Читать книгу Zwanzig Zwanzig - Boris Born - Страница 4
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ОглавлениеAm nächsten Morgen erwacht Jannek im Zwielicht der etwas muffigen Hütte. Er stöbert herum. Draußen ist greller Sonnenschein, aber drinnen muss man Licht anhaben. Obwohl es nicht an Lampen mangelt: große, kleine, alle im arabischen oder türkischen Stil, mit in Kupferblech eingelassenen, bunten Glasplättchen und Steinverzierungen. Eine Wand ist orange gestrichen, eine andere blau. Goldene zwiebelförmige Bögen, reich verzierte Messingtabletts und anderes auf Arabisch gemachtes Design ist eigentlich kitschig, aber es ist staubig und abgenutzt, dass es einen gewissen Charme bekommen hat. Jannek schüttelt sich, denn er weiß, Tausendundeine Nacht und Couscous wird in seiner Erinnerung mit dieser holländischen Insel eng verbunden sein.
Das winzige Fensterchen im Badezimmer lässt sich nicht schließen und haselnussgroße Mücken fliegen herein. Die Dusche ist kurios. Man duscht mitten im Badezimmer. Der Duschkopf ist einfach an die Wand neben das Waschbecken montiert. Ein Gummischieber an einem Besenstiel, mit dem man hinterher das Wasser in den Gully in der Mitte des klein gekachelten Bodens drücken soll.
Raus. Die Tür ist sehr niedrig und man muss sich weit herunterbeugen, um unbeschadet durchzukommen. Die Strahlen der Morgensonne wärmen erstaunlich. Das Gras verströmt einen intensiven Geruch. Auf dem von Witterung und Holzwürmern zerfressenen Tisch aus groben Holzbalken hockt eine graue, flauschige Katze. Eine dicke, schwarze gesellt sich hinzu und sie spielen miteinander. Jannek versucht alles gleichzeitig aufzunehmen: ein schnarrendes Geräusch wie eine schnarchende Kuh, rote Trichterblüten mit einem gelben Schlund an umgeknickten zwei Meter hohen Stängeln, Kornblumen, die fast ins violette schlagen, bunt bemalte, an einen Holzpfeiler genagelte, ausgetragene Holzschuhe, ein Zaun aus groben Holzklötzen. Maud gesellt sich zu ihm. Sie ist wie immer wie aus dem Ei gepellt. Die schwarzen Haare glattgekämmt, ein Pony wie eine Messerkante und den Rest in eine saubere, hellblaue Jeans und ein gebügeltes, weißes T-Shirt verpackt. Er kommt sich mit seiner Schlafanzughose und dem abgestoßenen Hemd dagegen ungehobelt vor. Sie sagt nahezu höflich: „Guten Morgen“ und breitet die Skizzenblöcke aus, die sie mit herausgebracht hat, füllt Wasser in zwei Gläser, öffnet zwei Metallkästen mit Aquarellfarben, verteilt Pinsel und Graphitstifte zwischen ihnen und setzt sich Jannek gegenüber. Jannek erinnert sich, dass sie schon, als sie erst vier Jahre alt war, im Urlaub zusammen gemalt haben. Nun ist sie schon 19 und hat gerade ein Jurastudium begonnen. Wie schnell die Zeit verrinnt. Nicht wirklich. Nein. Aber es waren kompakte und intensive Jahre gewesen, die volles Engagement erfordert hatten. Er prüft, wie sehr der Tisch wackelt und ob er eine Stelle finden kann, die glatter ist. Dann malen und zeichnen sie. Erst das Haus, dann den Garten und später die Katze.
Auf einem Nachbargrundstück spielen Kinder mit einem ausgedienten dicken Schiffstau. Sie rufen und hüpfen. Eine Holländerin mit dickem Hinterteil und mit einem Geschirrhandtuch über ihrer Schulter tritt zu Jannek und Maud in den Garten und fragt nach einer Kuchenform, die sie sich ausleihen möchte. Kaum hat Jannek: „Warum nicht“, geantwortet, da wirft sie das Handtuch hin, duckt sich ganz tief herunter, um unversehrt durch die Tür zu kommen, ihr schwarzweißes Kleid bleibt kurz an einem Riegel hängen, sie befreit es wieder und verschwindet im dunklen Inneren des Hauses. Jannek überlegt noch, ob er ihr folgen sollte, da taucht sie mit einer Form unter dem Arm schon wieder auf und erklärt, dass sie vorhätte, für die Kinder einen Apfelkuchen zu backen. Ein Junge schnippt unreife Holunderbeeren herum und rennt gleich wieder fort.
