Читать книгу Einschlafen - Bregje Hofstede - Страница 12
Оглавление05:00
SCHLAFTABLETTEN HELFEN NICHT
In der Stadt ist nicht immer zu erkennen, wann es Morgen wird. Dunkel wird es nämlich nie. Aber ab einer gewissen Uhrzeit verändert sich das fahlgelbe Licht und wird kühler, bläulicher.
Wenn ich dann noch wach war, begann ich mit meinem Tag. Ich zog einen großen Pulli an und kuschelte mich mit starkem Tee und meinem Laptop in die Sofaecke, um an einem Artikel oder Roman weiterzuarbeiten.
Es war eine große Erleichterung, mich auf etwas anderes konzentrieren zu können, und seltsamerweise funktionierte das gut. Schlaflosigkeit macht mich nicht müde. An Tagen wie diesen verschwimmt nicht etwa alles miteinander, sondern es herrscht eine konzentrierte Aufmerksamkeit, die nur ab und zu Risse bekommt, durch die die Müdigkeit hindurchscheint. Ich stand die Tage deshalb prima durch, aber das war auch schon alles.
Mein Leben und ich hatten nur noch wenig Fleisch auf den Knochen. Ich funktionierte; für alles andere fehlte mir die Kraft.
Als ich endlich zum Hausarzt ging, verschrieb der mir das Schlafmittel Temazepam. Eigentlich wollte ich das gar nicht nehmen: Ich hatte Angst vor Abhängigkeit und Nebenwirkungen – dazu bald mehr. Aber ich sah kaum Alternativen.
Eine Weile diente mir die Tablette neben dem Bett als weiße Notruftaste. Sie beruhigte mich, weil ich die Wahl hatte, die einsamen Stunden einfach auszublenden. So konnte ich der Panik entkommen, die an meinem Verstand leckte wie die Flut an einer Sandburg. Noch ein paar mehr von diesen Nächten, so dachte ich oft, und ich werde verrückt. Die Tabletten flüsterten mir zu: Wenn es wirklich nicht anders geht, kannst du wenigstens bewusstlos werden.
Die Dosis, die ich dafür brauchte, wurde immer höher. Kam ich zunächst noch mit einer halben Tablette aus, reichte schon bald eine ganze nicht mehr. Regelmäßig lag ich mit dem metallischen Geschmack der Tablette auf der Zunge halbwach im Bett. Es war eine seltsame Zwischenwelt: Ich war nicht länger wach, aber den Zustand, in dem ich mich befand, konnte man auch nicht als Schlaf bezeichnen. Ich hörte beispielsweise sehr wohl, was im Haus vor sich ging, konnte aber mit den Geräuschen nichts anfangen, so als würde jeder Gedanke sofort gelähmt. Ganz aus dieser Welt entschwinden konnte ich nicht. Mein Geist wurde zusammengepresst wie Müll in einem Müllwagen, dennoch blieb stets ein Lichtspalt übrig, ein dünner Streifen Bewusstsein, der koste es, was es wolle, nicht loslassen wollte. Und morgens beim Aufwachen wurde der chemische Kater stets schlimmer.
Einer von zehn Niederländern nimmt Schlaf- oder Beruhigungsmittel. Es geht um Benzodiazepine, eine Medikamentengruppe, zu der beispielsweise Oxazepam und Temazepam gehören. Seit die Regierung Warnhinweise gegeben hat, sinken die Zahlen leicht, dennoch wurden 2017 161,5 Millionen Standarddosen verschrieben.35 Das sollten wir uns mal auf der Zunge zergehen lassen: 161 Millionen Tabletten. Nur in den Niederlanden, in einem einzigen Jahr.
Belgier greifen noch viel öfter nach Schlaf- und Beruhigungsmitteln: mit ihren ca. 460 Millionen Dosen pro Jahr konsumieren sie weltweit am meisten.36 460 Millionen Tabletten im Jahr – Tendenz steigend. Wir brauchen nur hundert zufällig ausgewählte Belgier zu fragen, ob sie in den letzten zwei Wochen eine Schlaftablette genommen haben: Dreizehn von ihnen werden Ja sagen. Eine Zahl, die sich innerhalb von zwanzig Jahren nahezu verdoppelt hat.37
Wie wirken Schlaftabletten eigentlich? Ich habe mir das vom Neurowissenschaftler Eus van Someren erklären lassen. Ein kleiner, energischer Mann mit zerzaustem Haar und einem Gesicht, das trotz der Falten etwas Jungenhaftes bewahrt hat. Er ist Chef des Fachbereichs Schlaf und Kognition des Niederländischen Instituts für Hirnforschung und außerdem Professor für integrative Neurophysiologie. Er erzählt mit ansteckender Begeisterung vom Schlaf.
