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KILOMETER 1 AUFWACHSEN
ОглавлениеEs gibt eine Reihe von Klischees und Vorurteilen, mit denen Leistungssportler konfrontiert werden. Zum Beispiel die Annahme, man müsse aus einer besonders leistungsorientierten oder extrem sportlichen Familie stammen. Auf mich trifft das nicht zu.
Meine Eltern Brigitte und Roland haben durchaus etwas für Sport übrig. Meine Mutter war in ihrer Jugend Leichtathletin, ihre Spezialdisziplin war der Hochsprung. Mein Vater war Sportschütze. Ein ziemlich guter wohl, wie mein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Roman und ich feststellten, als wir einmal auf dem Dachboden in einer Kiste alte Urkunden, Medaillen und Pokale fanden. Nach meiner Geburt hörte unser Vater von einem auf den anderen Tag mit dem Rauchen auf und begann mit dem Laufen. Seit 30 Jahren schnürt er die Laufschuhe und hat mittlerweile auch einige Marathons absolviert.
Meinen Eltern ging es nie um Hochleistung. Für sie war Sport ein Hobby, das Spaß machte. Und in diesem Sinn wurden Roman und ich erzogen.
Ich bin im Juli 1987 in Sindelfingen geboren, einer Kreisstadt mit 65.000 Einwohnern, 15 Kilometer südwestlich von Stuttgart. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hieß Lothar Späth, der Bundeskanzler Helmut Kohl. Meine Eltern lebten in der 7000-Einwohner-Gemeinde Ehningen in einem Eigenheim, das man als Mehrgenerationenhaus bezeichnen könnte: Meine Oma, die Mutter meines Vaters, wohnte in der oberen Etage. Mein Bruder und ich teilten uns zehn Jahre lang ein Kinderzimmer mit einem Doppelstockbett. Nachdem unsere Oma gestorben war, zogen wir in das obere Stockwerk. Da hatte dann jeder sein eigenes Zimmer, außerdem gab es ein Bad und Omas ehemaliges Wohnzimmer – mit Fernseher.
Was für eine Freiheit das bedeutete, lernten wir schnell zu schätzen. Manche Tage bekamen unsere Eltern uns außer zum Essen kaum zu Gesicht. Am Wochenende sahen wir bis in die Nacht fern, am liebsten die Musiksender MTV und VIVA, und redeten dabei über Gott und die Welt. Diese Zeit war wunderbar. Obwohl mein Bruder und ich sehr unterschiedliche Typen waren – und bis heute sind –, ist unser Verhältnis sehr innig. Er ist beruflich viel in der Welt unterwegs. Wir sind heute vielleicht nicht ganz so regelmäßig in Kontakt wie andere Geschwister, aber wir wissen beide, dass wir uns aufeinander verlassen können.
Als Kind war ich ziemlich schüchtern, ja geradezu ängstlich, was sich viele, die mich heute kennenlernen, kaum vorstellen können. Ich war der klassische Spätentwickler, klein und schmächtig. Mein Bruder hat deutlich lauter „Hier“ gerufen, als die Muskeln verteilt wurden. Sein Sport war Ringen, der perfekte Kontrast zu mir dürrem Läufer. Wir fanden es beide gut, dass wir nicht den gleichen Sport machten. Damit waren wir die Sache mit dem Vergleichen los, jeder konnte in seinem Bereich wachsen.
Roman gab das Ringen irgendwann auf und legte seinen Ehrgeiz in das berufliche Fortkommen, und wenn man sieht, wo er heute ist, war das sicher die richtige Entscheidung.
