Читать книгу Zwanzig Zwanzig - Boris Born - Страница 15
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ОглавлениеAn einem eiskalten Morgen huschte Jannek möglichst unauffällig durch Stephens Atelier. Stephen und seine Freundin frühstückten, beide in dicke Pulloverschichten gehüllt, Croissants mit Marmelade. Der Frost hatte die Luftpolsterfolie an den Scheiben zu bizarr grau schimmernden Flächen festgefroren. Kaum hatte Jannek seine Heizsonnen eingeschaltet, da war Stephen auch schon hinter ihm hergekommen.
„Ich habe versucht Catherine zu malen“, sagte er, „ich habe die ganze Nacht gezeichnet, aber es will nicht so recht werden, kannst du dir das mal ansehen? Wie machst du‘s nur, dass bei dir alles so professionell aussieht?“
„Ich komm‘ gleich mal“, erwiderte Jannek und damit Stephen nicht merkte, wie genervt er war, drehte er sich weg und begann seine Sachen zum Malen anzuziehen, die er kurz vor die Heizstäbe hielt, um sie vorzuwärmen.
Stephen ging schnell zurück und drehte seine Leinwände um, so dass Jannek sie betrachten konnte. Auf ihnen waren übertrieben langgezogene Figuren gemalt, im Stil von Giacomettis Skulpturen, aber mit unproportional dicken Brüsten. Die Ölfarben waren dick gespachtelt und verschmiert. Keines der Bilder hatte auch nur im Entferntesten, etwas mit seiner eher pummeligen Catherine zu tun.
„Na ja“, stöhnte Jannek und versuchte die, wie er fand, erschütternd schlechten Bilder zu verdauen.
„Ja, ich weiß, ich lass mich von meinen Fantasien hinreißen und guck‘ nicht mehr auf das Model“, sagte Stephen.
Jannek unterdrückte ein Lachen und schüttelte den Kopf. Stephen kratzte sich unter seinem geblümten Kopftuch, über das er noch eine Strickmütze trug.
„So wird das tatsächlich nichts“, sagte Jannek, „ich denke, du solltest erst einmal die Ölfarben vergessen. Zeichne und zwar ganz genau. Zeichne genau, was du siehst. Sieh‘ dir doch mal diese Figuren an, an denen stimmt rein gar nichts. Bevor man figürliche Bilder malt, muss die Technik stimmen. Danach kann man sie auch abstrahieren oder entfremden.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte Stephen und seufzte. Theatralisch griff er sich einen Block, öffnete eine Kiste mit Bleistiften in verschiedenen Härtegraden und fing an, Catherine zu porträtieren, die in der Kälte einen Roman las.
Jannek fand sein Atelier immer noch zu kalt um zu malen und klopfte bei Gary. Der öffnete auch sofort und da er damit beschäftigt war, ein giftiges Cadmiumpigment auf einer Glasplatte zu verteilen und mit einem Glasläufer Mohnöl unterzuziehen, trug er eine Atemschutzmaske. Als die Farbe geschmeidig wie Butter war, spachtelte er sie in ein Glas, verschloss es und hängte die Maske an einen Nagel. Jannek hatte den Wasserkocher angeschaltet und brühte Tee auf. Zu ‚Meddle‘ von Pink Floyd lästerten sie eine Weile über Stephen und erläuterten das missglückte Silvester, dass ja durch die Aktion mit der Hunderennbahn doch noch zu einem ‚legendären‘ Ereignis geworden war. Als ihnen dazu nichts mehr einfiel, erzählte Gary aus seiner Kindheit. Er war in Norwich aufgewachsen. Sein Vater arbeitete als Forscher in einer Waffenfabrik. Als Gary sehr jung gewesen war, war seine Mutter gestorben. Später hatte er herausgefunden, dass sie Selbstmord begangen hatte, dessen Ursachen in der Beziehung zwischen ihr und ihrem Vater lagen. Der Vater hatte schnell wieder geheiratet und seine neue Frau war bald schwanger geworden. Der Vater fühlte sich durch Garys Anwesenheit, an seine ehemalige Frau erinnert. Das war ihm lästig. Deshalb versuchte er ihn ‚auszublenden‘. Mehrfach am Tag flößte er ihm Aspirin ein und schloss ihn in seinem Zimmer ein. Als er größer war, hatte er drei Stiefgeschwister. Da er der Älteste war, war es seine Aufgabe auf sie aufzupassen. Das Schlimmste waren die Schulferien, denn dann hatte er alle drei, den ganzen Tag lang zu versorgen. Immer wenn er unbeobachtet war, packte er sie vor den Fernseher und zeichnete. Er zeichnete alles was er sah, die Gegenstände und seine Geschwister.