«Schlafmittel wie Temazepam und Zopiclon wirken auf einen bestimmten Botenstoff im Gehirn, genannt GABA. GABA unterdrückt die Kommunikation im Gehirn. Schlafmittel verstärken dessen Wirkung.»38 GABA lässt sich als körpereigenes Beruhigungsmittel betrachten. Dieser Stoff sorgt dafür, dass Signale im Gehirn nicht übermittelt werden – oder anders gesagt, dass wir Dinge nicht mehr wahrnehmen. «Eigentlich läuft es darauf hinaus, dass wir nicht mehr merken, dass wir nicht schlafen. So gesehen, dürften Schlaftabletten eigentlich nicht Schlafmittel heißen, sondern Anti-Wachmittel. So eine Tablette bewirkt sehr wohl etwas, denn wenn wir mehrere davon nehmen, wird niemand behaupten können, wir wären wach. Aber sie schenken uns nicht den Schlaf, den wir normalerweise hätten.» Schlafmittel könnten schlichtweg keinen natürlichen Schlaf hervorrufen, so Van Someren. Kein einziges Medikament schafft das. Und leider fehlt dem «Kunstschlaf», der bewirkt wird, auch die gesunde, erholsame Wirkung echten Schlafs.
Auch andere Schlafkenner warnen und sagen, dass Schlaftabletten keine Lösung sind. So schreibt Matthew Walker, der Verfasser von Das große Buch vom Schlaf, dass manche modernen Tabletten wie Ambien zwar etwas erzeugen, das in Bezug auf die Gehirnwellen Schlaf ähnelt, es aber nach wie vor nicht schaffen, echten Schlaf hervorzurufen. Dem Ergebnis fehlen beispielsweise die langsamen Gehirnwellen, die bei einer natürlichen Nachtruhe sehr wohl vorkommen. Und vor allem seine erfrischende Wirkung.
Kaum Vorteile also – dafür jede Menge Nachteile. Gedächtnisverlust zum Beispiel. Während Schlaf das Gedächtnis verbessert, sorgen Schlafmittel eher für Vergesslichkeit. Das liegt daran, dass echter Schlaf die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen verstärkt, während Schlafmittel sie eher schwächen.
Als ob das Schlaftabletten nicht schon unattraktiv genug machen würde, riskieren wir außerdem, dass sie die Schlaflosigkeit höchstens ein bisschen nach hinten verschieben. Denn sobald wir die Tabletten absetzen, kann es zu einem Rückfall kommen, rebound insomnia genannt: Durch den Entzug liegen wir dann erst recht wach. Und greifen dadurch schnell wieder zu Tabletten. Es droht ein Teufelskreis. Selbst wenn wir das in Kauf nehmen, bleibt nur wenig von der Magie der Schlaftablette übrig, wenn man weiß, dass Menschen mit so einer Tablette kaum mehr schlafen, als sie es ohne würden.
Dass sich Schlaf nicht erzwingen lässt, ist etwas, mit dem sich der moderne Mensch nur schwer abfinden kann. Wir können Embryos züchten, Hamburger in einer Petrischale heranziehen, fluoreszierende Kaninchen produzieren, das Klima des gesamten Planeten verändern. Und dennoch gibt es trotz aller Forschung, trotz aller Tabletten und Versuche noch immer keine einzige Methode, kein einziges Mittel, das Schlaf hervorrufen oder ersetzen kann.
Als sich ein Team von Wissenschaftlern 65 verschiedene Schlaftabletten-Studien genauer ansah, stellte sich heraus, dass die Menschen, die so eine Tablette einnahmen, im Grunde kaum besser schliefen und auch nicht viel schneller einschliefen als diejenigen, denen man ein Placebo verabreicht hatte. Diejenigen mit der echten Tablette schliefen zum Beispiel durchschnittlich 22 Minuten früher ein. Eine Wirkung, die sich vor allem älteren Studien mit älteren Tabletten in höheren Dosierungen entnehmen ließ. Unterm Strich, so die Forscher, sei die medizinische Wirksamkeit «verhältnismäßig klein» und ihre klinische Bedeutung «zweifelhaft».39 Sie bewirken durchaus etwas, aber dasselbe gilt für ein Placebo. Und im Vergleich zu Tabletten funktioniert ein psychotherapeutischer Ansatz kurzfristig genauso gut, langfristig sogar noch besser.40
Nur dass Schlafmittel im Gegensatz zu Placebos oder zu einem Besuch beim Psychologen unschöne Nebenwirkungen haben. Diese Medikamente können beispielsweise abhängig machen. Außerdem führen sie oft dazu, dass wir uns noch den ganzen nächsten Tag benommen fühlen, was das Risiko für einen Verkehrsunfall oder für eine Sturzverletzung erhöht. Und die Chance, einen Unfall zu erleiden, ist nur ein Grund, warum Schlafmittelkonsumenten ein höheres Sterberisiko haben als der Durchschnittsbürger. Ebenso relevant ist der vermutete Zusammenhang zwischen diesen Tabletten und Krebs: Wer sie nimmt, hat ein um 35 Prozent höheres Krebsrisiko.41
Angesichts dieser Fakten ist es absurd, dass wir alle so viele Tabletten schlucken, die uns zwar Nebenwirkungen, aber keinen Schlaf bescheren.