Читать книгу Zwanzig Zwanzig - Boris Born - Страница 17

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Bald war Frühling und einer der ‚verrückten Tage‘ kam. Jannek erkannte diese Tage nach all den Jahren in London leicht und hatte ihnen den Namen ‚Londoner Spezialtage‘ gegeben. Am Anfang hatten sie ihn noch völlig aus der Bahn geworfen und an allem zweifeln lassen. In diesem Fall hatte es eigentlich vielversprechend begonnen: wärmende Sonnenstrahlen hatten eine endlose Regenphase abgelöst. Er hatte sein altes Post-Fahrrad aufgepumpt, das er in einem Müllcontainer gefunden hatte. Das Tretlager war kaputt gewesen, aber er hatte es repariert und das rote Rad mit den weißen Schutzblechen lief nun wieder leicht und war auch ohne Gangschaltung ein Flitzer. Er war am Kanal entlanggefahren, bis plötzlich mit einem Knall der Vorderreifen geplatzt war. Er war über einige in den Boden eingelassene Metallspitzen, wohl Reste eines ehemaligen Zauns gefahren, die durch die Regenfälle freigewaschen worden waren.

Da musste er zunächst das Rad wieder nach Hause schieben und da das Loch gigantisch war, mit dem Bus zu einem Fahrradhändler fahren, einen neuen Schlauch kaufen und ihn einsetzen. Mittags unternahm er einen zweiten Anlauf, das Atelier zu erreichen.

Unter einer Autobahnbrücke qualmte ein erloschenes Lagerfeuer, das einige Althippies, die in alten Wohnwagen unter der Brücke überwintert hatten, in der Nacht gemacht hatten. Es waren nur noch wenige Wagen übriggeblieben, wohl weil der Winter hart und lang gewesen war. Die Ausharrenden hatten nach und nach die Wohnwagen, der Leute, die aufgegeben hatten, zerlegt und den hölzernen Kern auf einer Feuerstelle in der Mitte des Platzes verbrannt. Der gesamte Platz war mit Autowracks, Motorenteilen, Autositzen, Wohnwagenteilen und Müll übersät, Hunde streunten umher und winselten. Eine Gruppe sich völlig sich selbst überlassener Kinder spielte auf dem Kanal mit einem aus alten Plastikflaschen und einem Fass konstruierten Floß. Sie sprangen in das eisige Wasser und fischten Algen heraus. Sie formten daraus, gemischt mit Schlamm Klumpen, die sie kreischend Jannek hinterherwarfen. Glücklicherweise trafen sie nicht und er trat ordentlich in die Pedalen, was aber wiederum die Hunde anspornte, die nun kläffend hinter ihm herliefen und nach seinen Waden schnappten.

Kurz bevor er die kleine Rampe erreichte, die hinauf zur Straße führte, holte ihn um ein Haar ein Mann mit einem Faustschlag vom Rad. Jannek strauchelte, aber konnte gerade noch das Rad auf der Kante entlang balancieren ohne ins Wasser zu fallen. Als er sich umsah, hatte der Mann seinen Mantel geöffnet und onanierte sein Spiegelbild im Wasser an.

Jannek konnte es nicht fassen und fuhr schnell weiter, vom Kanal weg, hoch auf die Straße, die durch den Industriegürtel führte. Der erste Wagen, der zum Überholen ansetzte, bremste neben ihm ab und der Beifahrer ließ die Scheibe herunter. Ein Mann versah Jannek mit einer Kanonade unverständlicher Schimpfwörter und schnipste eine Zigarettenkippe nach ihm. Als sie versuchten ihn abzudrängen, hielt Jannek einfach an und hob sein Rad auf den Fußweg.

„Wir hassen dich!“ schrien die Männer daraufhin und jagten davon.

Schon von weitem sah er gelbe Banderolen. Sie versperrten aber nicht, wie er erst befürchtet hatte, das Fabrikgebäude, in dem sein Atelier lag, sondern das daneben. Der obere Teil war völlig ausgebrannt. Ein Polizeiauto mit zwei Polizisten parkte davor.

Er erkundigte sich bei Gary, was passiert sei. Der hatte gehört, dass nebenan in der Nacht eine illegale Rave-Party stattgefunden hatte und mindestens zwei der Partygänger in den Flammen umgekommen seien.

