Читать книгу Einschlafen - Bregje Hofstede - Страница 14

ENTSPANNEN UM JEDEN PREIS

Оглавление

Ich warf meine Tabletten weg. Es wurde Zeit, echte Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mein Fahrrad schiebend, ging ich zu meinem Termin. Der Wind wirbelte Blätter auf, kahle Zweige schlugen gegeneinander. Mein Kopf war seltsam leicht und mein Körper so träge, dass ich kaum spürte, wie sich die Beine bewegten. Hätte ich mich nicht an den Lenker meines Fahrrads geklammert, hätte mich gut und gern der Wind fortwehen können.

Die Psychologin, die sich meiner annahm, sagte: «Im Grunde haben Sie die Wahl: Ich kann Ihnen entweder eine Schlafstörung oder aber eine Angststörung bescheinigen. Weil Sie auch Angst davor haben, nicht schlafen zu können, erfüllen Sie die Kriterien für beides.» Sie schob den von mir ausgefüllten Fragebogen in die Mitte ihres Schreibtisches und ließ die Hände darauf ruhen. Ein goldener Ring mit einem darin eingelassenen Schmuckstein. Sogar ihre Finger hatten Sommersprossen. Gesicht und Hals waren vollständig von Sonnenflecken bedeckt, und sie schaute mich fröhlich an.

Ich lasse mich nicht gern als gestört bezeichnen. Jetzt hatte ich die Wahl: generell gestört oder bloß im Bett?

«Ändert das etwas an der Behandlung?»

Sie zuckte nur mit den Schultern. «Nun, bei einer Schlafstörung kann ich Ihnen eine normale Schlaftherapie verschreiben. Oder aber Sie entscheiden sich für die Angststörung, dann haben wir ein paar Optionen mehr. Dann kann ich Sie zu einem Schlaftherapeuten schicken, der einen etwas breiteren Ansatz verfolgt.»

«Okay. Dann mache ich das.»

Während sie sich ihrem Bildschirm zuwandte, schlug ich das Heft zu, das ich mitgenommen hatte, das Heft mit der langen Zahlenreihe am Ende. Zwei, drei, fünf, acht, zwei: Schon seit Monaten notierte ich mir, wie viele Stunden ich pro Nacht schlief. Ich hatte mich auf eine Diagnose vorbereitet, um damit Anrecht auf Hilfe zu haben. Dennoch fühlte es sich kein bisschen wie ein Triumph an, mit diesen Zahlen zu winken.

«Ge-ne-ra-li-sier-te Angst-stö-rung», murmelte die Psychologin, während sie ihre Diagnose in meine Patientenakte eintrug. Einmal fest die Enter-Taste drücken. «So! Sie werden dann bald wegen eines Anamnesegesprächs angerufen.»

Und schon stand ich wieder draußen.

Sie haben die Wahl? So funktionierte das also?

Ich marschierte zurück, wie ich hergekommen war, durchquerte erneut den Park. Auf einer Windbö segelte ein limettengrüner Vogel. Breite Flügel, langer spitzer Schwanz, ein gellendes Lachen.

Ein paar Wochen nach meiner Überweisung wurde ich von einer Schlaftherapeutin zum Anamnesegespräch gebeten.

Amsterdamer Backsteinarchitektur, Balkone, Räder auf dem Bürgersteig. Ein diskretes Türschild, das auf die Psychologiepraxis Grip verwies. Ich klingelte, ging eine Treppe hinunter und wurde eingelassen.

Das Behandlungszimmer im Souterrain war mit einem großen Schreibtisch und einem Whiteboard zur Hälfte wie ein Büro eingerichtet. Die andere Hälfte imitierte mit Schaffell auf Schalensesseln ein Wohnzimmer, in dem ich während der Monate, die ich hierherkam, nie Platz nehmen sollte. Am Fenster streckte eine mickrige Monstera ihre Zweige zum Licht.42

Die Therapeutin, die mir gegenüber saß, hieß Sanne Verkooijen: eine junge Frau mit ernstem Blick, die ihr glattes braunes Haar über die linke Schulter drapiert hatte. Sie bat mich, ihr zu erzählen, was ich so alles tat oder ließ, um schlafen zu können. Meine Aufzählungen notierte sie auf dem Whiteboard hinter ihrem Schreibtisch. In der darauffolgenden Viertelstunde hielt ihr quietschender blauer Marker meinen gesamten Alltag fest: Was ich aß, wann ich duschte, arbeitete, mich bewegte, ob ich mich verabredete oder nicht, wie stark ich meine Heizung aufdrehte. All meine wenig hilfreichen Rituale schrieb sie auf, einschließlich Reiswaffeln mit Erdnussbutter: Schlaflosigkeit als Ganztagsbeschäftigung.

