzen nachlassen, denkst, dass alles überstanden ist, und sie dann doch zurückkommen, bricht immer wieder aufs Neue eine Welt zusammen.

Das Teenageralter ist grundsätzlich eine ganz schön schwierige Phase, in der sich viele aus dem Sport verabschieden, weil andere Dinge wichtiger werden. Für mich gab es überhaupt keine Alternative zum Laufen. Ein anderer Sport war auch nicht möglich, das Knie braucht man immer. Ich habe es mal mit Basketball probiert … Das Einzige, was ich wollte, war Laufen, und das möglichst schnell.

Sobald der Schmerz mal für ein paar Wochen Pause machte, genoss ich es umso intensiver. Meist ging es im Winter besser als im Sommer, sodass ich mich auf die Crossläufe stürzte. Fast ohne Training war ich dann als Auffüller für die Crossteams unseres Vereins VfL Sindelfingen dabei. Als ich 16 war, gewannen wir in Bad Dürrheim den deutschen U-18-Meistertitel im Cross. Solche Erlebnisse waren wie ein warmer Regen und ließen mich die Schmerzen etwas besser ertragen, wenn ich im Sommer meinen Kumpels Bastian Franz, Florian Beslmeisl und Arne Lorenz nur dabei zusehen konnte, wie die Erfolge auf sie herabrieselten. Ich habe mich natürlich für sie gefreut, aber das Gefühl, nicht Teil zu davon sein, ging jedes Mal ins Herz.

Mein Glück in jenen Jahren war, neben der unglaublichen Unterstützung meiner Eltern, dass ich einen Trainer wie Harry Olbrich hatte. Er hatte mich im ersten Jahr meiner erzwungenen Auszeit noch irgendwie im Landeskader halten können, die Jahre danach ging das nicht mehr, weil ich die nötigen Leistungsnachweise nicht erbringen konnte. Aber Harry sorgte dafür, dass der Kontakt zur Gruppe nicht abriss. Er gab mir Halt und Zuversicht und machte mir in vielen Gesprächen Mut. Solche Trainer sind es, die Karrieren retten.

Dazu kam noch ein Antrieb, der aus mir selbst heraus früh entstanden war. 1996 verfolgte ich als 9-Jähriger das erste Mal so richtig bewusst die Olympischen Spiele von Atlanta im Fernsehen, und da wurde diese fixe Idee im Kopf geboren: Eines Tages wollte ich selbst an den Olympischen Spielen teilnehmen. Diese Vision sollte für viele, viele Jahre jede größere Entscheidung maßgeblich beeinflussen.

Der Frust endete, als ich 18 war. Mein Körper entschied, nicht mehr wachsen zu müssen. Nach dreieinhalb Jahren hatte ich zum ersten Mal beim Laufen das befreiende Gefühl, dass die Schmerzen nicht wiederkommen würden. Der Fehler, den ich dann machte, hätte allerdings fast meinen Durchhaltekampf ad absurdum geführt. Mit der Aussicht, im Sommer 2005 im Lohrheidestadion in Bochum-Wattenscheid an den Deutschen Staffelmeisterschaften teilnehmen zu können, trainierte ich wie besessen, sodass mein Körper das nächste Stoppschild anzeigte. Die Muskulatur war mit den Wachstumsschüben nicht mitgekommen, zudem hatte sich mein Bewegungsmuster verändert. Diese Veränderungen hätten Zeit zur Anpassung erfordert, doch diese Zeit meinte ich nicht zu besitzen, weil ich doch den Trainingsrückstand von fast vier Jahren aufzuholen hatte.

Vor den Meisterschaften spürte ich, dass an Fuß und Unterschenkel einiges nicht so funktionierte, wie es sollte. Ich hatte Schmerzen, lief unrund, aber ich wollte es meinem Trainer partout verschweigen. Natürlich merkte er irgendwann, dass ich das Bein nicht voll belasten konnte, trotzdem leugnete ich es und biss auf die Zähne. Durch die lange Phase des erzwungenen Ausfalls hatte ich die Grenzen meiner Schmerztoleranz nicht nur zu spüren, sondern auch zu überschreiten gelernt. Was, wie ich feststellen musste, nicht immer die richtige Wahl ist.

Im Vorlauf in Wattenscheid stieg mir zu allem Überfluss in der Startphase ein Konkurrent von hinten in die Hacken. Dadurch verlor ich einen Schuh, aber da Aufgeben keine Option war, lief ich das Rennen ohne Schuh durch, worüber der malade Fuß auch nicht gerade erfreut war. Das Finale erreichten wir locker, doch mir war klar, dass ich nicht nur eine Überlastung der Muskeln hatte, sondern richtig etwas kaputt gegangen war. Den Endlauf überstand ich nur mit Ach und Krach, es reichte für unsere Staffel zum vierten Platz. Alle waren sauer auf mich, weil ich die Schwere meiner Verletzung verschwiegen hatte.

Am Montag nach dem Rennen fuhr mich meine Mutter zum Arzt, der eine Knochenszintigrafie durchführte. Dabei wird ein schwach radioaktives Kontrastmittel gespritzt, um die Beschaffenheit der Knochen zu untersuchen. Das Ergebnis: Ich hatte zwei Stressfrakturen, eine im Mittelfuß und eine im Wadenbein. Meine Mutter wäre fast vom Stuhl gefallen, als sie das hörte. Später am Abend saßen wir gemeinsam mit meinem Vater und meinem Trainer am Küchentisch, und ich heulte. Würde ich meine Dämonen denn nie loswerden?

Es war klar, dass ich professioneller an meine Aufgaben herangehen musste, wenn ich wirklich etwas erreichen wollte.

Laufen am Limit

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