Der erste Programmpunkt nach dem Frühstück ist: Fahrräder ausleihen. Auf einem Weg steht eine große Gruppe Pilze, dessen weiße, gefleckte, bombenförmigen Schirme sich vom Gift schwarz verfärbt haben. Heute geht es an den Strand. Die klassischen Hollandräder rollen gut, aber es geht etwas bergauf. Am Straßenrand Heidekraut, einige Felder und Binsengras.
Der Strand dehnt sich scheinbar unendlich in beide Richtungen aus. Der Sand ist von fast weißlicher Natur und an manchen Stellen fein wie Staub. Warm und weich umschließt er die Füße und lässt den Körper langsam einsinken. Leute spielen eine moderne Abwandlung von Boccia - mit Stöckchen statt Kugeln. Ein Kajakfahrer kämpft gegen Wind und Wellen an. Kinder rennen im seichten Wasser einer Ebbepfütze umher, ziehen ihre Badehosen aus, werden eingefangen, rabiat abgerubbelt und in Sweatshirts gepackt. Die Jacken von Wanderern blähen sich auf. Drei lachende Mädchen in Hotpants schütteln ihre langen, blonden Haare hin und her, toben und üben mit einem Skimboard zu gleiten.
Toshiko und Maud schlagen eine Decke über ihre Beine und trinken grünen Tee aus der Thermoskanne. Jannek weiß, dass diese Sorte strohig schmeckt. Deshalb geht er los und beobachtet, bückt sich und untersucht: Reste von Krabben, Panzer hier, Unmengen von Krabbenbeinen dort. Die Panzer haben Zweierreihen mit kleinen Löchern, als wären sie mit einer Nadel perforiert worden. Ein regelrechter Krabbenfriedhof. Und hier: ein Haufen zermatschter Krabben, weißlich fahl. Die meisten Kadaver liegen auf dem Rücken zeigen eine schrumpelige Unterseite. Ein vereinzeltes Haifischei, eine verstümmelte Haifischflosse, ein Baumrindenklumpen, graue Herzmuscheln, so grau wie grau nur geht. Tausende Pfahlmuscheln, bis zum silbergrauen Himmel, bis zum stumpfgrünen Wasser. Das Obere der Wellen kräuselt sich weiß im Wind. Da, eine perfekte Miesmuschel tiefschwarz, mit leuchtendem Perlmutt innen. Aber, ach nein, sie ist nur halb, die vordere Hälfte ist abgebrochen, aber sonst wäre sie einmalig gewesen. Hundespuren von mindestens zwei verschiedenen, größeren Hunden, als sie sich trennen, müsste Jannek sich für eine Spur entscheiden, das macht er aber nicht, sondern dreht sich um und sieht nach, wie weit er gekommen ist. Gar nicht weit. Er kann immer noch auf Pfeilern im Sand das ‚Heartbreak Hotel‘ sehen. Das ist gar kein Hotel, sondern ein Restaurant. Es ist aus Blech, hellgelb und hellblau gestrichen, mit wehenden Terschelling-Fahnen: oben als erstes ein roter, dann ein blauer, ein gelber, ein grüner und ein weißer Querstreifen.
Da, wo das Wasser abgelaufen ist, hat der Sand Riffeln. Eine Möwe taucht den Kopf unter und wäscht sich. In dieser Sekunde wird Jannek melancholisch. Eine ölige Traurigkeit jagt durch seine Venen und bahnt sich ihren Weg nach oben. Die Dünen sind struppig. Die Natur arbeitet so stark, so gezielt und er fühlt sich dagegen lasch fast leblos. Dunkle Wolken rasen, Strandläufer flitzen, tippeln mit dreieckigen Füßchen geschwind durch das seichte Wasser, picken mit ihren spitzen Schnäbeln in den Sand. Der Wind ist laut, dröhnt mal in einem, mal im anderen, manchmal in beiden Ohren. Kommt die Flut? Oder geht das Wasser? Ein Angler steht in den Wellen, trägt Gummistiefel und eine Gummihose, die seinen halben Rücken heraufreicht. Zwei in den Sand gerammte Angeln gleichzeitig beobachtend, hat er die Hände hinter sich verschränkt und wartet auf den großen Biss.
