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SCHLAF ZUR STEIGERUNG DER LEISTUNGSFÄHIGKEIT
Kaffee heilt Sie von Schlaf, Red Bull verleiht Ihnen Flügel, und schlafen können Sie, wenn Sie tot sind. Aber seit einigen Jahren ist die Einstellung, Schlaf gleich Zeitverschwendung, wieder auf dem Rückzug: Messungen und Tests beweisen immer wieder, dass sich kurze Nächte nachteilig auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit auswirken. Daher gibt es gerade eine Flut von Veröffentlichungen, die hartnäckig auf der Wichtigkeit von Schlaf bestehen – darauf, dass Schlafmangel gefährlich ist.
In den Jahren, in denen ich immer schlechter schlief, konnte ich regelrecht zusehen, wie sich die Schlagzeilen zum Thema Schlaf veränderten: Fast alle erfolgreichen Menschen stehen früh auf war out, jetzt hieß es Sleep Your Way to Success. Schlaf powert Ihr Sozialleben, ja sogar Schlafen oder sterben.
Während früher galt, dass wir so wenig wie möglich schlafen sollen, heißt es heute: Schlafen so viel es nur geht.
Ich erfahre in allen Einzelheiten, wie ungesund mein Schlafrhythmus ist, als ich an einem regnerischen Frühlingstag bei Gegenwind zu einem Bürogebäude beim Amsterdamer Westerdok radle. Dort empfängt mich Els van der Helm, eine Frau um die dreißig, deren Niederländisch mit englischen Begriffen durchsetzt ist, weil sie als Schlafforscherin lange in Harvard war.
Während der Regen gegen die Fenster prasselt, sagt Van der Helm: «Neurowissenschaftliche Forschung kann heute sehr gut zeigen, welche Auswirkungen Schlafmangel hat.» Sie selbst wurde in diesem Thema promoviert. «Und diese Auswirkungen sind echt dreadful.
Zunächst geht eine verkürzte Nacht auf Kosten Ihrer Fähigkeit, zu denken, zu organisieren und Probleme zu lösen. All das sind nämlich Prozesse, für die der präfrontale Cortex zuständig ist.»
Das ist der Teil des Gehirns, der hinter der Stirn liegt. Der präfrontale Cortex ist evolutionsgeschichtlich einer der jüngsten Areale des menschlichen Gehirns. Er befähigt uns, alle möglichen komplexen Gedächtniskunststücke zu vollbringen, wie Pläne schmieden und logisch denken. Aber er ist nicht sehr robust: Er scheint außergewöhnlich empfindlich auf Schlafmangel zu reagieren. Und das geht schnell: Nach neunzehn Stunden Wachsein sind wir genauso aufmerksam wie jemand mit 0,8 Promille im Blut, also wie jemand, der offiziell betrunken ist.21 Selbst die eine Stunde, die uns nach der Sommerzeit-Umstellung fehlt, schlägt sich in einer erhöhten Sterblichkeit am nächsten Tag nieder – hauptsächlich durch eine Zunahme von Autounfällen.22
Wir selbst merken in dem Moment vermutlich gar nicht, dass unsere Fähigkeiten nachlassen – auch das ein Merkmal von Schlafmangel, so Van der Helm.
«Tests, bei denen Probanden zwei Wochen lang nur vier oder sechs Stunden pro Nacht schlafen durften, haben ergeben, dass sie bei Konzentrationsaufgaben immer mehr Fehler machten. Irgendwann sinkt die Leistung wirklich dramatisch ab. Dennoch beharrten sie darauf, dass alles in Ordnung sei: Wir gewöhnen uns einfach an die Müdigkeit. Irgendwann wissen wir nicht einmal mehr, wie es sich anfühlt, wirklich ausgeruht zu sein. Sie selbst haben vielleicht den Eindruck mit ausreichend Kaffee noch wunderbar zu funktionieren, aber das kann auch an dem durch Schlafmangel verminderten Urteilsvermögen liegen.»23
Und das logische Denken ist nicht das Einzige, was weniger gut funktioniert: Nach einer unruhigen Nacht sind Sie auch nicht mehr so gut in der Lage, soziale Signale von anderen richtig zu interpretieren. Darüber hinaus neigen Sie dazu, sich mehr auf negative Dinge zu konzentrieren, an die Sie sich im Nachhinein auch besser erinnern können als an positive, so Van der Helm.
Auch die Selbstbeherrschung lässt nach. «Menschen, die zu wenig schlafen, stellen eine ganze Bandbreite von Kompensationsverhalten zur Schau. So wippen sie die ganze Zeit mit dem Fuß, um wach zu bleiben. Sie essen auch mehr, konsumieren mehr Kaffee, mehr Zucker, betreiben online mehr social loafing, also mehr «soziales Faulenzen», erzählt mir Van der Helm.24 Beschämt denke ich an die vielen Schokoriegel in meiner Schreibtischschublade.