Obwohl Jannek sich mittlerweile miserabel fühlte, arbeitete er lustlos einige Stunden. Er hatte sich alte Schieferplatten besorgt, die er schrubbte und anfing mit Tempera zu bemalen. Am Nachmittag kam Stephen, unüberhörbar, da er die Tür vom Durchzug zuschlagen ließ. Er zog sich gar nicht um, sondern schlurfte gleich zu Jannek ins Atelier. Sein modischer Trenchcoat reichte bis an die Waden, eine Sonnenbrille steckte oben im Kopftuch und die Cowboystiefel hatten Metallspitzen.

„Hi, what’s up?“ fragte er rhetorisch, „alright?“ Jannek war klar, dass er etwas wollte.

„Geht so“, erwiderte er und musterte ihn, „ich hatte heute schon so einige komische Erlebnisse.“

„Sorry to hear this. I am here to clear up - hat eh keinen Sinn“, sagte er in seinem typischen Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch, „Ich hab‘ es nun lange probiert und es hat einfach nichts gebracht. Ich bin gerad‘ aus der Schweiz zurück, meine Eltern wohnen ja neuerdings da, weil sie Deutschland nicht mehr so geil finden, haben sie ja auch recht, is‘ doch uncool, Deutschland, spießig und uncool. Jedenfalls hat mein Alter gesagt, da ich mit der Kunst eh nie auf einen grünen Zweig käme, würd‘ er mir den Geldhahn abdrehen. Da hab‘ ich gesagt, dass ich halt ‘nen Studium anfinge, das natürlich hier ‘nen Vermögen kostet. War er trotzdem gleich einverstanden. Hab‘ ich gesagt, dass ich den Quatsch mit dem Malen sofort aufgebe und mich einschreibe. Bin ich sofort mit dem Zug wieder abgedüst, coole Fahrt eh, irre Bräute kennengelernt, echt cool. Bei der einen bin ich dann auch gleich kleben geblieben.“

Wie immer, wenn Stephen etwas über sein Leben außerhalb des Ateliers erzählte, verstand Jannek alles nur vage. Stephen arbeitete wohl manchmal in der ‚Musikindustrie‘ und half bei den Aufnahmen von Musikvideos. Bei ihm klang das allerdings meist so, als sei er der Produzent persönlich. Weil Jannek nur unkonzentriert zuhörte, schob Stephen seine Lippen zu einem Schmollmund und ging zurück in sein Atelier, wo Jannek hörte, wie er lautstark Sachen herumwarf. Jannek war nun wütend und wollte sich bei ihm beschweren. Aber er sah, wie Stephen alle seine Bilder und Materialien auf einen großen Haufen geworfen hatte und dabei war, alles in Müllsäcke zu verstauen.

„Halt, wart‘ mal“, rief Jannek deshalb, „all das schöne Zeug, das kannst du doch nicht einfach wegwerfen!“

„Take what you need. Ich geh‘ mal zu den Shops“, sagte Stephen lässig. Er schob sein Fahrrad in den Lastenaufzug und Jannek schüttelte den Kopf, da es in dieser Gegend doch weit und breit gar kein Geschäft gab. Kaum ratterte der Fahrstuhl nach unten, durchforstete er die Mülltüten und stapelte Stifte, Pastellkreiden, Aquarellkästen, Keilrahmen und Ölfarben in einer Ecke seines Ateliers. Er rief Gary, damit er ihm helfe. Da der nicht aufkreuzte, holte er ihn. Er hatte vor einem leeren Skizzenbuch gesessen und mit einem Messer an einem alten Stuhlbein geschnitzt. Zusammen rafften sie alles Brauchbare zusammen. Das war abgesehen von Staub, Dreck und den Leinwänden mit den Horrorfiguren darauf, fast alles. Um vor Stephen nicht so erscheinen, als seien sie total wild auf sein Zeug, füllten sie die Säcke mit eigenem Müll auf und warfen eine Umzugsdecke über die ‚Beute‘ in Janneks Atelier.

Sie wurden gerade fertig, als Stephen zurückkam. Eine Frau, bestimmt seine neue Freundin aus der Schweiz, begleitete ihn. Am Lenker des Rads hingen zwei Tüten mit Bierdosen.