Unsere Eltern haben uns vor allem Freiheit und Vertrauen geschenkt. Unser Haus lag damals am Ortsrand von Ehningen. Als ich vor ein paar Jahren wieder einmal dort war – meine Eltern wohnen mittlerweile in Sindelfingen –, stellte ich fest, dass sich der Ort sehr verändert hat. Damals war es zum Wald nur ein kurzes Stück, und mein Bruder und ich verbrachten unsere Kindheit zum Großteil draußen. Wir waren auf dem Bolzplatz, streunten mit Freunden durchs Dorf und durch den Wald. Das änderte sich ein wenig, als wir unsere ersten Computer und eine Playstation bekamen, aber bis heute liebe ich es, draußen zu sein.
Weihnachten war das Fest, das ich wie viele Kinder am meisten liebte. Es ist mir bis heute wichtiger als mein Geburtstag, weil es eine der wenigen Gelegenheiten im Jahr ist, bei denen die ganze Familie zusammenkommt. Es braucht diese festen Tage im Kalender, finde ich, gerade in unserer durchgetakteten Welt.
Wir sind wohl das, was man als gutbürgerliche Familie bezeichnen würde. Meine Mutter hat eine Banklehre gemacht, heute ist sie bei einer Hausverwaltung beschäftigt. Mein Vater hat eine Lehre in einem Eisenwarenhandel gemacht, ist danach zu IBM gewechselt. Sein Bereich wurde später an einen US-Telekommunikationskonzern transferiert. Dort hat er betriebsbedingt mit Anfang 50 seinen Job verloren. Mittlerweile hat er als Berater und Verkäufer im Stuttgarter Laufladen Heart and Sole (Herz und Sohle) seine Berufung gefunden. Das freut mich sehr, denn seit ich denken kann, ist er in der Laufszene unterwegs. Aber diese Phase, in der er arbeitslos war und ich parallel zum Leistungssport studierte, hat mich geprägt.
Geld war nie ein Thema bei uns. Wir waren weder reich noch gab es jemals irgendwelche Nöte. Meinen Eltern war aber wichtig, dass wir bestimmte Dinge selbst finanzierten, wenn wir der Meinung waren, sie unbedingt haben zu wollen.
Allerdings hatte ich als Kind, und da kommt vielleicht der Schwabe in mir zum Vorschein, eine fast schon obsessive Neigung zum Sparen. Zum Weltspartag brachte ich mein gesammeltes Kleingeld zur Bank. Das Gefühl, eine Reserve für später anzusammeln, beruhigte mich irgendwie – auch wenn ich keinerlei Vorstellung davon hatte, was das genau bedeutete. Als wir von unseren Großeltern als Jugendliche einen für unsere Verhältnisse stattlichen Betrag geschenkt bekamen, wäre mir nie eingefallen, das Geld anzutasten. Das habe ich erst viel später getan, um mir meinen Traum von der Olympiateilnahme zu erfüllen. Ich hätte mir so gewünscht, dass meine Großeltern das noch erleben.
Als mein Vater seinen Job verlor, setzte das in mir bis dahin unbekannte Emotionen frei. Seitdem ist da ein innerer Antrieb, dem Geldverdienen eine gewisse Bedeutung zuzuschreiben. Dass Geld nicht wichtig sei, können vermutlich diejenigen Menschen leicht sagen, die genug davon haben. Wer wenig hat, der spürt schnell, wie unverzichtbar es eben doch ist. Vielleicht auch deshalb lege ich seit einigen Jahren einen Fokus darauf, nicht nur mit dem Sport über die Runden zu kommen, sondern auch in anderen Bereichen wirtschaftlich Fuß zu fassen. Mein Leitmotiv ist, nicht darauf zu warten, dass das Glück mich findet, sondern dass ich mein Schicksal selbst in die Hand nehme. Wer den Sprung ins kalte Wasser nie wagt, wird nie schwimmen lernen. Meine Eltern haben mich oft zu diesem ersten Schritt ermutigt.
