Читать книгу Laufen am Limit - Björn Jensen - Страница 14

KILOMETER 7 ZURECHTFINDEN IM TEAM

Оглавление

Läufer sind Individualisten. Wir stehen allein am Start. Niemand anders ist, wenn der Schuss fällt, dafür verantwortlich, dass wir unsere Leistung abrufen. Läufer sind deshalb auch Egoisten, sie müssen es sein, wenn sie erfolgreich sein wollen. Und trotzdem gibt es in der Karriere eines jeden Läufers diese unverrückbare Erkenntnis: Ohne dein Team bist du nichts. In gewissen TV-Sendungen müsste ich jetzt wohl das Phrasenschwein füttern. Lasst uns mal tiefer schauen als nur bis zu den einfachen Wahrheiten.

Es gibt zwei Arten von Team. Das eine ist das Funktionsteam, das ich mir selbst wähle. Das andere ist das Vereinsteam, in das ich hineingebeten oder in manchen Fällen sicherlich auch hineingezwungen werde. Beginnen wir mit Letzterem. Jeder Trainer stellt sich eine Trainingsgruppe aus Athleten zusammen, die er sich als homogene Einheit vorstellen kann, in der jeder den anderen zu Höchstleistungen zu animieren versucht. Das ist das Idealbild einer Trainingsgruppe, und ich darf zu meinem großen Glück sagen, dass ich sowohl beim VfL Sindelfingen als auch in Regensburg in einer Gruppe war, die diesem Idealbild nahe gekommen ist.

Als echte Mannschaft agieren wir nur, wenn wir auf Meisterschaften in Staffel- oder Teamwettkämpfen antreten. Wenn das persönliche Ergebnis in die Mannschaftswertung einfließt und nicht nur individuell gewertet wird, bekommt es eine Bedeutung, die wir als Einzelsportler sehr selten spüren. Mir persönlich geben diese Wettkämpfe einen besonderen Kick, und wenn ich mich an die Partys auf Rückfahrten nach gewonnenen Mannschaftstiteln erinnere, bin ich mir sicher, dass es auch den Kollegen so geht. Gemeinsam Siege zu feiern macht den Spruch „Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude“ greifbar.

Die meiste Zeit jedoch sind die Mitglieder einer Trainingsgruppe natürlich auch Konkurrenten. Das ist im Verein zwar längst nicht so ausgeprägt wie bei Kaderlehrgängen, wo sich die Elite trifft und die Stimmung mitunter deutlich angespannter ist, weil jeder den anderen in gewisser Weise belauert. Aber auch im Verein gibt es in Trainingsgruppen Kameraden, gegen die man in Wettkämpfen antreten muss. Wer seinen Sport ernst nimmt, der wird im Wettkampf gegen seine Teamkollegen genauso hart laufen wie gegen jeden anderen Kontrahenten auch. Ich erwarte diese Einstellung auch von jedem meiner Kollegen.

Dazu gibt es eine Anekdote: Mein Kumpel Jonas Koller war mit 17 ins Athletenhaus nach Regensburg gezogen, er kam aus dem Fußball, musste sich ans Laufen und an die gesamte neue Umgebung gewöhnen. Dabei haben Ältere wie ich ihn zu unterstützen versucht. Es hatte etwas von Schüler-Lehrer-Verhältnis. Ein paar Jahre später starteten wir bei einem kleinen Crosslauf-Cup in der Region. Ich hatte einen schlechten Winter hinter mir, fühlte mich zu dem Zeitpunkt nicht in Form. Dazu kam, dass der Untergrund vereist war, was mir mit meinen 1,88 Metern und dem hohen Körperschwerpunkt absolut nicht in die Karten spielte. Jonas dagegen, kleiner als ich und nur knapp über 50 Kilo schwer, kam damit viel besser zurecht. Rund 300 Meter vor dem Ziel überholte er mich. Noch während des Zieleinlaufes schien ihn die Dimension des gerade Erlebten niederzudrücken. Er sah sich im Zielbereich entgeistert nach mir um und blieb dort mit weit aufgerissenen Augen stehen. Der Ausdruck in seinem Gesicht sagte: Was habe ich da bloß angestellt? Als wenn er einen großen Fehler gemacht hätte, weil er seinen Freund besiegte!

Ich nahm ihn in den Arm und gratulierte ihm, aber er konnte sich gar nicht freuen, obwohl ich ihm sagte, wie stolz ich sei, dass er endlich das umgesetzt hatte, was ich ihm immer vermitteln wollte. Im Rennen, das muss klar sein, gibt es keine Freunde. Da muss jeder gewinnen wollen. Das ist ein heikler Punkt für manche Teamgefährten. Aber schlussendlich ist es mir doch lieber, von einem Teamkameraden besiegt zu werden als von einem anderen Konkurrenten. Jonas hat das verstanden. So richtig gefreut hat er sich aber trotzdem nicht.