„Hi friends“, sagte er auf einmal gut gelaunt und, weil Gary dabei war, auf Englisch, „das Fahrrad könnt ihr auch haben. Hab‘ ich eh gefunden. Der Ledersattel ist spitze. Echt wert aufgehoben zu werden.“

Gary und Jannek winkten ab und gingen in ihre Ateliers zurück. Jannek setzte sich. Matt und nicht in der Lage sich aufs Malen zu konzentrieren, lauschte er, was Stephen seiner neuen Freundin erzählte:

„Das war ne coole Zeit hier, eh. So‘ne Erfahrung möcht‘ man nich‘ missen, echt existenzialistisch eh. I mean, niemand hier wird es in die Welt der wirklich Berühmten schaffen. And: nobody can live like this, forever I mean. Ne Zeit lang, okay, but not forever, you understand. I mean, ich gönn‘ es ihnen, wenn sie’s schaffen. Jedenfalls habe ich erkannt, man kann nicht mal eben so Künstler werden, das war ein echter Error meinerseits. Aber in diesem Gebäude haben alle ‘ne Fanatismusklatsche. I mean, 300 artists sitting in a warehouse and working like hell for, yes for what? Fame? Probably. Mann, mein Deutsch ist echt schlecht geworden. Und sie machen sich wie Hölle Konkurrenz. Die können sich alle nicht leiden und beäugen sich eifersüchtig.“

Er wuchtete die Müllsäcke nach draußen. Jannek hörte, wie er sie von dort zum Lastenaufzug zerrte.

„Viel Kontakt hatte ich hier nicht,“ sagte Stephen zu seiner Freundin, als sie wieder zur Tür hereinkamen, „die meisten sind sozial gestört und grüßen einen nicht mal, wenn man sie auf dem Gang trifft. No, stop! Once I met a guy mit dicker Hornbrille und Hörgeräten in den Ohren. Aber der wollte meine Zigaretten schnorren und hat mich deshalb mit in sein Atelier genommen. Auf seinen Bildern war wirklich nichts außer geschichteten zentimeterdicken Farbmassen. Gleich aus Eimern. Soo dick!“

Sie kamen mit offen Bierdosen in der Hand zu Jannek ins Atelier.

„Hey Alter, was meint denn ‚broom-clean‘? Means it, I have to paint the walls as well?“

“Nonsens! Da kräht bestimmt kein Hahn nach. Wer weiß, wann dieses Atelier wieder vermietet wird“, entgegnete Jannek und Stephen reichte ihm dankbar für diese Antwort eine Bierdose, die dieser zögerlich entgegennahm, da er einen Widerwillen verspürte, seinen Maltag zu beenden, bevor er überhaupt angefangen hatte.

Von der Straße ertönten Polizeisirenen und Stephen sagte, dass er am Abend zuvor auf der Raver-Party in der Fabrik nebenan gewesen sei. Völlig entsetzt rief seine Freundin:

„Was?“ und warf die Hände in die Luft, bis sie auf ihrem Kopf landeten und von dort herunterglitten, bis sie den vor Schreck noch offenstehenden Mund zudeckten.

„Ich hatte bis spät hier meinen Kram zusammengepackt“, berichtete er weiter, „als plötzlich von nebenan die Musik ertönte. Wow, echt cool, eh, hab‘ ich da gedacht und bin rüber. Hunderte von Leuten waren plötzlich von überall hergekommen. Das war total irre, Mann. Voll cool. Mit riesigen Anlagen, die sie auf Schubkarren transportiert haben. So was hast du noch nicht gesehen, so viel Watt, dass es dir die Ohren wegfegt. Und jede Menge Bier und Pops. Die Jungs hatten in Windeseile die Tür aufgebrochen und alles angeschlossen. Mann, das war so cool eh! Hab‘ ich gleich nen paar E‘s eingeschmissen und bis zur totalen Erschöpfung abgedanced. Dann haben welche im Taumel mit roten Magnesiumfackeln herumfuchtelt. Echt geiles Licht, eh, echt geil. Das kam so cool, but something went wrong, really wrong und in Nullkommanichts war überall Feuer. Ich bin dann sofort rausgerannt wie alle. Wir dachten, alle hätten‘s geschafft. War aber nicht der Fall. Bin dann hier rüber und habe bis zum Morgengrauen die Löscharbeiten verfolgt. War echt traurig, Mann, das hat mich voll runtergebracht. Scheiße, Mann!“

