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KILOMETER 3 VORBILDER

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Genauso ungeklärt wie die Frage, ob die Henne zuerst da war oder das Ei, ist für mich das Rätsel, wie ein Mensch seinen Sport findet. Sucht er ihn sich selbst aus? Oder kommt der passende Sport zum Menschen? Ich glaube, dass vieles über Vorbilder passiert. Wäre mein Vater nicht passionierter Läufer, dann wäre ich möglicherweise nicht der, der ich heute bin. Oft sind es aber auch Freunde, manchmal Lehrer, die einen prägen oder den entscheidenden Anstoß geben. Oder es sind Sportler, die man im Fernsehen oder sogar live sieht und die einen so tiefen Eindruck hinterlassen, dass man alles tut, um ihnen nachzueifern.

Ein solches Erweckungserlebnis war für mich der überraschende Sieg von Jan Fitschen über 10.000 Meter bei der Leichtathletik-EM 2006 in Göteborg. 1500 Meter vor dem Ziel drohte er den Kontakt zu den beiden Spaniern José Manuel Martinez und Juan Carlos de la Ossa zu verlieren, doch immer wieder lief er die Lücke zu, blieb dran und rannte die beiden im Endspurt in Grund und Boden. Unglaublich! Diese mentale Härte fand ich sehr beeindruckend, sie hat viele junge Athleten wie mich inspiriert, der gesamten deutschen Laufszene einen Boost gegeben und steht exemplarisch für das, was der Sport für die Charakterbildung bedeutet. Durchhaltevermögen, Ehrgeiz und Biss sind Eigenschaften, die man im Leben braucht, um sich zu behaupten.

Grundsätzlich habe ich ein gespaltenes Verhältnis zu sogenannten Idolen, und ich erkläre auch, warum. Zunächst einmal halte ich es für schwierig, sich von anderen Sportlern etwas abzuschauen, um es auf sich zu übertragen. Man kann sich natürlich vornehmen, der beste Spurter zu werden, der die Rennen auf der Zielgeraden entscheidet, so wie Jan Fitschen. Aber wenn einem die Anlagen dafür nicht gegeben sind, kann man sich das nicht antrainieren. Sich an Vorbildern abzuarbeiten, die unerreichbar sind, ist frustrierend.

In meiner Jugend gab es – abgesehen von meinem Vater und meinen Trainern, auf die ich in einem eigenen Kapitel eingehen möchte – zwei Leitfiguren, die meine Laufleidenschaft geprägt haben. Die eine war Haile Gebrselassie, der Wunderläufer aus Äthiopien. Der Mann hat insgesamt 26 Weltrekorde aufgestellt, darunter hielt er von 2007 bis 2011 die schnellste je gelaufene Marathon-Zeit der Welt. Er war in den 1990er-Jahren über die 10.000 Meter nicht zu schlagen, er war Olympiasieger in Atlanta 1996 und Sydney 2000. Bei einem Sportfest in der Stuttgarter Schleyer-Halle habe ich ihn einmal live laufen sehen, da war ich 13 oder 14 Jahre alt und von seinem eleganten Laufstil schwer beeindruckt. Live sieht Laufen nochmal anders aus als im Fernsehen, weil man das Tempo besser einschätzen kann und die Atmosphäre aufsaugt. Und Haile Gebrselassie war ein Phänomen.

Aber da war auch eine Distanz. Äthiopien, das war für mich ganz weit weg, und deshalb konnte Haile für mich kein Vorbild sein, dem ich nacheifern wollte. Ich wusste, dass ich niemals auch nur annähernd an ihn heranreichen würde. Auch seine Lebensgeschichte und sein Werdegang waren für mich nicht mal im Ansatz mit dem in Deckung zu bringen, was für meine Karriere wichtig werden könnte. Deshalb blieb er mir emotional eher fremd.

Die zweite Leitfigur war Dieter Baumann, ein Mann aus meiner Heimat, von der Schwäbischen Alb. Ich schaute zu ihm auf, er war der einzige Mensch, von dem ich sogar ein signiertes Poster in meinem Zimmer hängen hatte. Kein Popstar, Schauspieler oder Fußballer hat das geschafft, nur der Mann, der 1992 in Barcelona Olympiagold über seine Spezialstrecke 5000 Meter holte. Damals war ich zwar erst fünf Jahre alt und hatte das Ereignis am Fernseher nicht miterlebt. Aber als ich mit dem Laufen anfing, da war er allgegenwärtig. Das erste Mal, dass wir uns trafen, war bei einer Landesmeisterschaft: Er führte eine Siegerehrung durch und schüttelte mir die Hand! Nach meinem Wechsel nach Regensburg lernten wir uns kennen. Heute kommentiert er als TV-Experte u.a. den Berlin-Marathon, bei dem ich mitlaufe.