Der Wind nervt nun. Jannek eilt zurück, rennt fast. Mit Toshiko und Maud sucht er Schutz auf der Veranda des Heartbreak Hotel Restaurants. Die ist mit Glasscheiben umsäumt. Jannek fläzt sich auf einen Chromstuhl, wirft sich regelrecht hin. Toshiko und Maud setzen sich kerzengerade an den Chromtisch. Er fragt sich, wie sie es schaffen seine Gegenwart ertragen. Es muss eine ziemliche Qual sein. In einer Ecke, eine lebensgroße Elvispuppe, auf jedem Tisch ein Metallkasten mit Servietten. Eine Frau pfeift ein altes (holländisches?) Volkslied, als höre sie die Elvismusik gar nicht, ihre Freundin sitzt im Rollator und stellt den Spiegel so ein, dass sie andere Leute (Jannek, Toshiko und Maud) beobachten kann. Maud kauft sich und ihrer Mutter ein Softeis mit Schokoladenüberzug. Die warme Schokolade erkaltet langsam und hüllt das Eis darunter in eine feste Kugel. Das Eis ist sehr sahnig, so sahnig, dass Toshiko ganz schwummerig wird. Aber Maud ist begeistert und im siebten Himmel.
Als dicke, dunkle Wolken aufziehen, wird es etwas kühl und sie gehen hinein. Hier dürfen alte Schilder und eine alte türkisfarbene amerikanische Benzin-Zapfsäule nicht fehlen. Elvis stimmt einen neuen Song an, was auch sonst.
‚Aber nett, durchaus nett‘, denkt Jannek und nippt an einem holländischen Weizenbier, ‚weil das Ganze schon etwas abgerockt ist. Notiere: In alt gewordenem Kitsch kann neuer Charme lauern. Ist nun hier und schon in der Hütte mit dem arabischen Ambiente passiert.‘
Toshiko und Maud bekommen Pfefferminztee mit frischer Minze gebrüht. Sie beobachten, wie an einem Nachbartisch das Pink-Cadillac-Kindermenü zusammen mit einem knallgelben T-Shirt und einem Cadillac aus Pappe serviert wird. Der Papp-Cadillac ist aufgebaut ganz viereckig und Jannek denkt, dass ein schwülstiger Cadillac das denkbar unpraktischste aller Autos für eine solche Basteleinheit ist. Der Junge probiert das T-Shirt an. Das aufgedruckte Auto ist schrill pink. Auf der Rückseite steht: ‚I finished a Pink Cadillac @ Heartbreak Hotel and all I got was this lousy T-Shirt‘. Die Hälfte der bombastischen Ladung Essen landet dann auf dem Boden. Nun bekommen auch die Eltern ihr Essen: Hamburger, groß wie Schuhe. Die Pommes Frites werden in dreieckigen Papiertüten gebracht, wie Jannek sie vom Jahrmarkt für gebrannte Mandeln kennt, und werden in einen kleinen verchromten Ständer gestellt. Toshiko und Maud kommen aus dem Staunen gar nicht mehr raus, aber sie versuchen, sich nichts anmerken zu lassen.
Als dicke Sturmwolken aufziehen, trinken sie schnell aus und machen sich auf den Rückweg. Sie flitzen mit ihren Rädern die leere Straße entlang, die Dünen hinab, zurück auf den Pfad, an dessen Ende ihre Hütte steht. Aus den vorher weißen Pilzen ist inzwischen noch viel mehr schwarze Masse ausgetreten. Die meisten Köpfe sind wie Teer an den Stielen heruntergelaufen und haben auf dem Gras schwarze klebrige Flecken gebildet.