«Und, funktioniert es?»

Anstelle einer Antwort schnaubte ich nur. Ich war nicht verrückt. Ich merkte durchaus, dass nichts an dem verbissenen Streben nach Ruhe half. Aber wenn die Schlaflosigkeit nur lange genug dauerte, gab es nichts, was ich nicht ausprobierte.

Sie fragte mich, ob ich mich an eine Zeit erinnern könne, in der ich gut geschlafen hätte. «Als Kind zum Beispiel?»

Ja, als Kind. Ein erster Januar fällt mir wieder ein, an dem ich auf dem Dachboden meiner Großeltern aufwachte und begriff, nichts vom Jahreswechsel mitbekommen zu haben. Ich dürfte damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Man hatte mir versprochen, mich zum Feuerwerk und zu den Neujahrskrapfen zu wecken, doch jetzt war plötzlich schon der nächste Tag. Was war ich wütend! «Wir haben dich nicht wachbekommen», sagten Oma und Opa. «Nicht mal mit einem nassen Waschlappen auf deinem Gesicht.»

Derselbe Opa nahm meine Schwestern und mich mit in den Skiurlaub. Der erste Ferienhöhepunkt war der Schlafwagen, der uns nach Italien brachte. Es war ein altes, graues Ungetüm, versehen mit unkaputtbaren sanitären Anlagen, senfgelben Vorhängen und unzuverlässiger Heizung. Ausgelassen nahmen wir unser Abteil in Beschlag, das Platz für sechs Betten bot. Es war eine Welt für sich, mit einer kleinen Leiter, den ausklappbaren Möbeln und diesem langen, sich wiegenden Gang … Ich durfte eines der oberen Betten belegen: ein mit Stoff bezogenes Brett knapp unterm Zugdach, gut zwei Meter über dem Boden. Wegen der Höhe war die oberste Pritsche schräg montiert, damit man eher gegen die Wand als aus dem Bett kullerte. Außerdem gab es ein Netz zwischen den beiden obersten Betten, dass sich ausspannen ließ. Sollte man nachts von der Pritsche fallen, fiel man in dieses Netz. Der Schutz, den es bot, war eher symbolisch: für ein sechs- bis siebenjähriges Kind war das Fangnetz kaum groß genug, und immer wenn ich es schaffte, angeblich aus Versehen ins Netz zu rollen, ächzte es beängstigend. Aber in meiner Fantasie war es sicher.

Und ich schlief. Trotz der Lautsprecherdurchsagen an den Bahnhöfen, trotz der Wintersportler, die bei jedem Halt mit ihren Skiern und großen Taschen gegen die Schiebetüren stießen, und trotz des rüttelnden Zuges, der die Berge hochschnaufte.

Einst war Schlaf ein Gott. Morpheus, der Gott der Träume. Auf Gemälden ist er ein gut aussehender junger Mann mit Flügeln, der den Schlafenden in die Arme nimmt. Mein Vater verweist manchmal noch heute in einem poetischen Moment auf ihn: «Ich flüchte mich dann mal in Morpheus’ Arme», sagt er, wenn er sich ein Nickerchen gönnt.

Morpheus ist längst in Rente, so wie alle Götter. Sein Platz wurde noch kurzzeitig von dem deutlich weniger gut aussehenden Sandmännchen eingenommen, eine Art Kobold mit einem Beutel Sand am Gürtel. Den streute er uns in die Augen, woraufhin wir einschliefen. Sehen konnten wir ihn nie, weil der Sandmann erst aus der Deckung kam, wenn wir die Augen schon zu hatten, und die einzige Spur, die er zurückließ, waren die gelben Körner, die wir uns morgens aus den Augen rieben.