Aber, und das erklärt die Ambivalenz, die mich beim Thema Vorbilder umtreibt: Da gab es ja noch diesen Dopingfall, der als Zahnpastaaffäre bekannt geworden ist. Im Herbst 1999 wurde Dieter Baumann positiv auf das verbotene anabole Steroid Nandrolon getestet. Er, der sich stets als engagierter Vorkämpfer gegen den Missbrauch verbotener Substanzen präsentiert hatte, sollte nun selbst Täter gewesen sein. Seine Erklärung, die Zahnpasta sei manipuliert worden, wurde in der ganzen Welt diskutiert. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) sprach ihn im Sommer 2000 von den Vorwürfen frei, nachdem er in Nachtests Haarproben ohne Befund abgegeben hatte. Der Weltverband jedoch stellte sich gegen den DLV und sperrte Dieter Baumann bis Januar 2002.

Für mich war das damals ein Schock. Und der Moment, der mich ins Grübeln brachte. Das erste Mal war für mich ein Schatten auf den Leistungssport gefallen. Ich zweifelte und fragte mich, was an den Vorwürfen dran sein könnte. Ich habe viele Geschichten gehört, die mich bis heute bestärken, an seine Unschuld zu glauben. Und als ich im Sommer 2002 bei der Leichtathletik-EM in München die Siegerehrung des 10.000-Meter-Rennens live erlebte, war zu spüren, dass die meisten Fans diese Meinung teilten. Baumann war im ersten EM-Rennen nach seiner Sperre Zweiter geworden. Als er das Podium betrat, erhoben sich die Zuschauer von ihren Sitzen und feierten ihn frenetisch. Das war ein berührender Moment, den ich ihm sehr gegönnt habe.

Über die Jahre haben mich die vielen Dopingfälle in allen möglichen Sportarten zu dem Schluss kommen lassen, dass der Hochleistungssport wirklich leider nicht als die Hochglanzwelt betrachtet werden darf, als die er gern verkauft wird. Deshalb bin ich mit den Begriffen Idol oder Vorbild vorsichtig. Ich weiß andererseits, dass gerade Kinder durch Stars oftmals den ersten Impuls erhalten, den Schritt in ihren Sport zu gehen, und das ist enorm wichtig.

Angesichts meiner kritischen Einstellung fällt es mir nicht leicht, mit der Tatsache umzugehen, dass ich mittlerweile von einigen Menschen selbst als Vorbild betrachtet werde. Es zeigt sich in Gesprächen oder Reaktionen in den sozialen Medien, und ich gebe zu, dass diese Rolle für mich eine Mischung aus Belastung und Ansporn darstellt. Ich bin zum Beispiel in meiner Trainingsgruppe einer von wenigen, die das Laufen noch mit über 30 Jahren auf hohem Niveau betreiben. Viele sind in der Altersgruppe 20 bis 25, in der es die meisten Drop-outs gibt, also Entscheidungen, den Sport zugunsten von Beruf oder Familienleben aufzugeben.

Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass ich mir diese Vorbildrolle nicht aussuchen kann. Also habe ich versucht, einen Weg zu finden, damit so verantwortungsvoll wie möglich umzugehen. Für mich bedeutet das, auf Augenhöhe Ratschläge zu geben. Ich sehe mich selbst beileibe nicht als Sportstar. Und ich stehe auch nicht morgens auf und denke: „Heute bin ich mal wieder Vorbild.“

Es passiert eher selten, dass ich in der Öffentlichkeit erkannt und um ein Autogramm oder Selfie gebeten werde. Aber wenn es passiert, tue ich das gern. Wen es interessiert, der kann über die sozialen Medien an meiner Karriere teilhaben. Das Internet birgt Gefahren, die mir sehr wohl bewusst sind, ich stand selbst schon im Shitstorm. Ich versuche es zu nutzen, um denen, die mit mir verbunden sind, etwas zu bieten. Und wenn ich dann Nachrichten von fremden Menschen erhalte, für die meine Karriere eine Inspiration ist, lässt mich das jedes Mal innehalten.

Als ich beim Berlin-Marathon 2017 auf dem Weg, meine Bestzeit zu brechen, einen Kreislaufkollaps erlitt, der live im Fernsehen übertragen wurde, waren im Nachgang 97 Prozent aller Nachrichten an mich positiv. Die meisten haben aus meinem Scheitern Motivation gezogen, weil sie gesehen haben, dass auch ein Leistungssportler nur ein Mensch ist. Vorbilder müssen keine Lichtgestalten sein, denen unter ihren Händen alles zu Gold wird. Aber sie müssen wieder aufstehen, neu angreifen und vielleicht sogar stärker zurückkommen. Ich habe das mehrmals durchlebt. Das erste Mal, als ich ein Teenager war – und mein Laufsport fast beendet war, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte.

Laufen am Limit

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