Eine Trainingsgruppe ist optimal besetzt, wenn sich ihre Mitglieder als Schicksalsgemeinschaft verstehen, die sich gemeinsam zu Höchstleistung pusht. Wenn du selbst keine Lust aufs Training hast, weißt du doch, dass da zehn andere darauf zählen, dass du deine Leistung bringst. Ein Teamplayer reißt sich dann zusammen und trainiert ordentlich. Und ich bin überzeugt davon, dass der Einzelne nur dann seine Bestleistung erreichen kann, wenn er selbst auch im Team funktioniert.

Genau wie im Mannschaftssport gibt es in der Trainingsgruppe eine Hackordnung, innerhalb deren die Rollen verteilt werden. In Sindelfingen gehörte ich zu den Jungen, die zu den beiden älteren Generationen aufschauten und einen natürlichen Respekt vor deren Leistungen mitbrachten. Heute habe ich eher das Gefühl, dass der Respekt der jüngeren Generation kleiner geworden ist. Alter (und mit ihm einhergehend die Erfahrung des Alters) per se wird nicht mehr als Qualifikation angesehen. Dadurch werden Hierarchien flacher. Ob das gut ist oder schlecht, liegt dann oft auch an der Führungsstärke eines Trainers.

Nichtsdestotrotz gibt es innerhalb jedes Teams Strukturen, die sich herausbilden. Es gibt die Häuptlinge, die durch Leistung vorangehen oder durch verbale Äußerungen. Es gibt die Indianer, die ihre Arbeit machen, aber nicht führen wollen. Es gibt auch die Klassenclowns, die für die Stimmung in der Gruppe sorgen. Die Dynamik, die durch diese Prozesse entsteht, hat mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Als ich nach Regensburg wechselte, war ich – in aller Bescheidenheit gesagt –, der einzige männliche Kaderathlet mit dem Anspruch, in der nationalen Spitze mitzulaufen. Weil ich keine interne Konkurrenz hatte, richtete sich viel nach mir aus.

Doch schon innerhalb der ersten zwei Jahre erhöhte sich die Leistungsdichte dermaßen, dass sich meine Rolle änderte. Ich wurde schnell eine Mischung aus Leistungsträger und Wortführer, würde ich sagen. Ich bin keiner, der taktische Ratschläge erteilt, denn dafür ist der Trainer da, aber bei Teamevents stelle ich mich gern in den Dienst der Mannschaft. Ich versuche auch, meine Erfahrungen einzubringen und auf diesem Weg als Ratgeber zu helfen, möglichst nur, wenn dies gewünscht ist.

Ein guter Trainer lässt den dynamischen Prozessen in seiner Gruppe so lange wie möglich freien Lauf. Er greift ein, wenn die Situation aus dem Ruder zu laufen droht. Aber wenn die Gruppe aus sich heraus versteht, dass sie durch Kooperation am stärksten ist, dann zieht auch der Trainer daraus den größten Profit.

Mit zunehmender Erfahrung macht man sich weniger abhängig von äußeren Einflüssen. Rollen ändern sich, und Teams ändern sich. Denn alles hat seine Zeit, im Sport sowieso. Und ich gespannt, wer einmal meine Rolle in Regensburg übernehmen wird.

Jetzt habe ich viel über das Team im Verein geschrieben, die Trainingsgruppe und die Gruppendynamik. Ebenso wichtig ist das eigene Funktionsteam, das die Karriere maßgeblich mitgestaltet. Dazu gehören die Trainer, Physiotherapeuten, Ärzte oder Sportwissenschaftler genauso wie der Wettkampfmanager, eine Marketingagentur oder die Freundin, die häufig besonders viel in Kauf nehmen muss. Gerade in diesem Bereich ist mir Harmonie sehr wichtig, deshalb arbeite ich nur mit Menschen zusammen, mit denen ich mich auch privat gut verstehe.

Ich empfinde es als Privileg, schon seit Jahren mit Koryphäen auf ihren Gebieten zusammenarbeiten zu dürfen. Dazu zähle ich zum Beispiel meinen Physiotherapeuten Jan Kerler, der neben seiner Praxis in Regensburg heute auch in der A-Nationalmannschaft des DFB tätig ist. Christoph Kopp ist ebenfalls eine absolute Konstante in meinem Team und mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung zuständig für die Verhandlung, Planung und Organisation meiner Rennen. Genauso gehören dazu Trainingstherapeuten, Leistungsdiagnostiker, Chiropraktiker und viele mehr. Was ich damit deutlich machen möchte? Auch jemand, der als Einzelsportler im Wettkampf antritt, spielt im Team.

In meinem Funktionsteam lege ich deshalb größten Wert darauf, mich einzuordnen. Klar, mir ist bewusst, dass bei einem wichtigen Rennen alle Leute um mich herum nur deshalb da sind, weil ich dieses Rennen laufe. Trotzdem bin ich nicht der Fixstern, um den sich alles dreht.

Ob im Funktionsteam oder in der Trainingsgruppe: Ich bin dankbar für die Hilfe, die ich schon von vielen Seiten bekommen habe. Sie ist ein großes Glück und ein Privileg, das nicht selbstverständlich ist.

Laufen am Limit

Подняться наверх