Als Kind konnte ich mich dem Schlaf problemlos überlassen. Ich verließ mich auf ein mickriges kleines Netz, ja sogar auf einen unsichtbaren Kobold. Doch als ich erwachsen wurde, gelang mir das nicht mehr.

Das Einzige, was mich zwanzig Jahre später wirklich zur Ruhe bringen konnte, war das Gewicht meines Freundes. Wenn er bei mir schlief, und ich eine schlechte Nacht hatte, bat ich ihn manchmal, mich zu «plätten».

Dann legte er sich lang und breit auf mich. Er sollte mich möglichst ganz zudecken, meine Beine mit seinen Beinen, meinen Rücken mit seinem Bauch, meine Arme mit seinen Armen, damit ich so fest in die Matratze gedrückt wurde, dass ich nur noch Hände und Füße bewegen konnte.

Seltsamerweise war das herrlich. Siebzig Kilo unentrinnbare Präsenz ließen mich zur Ruhe kommen, pressten sämtliche Nervosität aus meinem Körper. Sämtlichen Sauerstoff übrigens auch. Nach ein paar Minuten bekam ich einen Lachkrampf und rang nach Luft, sodass mein Freund anfing sich Sorgen zu machen. Dann rollte er wieder von mir herunter und brummte, «Was hab ich denn da nur für ein seltsames Exemplar erwischt?»

Manchmal schlief ich danach ein. Manchmal auch nicht, aber die innere Unruhe war wenigstens für einen Moment gezähmt.

Als ich der Therapeutin vom Schlafwagen und vom Sandmann erzählte, sagte sie: «Das klingt so, als wäre das Schlafen irgendwann wie von selbst gegangen. Als ob Sie sich dem Schlaf problemlos überlassen, sich ihm hingegeben haben.»

Ja, einst war das so. Aber später war Hingabe zu etwas geworden, dass ich mir mühsam abringen musste.

Auf das Whiteboard mit meinen Schlafversuchen zeigend, sagte sie: «Schlaf ist die ultimative Form von Entspannung. Mit der Ironie, dass angestrengtes Entspannen nichts bringt.»

Eine tägliche Joggingrunde, las ich. Keinen Tee oder Kaffee trinken; von tausend rückwärtszählen. Angestrengtes Entspannen bringt nichts.

«Sie können nichts tun, um das ultimative Nichtstun zu erreichen. Im Gegenteil, wenn Sie sich so krampfhaft bemühen, wird Schlaf zu etwas, womit Sie ringen, ein Feind, den Sie mit Kräutertee und Meditation besiegen müssen. Mit dieser Einstellung wird Ihr Stresssystem angekurbelt wie in einer Kampfsituation.»

Verkooijen erzählte mir, dass viele Menschen, die in diesem Behandlungszimmer landeten, Schlaf mittlerweile als einen Gegner betrachteten, im Grunde als Feind. «Die Eigenschaft, die ich bei den meisten mit Schlafproblemen erlebe, ist ein gesteigertes Kontrollbedürfnis. Es sind häufig junge Menschen – vor allem junge Frauen –, die alles gleichzeitig wollen: eine Familie, die perfekte Wohnung, Erfolg im Beruf, im Sport, alle Freunde auch weiterhin sehen … Lauter Wünsche, die dafür sorgen, dass das Gehirn unglaublich aktiv ist.»43

Irgendwann leben die Menschen ihr Kontrollbedürfnis dann auch in Bezug auf ihren Schlaf aus.

Dabei ist es nicht sehr hilfreich, dass wir in einer Machbarkeitsgesellschaft leben, so Verkooijen. Wenn wir es gewohnt sind, dass sich das Leben mit etwas Anstrengung gemäß unseren Wünschen gestalten lässt, erwarten wir, dass es beim Thema Schlaf genauso funktioniert. Dass sich der Schlaf, solange wir nur die richtigen Schritte unternehmen, ganz von selbst einstellen wird wie ein Fleißbildchen nach sorgfältig gemachten Hausaufgaben. Doch von wegen! Wir können nichts tun, um das ultimative Nichtstun zu erreichen.