Beim Essen habe ich meiner Mutter allerdings das Leben schwergemacht. Jahrelang waren Spätzle mit brauner Soße so ziemlich das Einzige, wovon ich mich ernährte. Natürlich ist das nicht so geblieben. Die Ernährung – darauf gehe ich in einem späteren Kapitel ein – ist für einen Leistungssportler ein wichtiger Erfolgsbaustein. Heute esse ich alles, und mit Erleichterung kann ich sagen, dass ich auch alles vertrage und nicht auf die im Leistungssport so moderne gluten- und/oder laktosefreie Kost angewiesen bin. Mein Leibgericht sind immer noch Spätzle, am liebsten mit Linsen. Da kommt wieder der Schwabe in mir durch.
Leider war es so, dass ich mich für die Schule und die meisten Dinge, die mir dort beigebracht werden sollten, nicht ganz so ausgeprägt interessierte. Eine Vier auf dem Zeugnis war für mich genau das, was sie bedeutet: ausreichend. Meine Priorität lag auf dem Sport und dem Training.
Am Stiftsgymnasium in Sindelfingen machte ich mein Abitur. Da diese Schule eine sogenannte Partnerschule des Leistungssports ist, hatte ich mir erhofft, für Kaderlehrgänge vom Unterricht freigestellt zu werden. Mein bester Kumpel und Vereinskamerad beim VFl Sindelfingen, Bastian Franz, ging auch dorthin. Wir hatten eine super Abi-Zeit, den Unterricht und meine Abschlussnote mal außen vorgelassen. Ich wählte den naturwissenschaftlichen Zweig, aber außer Biologie interessierte mich davon eigentlich nichts. Mir fiel das Lernen nie so leicht wie meinem Bruder, der ein Schulbuch nur anzuschauen brauchte, um zu wissen, was drinstand. Ich musste mir alles erarbeiten, aber weil ich Profisportler werden wollte, sah ich dazu wenig Veranlassung.
Warum ich mein Abitur nicht in Sport gemacht habe? Klingt vielleicht komisch: Weil ich keine Sportskanone war. Ich konnte laufen, keine Frage. Aber Ballsportarten waren nicht unbedingt meins, beim Schwimmen wäre ich gnadenlos untergegangen, und Bodenturnen lehnte ich ab. Natürlich gibt es Athleten, die alle Sportarten draufhaben. Zu denen zählte ich nicht.
Mein Glück war, dass ich in der Oberstufe einen Sportlehrer hatte, der früher selbst Leistungssportler gewesen war. Herr Takac hatte in der serbischen Nationalmannschaft Basketball und Volleyball gespielt, er erzählte großartige Geschichten aus dieser Zeit. Er konnte den Spirit, den Basti und ich hatten, nachvollziehen, deshalb nahm er es hin, wenn wir ab und zu fehlten. Dazu kam – und auch darüber erzähle ich später mehr –, dass ich unter heftigen Wachstumsproblemen litt. Bevor ich mir mein Abitur dadurch noch mehr versaute, dass ich wegen einer Verletzung nicht zur Sportprüfung hätte antreten können, entschied ich mich eben für den naturwissenschaftlichen Schwerpunkt. Das Resultat war ein Abiturschnitt von 3,1. Dank des damals gewährten Nachteilsausgleichs für Spitzensportler wurde diese Note zwar auf 2,9 nach unten korrigiert, Grund zum Stolzsein hatte ich aber höchstens deshalb, weil ich es überhaupt geschafft hatte.
Als Spätentwickler kam ich erst während der Oberstufe mit den Dingen in Berührung, die die coolsten Typen meines Jahrganges natürlich schon längst hinter sich hatten. Mädchen fand ich lange Zeit eher nicht so spannend, meine erste Beziehung hatte ich mit 16. Alkohol und Partys kamen mit 17 oder 18 Jahren dazu. Aber nicht an jedem Wochenende. Mein erster Gedanke war immer: Wann ist das nächste Training, wann der nächste Wettkampf? Für den Sport erst so hart trainieren, um das mit einem durchsoffenen Wochenende wieder zunichtezumachen? Bestimmt nicht!