Stephen war nun voll in Fahrt, er wollte einfach nur reden und klopfte bei Gary. Der brachte eine Flasche chinesischen Pflaumenwein an. Sie tranken das Bier aus und Jannek brühte Jasmin-Tee, um damit die Zuckerlastigkeit des Pflaumenweins zu bekämpfen. Stephen erzählte alles über die Raver-Party noch einmal auf Englisch.

Später riefen Jannek und Gary von der Telefonbox im unteren Flur Daya und Toshiko an, um sie ins Atelier zu bestellen. Bald saßen sie alle zusammen in Janneks Atelier mit neuem Bier und gegrillten Hühnchen. Toshiko hatte sich eine Plastikschale mit einem Reisgericht mitgebracht, das sie mit Stäbchen weglöffelte. Die anderen zerlegten mit ihren Händen das Hühnerfleisch und stopften es in sich rein.

„Was willst du denn jetzt studieren?“ fragte Jannek Stephen auf Deutsch, während die anderen Stephens neuer Freundin japanische und indische Restaurants empfahlen.

„Mal halblang. Studieren kommt erst mal nich‘ in Frage. Erst mal veranstalte ich wieder ‚Musik-Events‘. Coole Sache. Hab‘ schon was laufen. Alles groovy. Haben schon alles vorbereitet. Echt cool, eh. Es kommen bestimmt viele Leute, wird echt klasse, wenn wir filmen, ein super Set-up. Can’t describe all this. Ich richte die Lightshows aus, etc. Letztes Event sind 2000 gekommen, big thing, great stuff. Pille eingeworfen und ab ging‘s, echt cool eh. Easy going, nich‘ so ernst wie diese Artists hier. Irre wie verklemmt die sind. Ichbezogen nenn‘ ich das, egozentrisch und ichbezogen. Ich bin froh, dass ich den Schritt geschafft habe, wieder abzuspringen, zu erkennen: Das hier is not for me! Schade natürlich, hatte mir davon wirklich mehr versprochen. Aber was für ein depressiver Winter, eh Mann! Die schlimmste Zeit meines Lebens! I mean, Gary und du, ich bewundere euch, wie ihr für das kämpft, an das ihr glaubt. Aber Kunst, das gibt es doch heutzutage gar nich‘ mehr. Die Partys sind die Kunst, die Kunst sind wir. Malerei ist doch was Altmodisches und Abgehobenes.“

„Wisst ihr eigentlich schon das Neuste“, platzte auf einmal Daya heraus, „Gary und ich heiraten im Herbst! Und zwar in Las Vegas.“

„Wow, Las Vegas!“ rief Toshiko und es gab ein allgemeines Gegröle und Beglückwünschungen. Gary schluckte etwas verlegen, als wolle er darüber nicht recht sprechen und als störe ihn der viele Wind, der davon gemacht wurde. Schnell lenkte er das Gespräch auf die Faszination die Glücksspielparadiese und Kasinos auf ihn ausübten und von dort wanderte das Gespräch auf Wüsten, das Licht, dann Afrika, Australien, die rote Erde, Pigmente und spirituelle Welten.

Toshiko gab Jannek ein Zeichen, dass sie nach Hause wollte, da sie am nächsten Morgen sehr früh arbeiten musste und sie machten sich auf den Rückweg. Toshiko setzte sich auf die Stange des Rades und sie fuhren am Kanal zurück bis nach Hackney. Bei den Hippies unter der Autobahnbrücke loderte ein neues großes Lagerfeuer. Glut wehte herum und sie sangen gegen den Lärm der Straße darüber an. Jannek fuhr schneller. Ein Stück weiter beobachteten sie, wie auf der anderen Seite des Kanals ein Mann von einer Gruppe Jugendlicher überfallen und zusammengeschlagen wurde. Sie schrien rüber, um das Schlimmste zu verhindern, aber sie bezweifelten, dass es geholfen hatte.

Zwanzig Zwanzig

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