Er wollte, so schnell es ging, sein Elternhaus verlassen und sobald er 16 Jahre alt war, verschwand er einfach. Er ging nach Birmingham, wo er in einem besetzten Haus wohnte. Nachts arbeitete er in einem Schnellimbiss und tagsüber beendete er die Schule. Danach fing er sofort an, Kunst und Graphik zu studieren.
An der Universität lernte er Daya kennen. Ihre Eltern stammten aus Indien und wollten sie früh verheiraten. Es hatte wohl auch schon einen Bräutigam gegeben, der der Familie gefallen hätte, doch der Plan sie mit einer guten Schulbildung zu einer wohlgebildeten Hausfrau auszubilden, war gründlich fehlgeschlagen, denn sie hatte sich das nicht gefallen lassen und war stattdessen gleich nach der Schule nach Birmingham gezogen, um Kunst- und Design zu studieren. Dort hatte sie ein freies Leben in einer WG begonnen und viele Liebhaber gehabt. Einer von ihnen war Gary gewesen und der hatte es nicht leicht gehabt, sie gänzlich zu erobern. Aber dann waren sie heftig ineinander verliebt gewesen und waren gleich nach dem Abschluss ihres Studiums zusammen nach Indien gefahren.
„Dort wollten wir für immer bleiben“, erzählte Gary, „wir wollten uns mit unserer Kunst eine neue Existenz aufbauen. Wir hatten große Ideen, wollten eine neue Strömung in der Kunst entwickeln, eine, die die traditionelle Kultur Indiens aufnimmt und mit modernen, westlich orientierten Elementen vermischt und wollten damit ganz groß rauskommen. Wir waren uns sicher, es zu schaffen. Aber schnell hatten wir Geldnöte. Wir wohnten in einer Hütte, eigentlich war es mehr ein Verschlag. Schlangen und Languren-Affen waren unsere Haustiere. Wir schliefen in einem Schlafsack auf dem Boden und kochten auf einem offenen Feuer. Manchmal hatte sich über Nacht eine Schlange mit in den Schlafsack gezwängt. Wir hatten Angst vor tödlichen Bissen. Jeden Morgen gingen wir hinaus auf das Land und zeichneten. Ich glaube, ich habe mein ganzes Leben nicht so viel gearbeitet wie in dieser Zeit. Wir fühlten uns wie Van Goghs oder Gauguins in Indien. Es war fantastisch. Die Resultate versuchten wir, an Touristen zu verkaufen. Von dem Erlös lebten wir. Dann wurde ich krank, eine Darmsache, die sich nicht beruhigte und alles wurde schwieriger. Kein Arzt konnte mir helfen und wir hatten bald nicht mehr genug zu essen, denn es war Regenzeit und die Touristen blieben aus. Wir versuchten uns Geld aus England schicken zu lassen, aber auch das erwies sich als schwierig, da Dayas Eltern nicht mehr mit ihr sprachen und mein Vater überhaupt nicht daran dachte, Geld für uns locker zu machen. In den nächsten Monaten sparten wir uns das Geld für den Rückflug irgendwie zusammen. Die Botschaft lieh uns auch etwas. Richtig dreckig ging es uns, wenn auch Daya krank war. Da konnten wir nur noch warten, bis es vorüber war. Manchmal lagen wir durchnässt nebeneinander mit den Affen an unserer Seite und dachten, dass wir das vielleicht nicht überleben würden. Diese Zeit hat uns zusammengeschweißt.“
Gary hielt inne und schmunzelte abwesend. Es war ihm wohl etwas peinlich, dass er so viel über sich erzählt hatte. Er stand auf und fing an, die Glasscheibe von den Farbresten zu befreien. Jannek erkundigte sich, ob es das Gesundheitsrisiko wert sei, Cadmiumfarben selbst zu machen.
„Klar“, sagte er und hielt ein Glas mit einem tiefen, ja regelrecht saugenden, Rotpigment hoch, „sieh nur mal die Leuchtkraft dieser Farbe. Alles, was man kauft, ist verschnitten und schlecht dagegen.“
„Ja,“ sagte Jannek, der fand, dass man dem Pigment allerdings auch seine krebserzeugende Giftigkeit ansah. Er bekam einen Kloß im Hals, sagte panisch, dass er arbeiten wolle und stürzte in sein Atelier.
Er besah sich lange seine vom Vortag getrockneten Bilder. Nur eins war geworden, wie er es gewollt hatte. Aber es war eher ‚still‘, in sich struppig und etwas ‚schräg‘, etwas für Kenner und Liebhaber. Damit würde er wieder keinen Durchbruch auf der Kunstszene schaffen. Dazu müsste er etwas Einmaliges, noch nie Dagewesenes, etwas Provokantes oder Sensationelles malen.
„So was lässt sich aber doch nicht planen!“ sagte er zu sich selbst.