«Wie gesagt, Schlafmangel wirkt sich besonders stark auf Ihren präfrontalen Cortex aus», fährt sie fort. «Aber dieses Hirnareal ist nicht nur für komplexe Dinge wie Nachdenken zuständig. Es hat noch andere wichtige Funktionen, wie Ihr Gefühlszentrum, die Amygdala, zu kontrollieren. Wer schlecht geschlafen hat, kann Gefühle schlechter ‹einbremsen› und reagiert daher impulsiver und weniger beherrscht.» Verschiedene kleinere Studien legen nahe, dass Versuchspersonen, die wach gehalten werden, am nächsten Tag mehr Geld ausgeben, vor allem für Junkfood und Spontankäufe. Van der Helm verweist auch auf Untersuchungen, die nahelegen, dass Führungskräfte, die schlecht geschlafen haben, am nächsten Tag ungeduldiger und gereizter sind, ihren Untergebenen gegenüber aggressiver auftreten.25 Sofort habe ich Mitleid mit Elon Musks Kollegen.
Die Folgen von zu wenig Schlaf addieren sich auf. Forschungen haben ergeben, dass ein anderer wichtiger Teil des Gehirns, der Hippocampus, bei lang anhaltendem Schlafmangel schrumpft (zumindest bei Versuchstieren). Das sind schlechte Nachrichten für die Auffassungsgabe, denn der Hippocampus ist für die Verarbeitung und Speicherung von Informationen unverzichtbar. Deshalb lässt Ihre Fähigkeit Neues zu lernen nach, wenn Sie wenig schlafen.26
Nicht nur Ihr Gehirn leidet – im Grunde scheint es keine Körperfunktion zu geben, die bei Schlafmangel nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Herz- und Gefäßerkrankungen, Diabetes, Übergewicht, Krebs, Alzheimer, Depressionen: Jede durchwachte Nacht ist ein zusätzliches Los für diese gruselige Schicksalslotterie. So scheinen Krankenschwestern, die regelmäßig Nachtschichten machen, ein um 60 Prozent höheres Brustkrebsrisiko zu haben. Je mehr Nachtschichten, desto größer das Krebsrisiko.27
Sich selbst um den Schlaf zu bringen scheint so schädlich zu sein, dass das Guinness-Buch der Rekorde Rekordversuche in Sachen Wachbleiben nicht länger akzeptiert. Fallschirmspringen aus 39 Kilometern Höhe? Immer gerne! Aber Schlafentzug gilt als zu gefährlich.28
Im Eilzug-Tempo werden deshalb Schlafkurse, Gesundheitskampagnen und Abhandlungen über den Schlaf herausgebracht. Forschungsanstalten beziffern den Gewinn, den ein Betrieb pro Arbeitnehmer einbüßt, der zu wenig schläft und aufgrund von Fehlzeiten, Gesundheitsbeschwerden, Unfällen sowie nachlassender Konzentration weniger wegschafft.29
Auch Van der Helm besitzt momentan ein Unternehmen, das Schlaftrainings anbietet, die die Produktivität der Teilnehmer erhöhen sollen. Und die Nachfrage nach solchen Trainingseinheiten ist groß. Nach all den Artikeln und Zeitungsberichten, die in den letzten Jahren über die negativen Folgen von Schlafmangel erschienen sind, begreifen die Firmen allmählich: nicht lange Tage, sondern lange Nächte sind der Schlüssel zu Turbo-Mitarbeitern. Unternehmensberatungen preisen die Nachtruhe als «unkomplizierte, einfache und günstige Methode, um die Produktivität anzukurbeln».30
1968, im Jahr der Studentenproteste, tauchte am Streckenabschnitt der Pariser Metro zwischen Innenstadt und Banlieue folgendes Graffito auf:
Vous dormez pour le patron.31
«Sie schlafen für den Chef.»
Inzwischen dürfen wir das getrost wörtlich nehmen. Es gibt bereits Firmen, die ihren Angestellten für jede Nacht, in der sie mindestens sieben Stunden schlafen, einen Bonus zahlen. Was diese allerdings beweisen müssen, indem sie einen Sleeptracker tragen, damit ihr Chef ihnen bis ins Bett folgen kann.32
Nicht nur in den Niederlanden bieten Krankenversicherungen Beitragsrabatte an, und zwar jedem, der über eine TrackApp «Bonuspunkte» sammelt – unter anderem durch ausreichend Schlaf.
Wer dagegen nicht auf seine Schlafhygiene achtet, muss büßen. Als Elon Musk das Interview zu seiner 120-Stunden-Woche gab, rief das großen Protest hervor. Investoren machten sich öffentlich Sorgen über seine geistige Verfassung, und die Tesla-Aktie fiel um 9 Prozent.33 Unvernünftig, unverantwortlich, hieß es in der Presse. Go to sleep, Elon zwitscherte Twitter.
Im Grunde ist die Motivation derer, die verzweifelt versuchen einzuschlafen, dieselbe wie die derjenigen, die den Schlaf meiden, nämlich die, die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern. Erst haben wir geglaubt, dass uns der Schlaf um die Zeit bringt, alles Mögliche erledigen zu können. Inzwischen glauben wir, dass Schlafmangel uns die dafür nötige Energie raubt. Ob wir nun verzweifelt versuchen zu schlafen oder ihn vielmehr meiden – unterm Strich ist das Ziel dasselbe: Wir sollen aus den wachen Stunden so viel wie möglich rausholen. Schlaf als winziger Schritt Richtung Supermensch.
Damit ist der Schlaf zum zigsten Gebiet geworden, auf dem wir Leistung erbringen oder aber scheitern können.