«Schauen Sie!» Meine Therapeutin ging zum Whiteboard, auf das sie einen dicken Punkt malte. «Das sind Ihre ursprünglichen Beschwerden: Sie können oft nicht schlafen. Und das hier» – sie kringelte den Punkt ein – «ist alles, was Sie bei dem Versuch, trotzdem schlafen zu können, um sich herum hochgezogen haben. Je mehr sie dem hinzufügen, desto größer Ihr Problem. Je mehr sie sich anstrengen, desto größer werden Ihre Schwierigkeiten, bis sie Ihren gesamten Alltag beherrschen. Woraufhin es immer schwerer fällt, abends unbefangen ins Bett zu gehen.»

Sie schwieg kurz, als wollte sie ihre Worte wirken lassen, und ließ mich auf den Punkt und den Kreis starren, die wie ein Auge zurückstarrten. «Deshalb sollten Sie all die Tricks, die Sie anwenden, um Ihre Schlafprobleme zu lösen, lieber weglassen. Oder besser gesagt: Wenn Sie Ihre Schlafprobleme verringern wollen, tun Sie am besten gar nichts dagegen.»

Nichts tun. Nicht das Geringste. «Loslassen!», sagte sie. Und dafür hatte ich die Psychologie-Praxis Grip aufgesucht?

Hieß das, dass ich ungestraft wieder alles tun durfte, folgenlos? Schluss mit dem Meditieren, mit dem Kamillentee und mit dem Sport! Her mit dem blauen Licht, dem Kaffee und dem Wein auf dem Sofa!

Ich fand es beängstigend, alles, was mir vermeintlich Halt bot, loszulassen, gleichzeitig hatte es etwas Befreiendes. Kurz nach meinem Gespräch mit der Schlaftherapeutin sah ich mir mit einer Freundin einen spannenden Film an, um mich anschließend in einer Kneipe mit ihr darüber zu unterhalten. Danach – zu später Stunde, viel später als sonst! – lief ich durch eine nassgeregnete Stadt nach Hause, in der sich alle Lichter verdoppelt zu haben schienen, weil sie vom nassen Pflaster reflektiert wurden. Ich lag erst spät im Bett, den Kopf voller Eindrücke und Alkohol, und schlief so schlecht wie immer; aber wenigstens hatte ich eine schöne Zeit gehabt.

Ich war nicht nur erleichtert, sondern auch enttäuscht. Wenn wir uns mit jeder Faser unseres Körpers nach Schlaf sehnen, lässt sich diese Sehnsucht nicht einfach so abstellen und Nichtstun auf ärztlichen Rat hin nur schwer umsetzen.

Ich entschied mich für einen Mittelweg. Wenn ich schon nichts tun konnte, um den Schlaf körperlich in den Griff zu bekommen, konnte ich wenigstens versuchen, ihn zu begreifen. Ich wollte wissen, warum all meine ausgeklügelten, schlaffördernden Angewohnheiten so nutzlos waren. Wenn meine Schlafhygiene weder die Lösung noch das Problem war, gab es dann vielleicht etwas anderes, das mich wachhielt?

Die Suche nach einer Erklärung für meine Schlaflosigkeit war natürlich ein Täuschungsmanöver. Ein Umweg, trotzdem irgendetwas tun zu können, ein Schleichweg hin zu einer möglichen Lösung. Obwohl die Therapeutin doch gesagt hatte, ich müsse mich von dieser Vorstellung verabschieden. Aber Hoffnung ist ebenso hartnäckig wie eigensinnig.

Es gab noch einen Grund, warum ich die Schlaflosigkeit begreifen wollte: Was mich an meiner Insomnie nämlich vor allem störte, war, dass sie so vollkommen sinnfrei zu sein schien. Ich kann gut und gern ein paar Unannehmlichkeiten wegstecken, solange meine Qualen irgendeinem Zweck dienen. (Um vier Uhr früh aufstehen, um in den Urlaub zu fahren, fühlt sich ganz anders an als um vier Uhr früh aufstehen, weil sowieso nicht an Schlaf zu denken ist.) Ich stellte es mir einfacher vor, wach zu liegen, wenn dieses Wachliegen denn einen Sinn hätte.

Und so begann ich nach fast zehn Jahren Insomnie mit einem Projekt: Alles lesen und mit jedem sprechen, der vielleicht eine Erklärung für meine Schlaflosigkeit hätte.

Einschlafen

Подняться наверх