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WIR WISSEN WENIG ÜBER DEN SCHLAF

Wer sich auf die Suche nach der Bedeutung von Schlaflosigkeit begibt, stößt schnell auf ein erstes Hindernis: Viele Menschen, die gut schlafen, sind der Ansicht, Schlaflosigkeit existiere gar nicht.

Vielleicht kennen Sie das, Sie äußern, dass Sie schlecht schlafen und erhalten die gutgemeinte Reaktion: «Oh, Sie schlafen in Wirklichkeit mehr als Sie denken.» Einer der hartnäckigsten Mythen rund um Schlaflosigkeit ist, dass man sie sich bloß einbildet. Man glaubt, man läge wach. Dafür gibt es einen eigenen Fachbegriff – sleep state misperception oder Fehlwahrnehmung des Schlafzustandes -, insofern muss ja was dran sein.44 Schlaflose täuschen sich schlicht. Eigentlich schlafen sie prima.

In seinem Bestseller bezeichnet Matthew Walker Schlaflose sogar als Hypochonder: Die meisten sind dem Autor zufolge eingebildete Kranke. Denn wenn man diese Menschen in einem Schlaflabor übernachten lässt und ihren Kopf an lauter Elektroden anschließt, die ihren Schlaf «objektiv» messen, widersprechen die Ergebnisse oft der Eigenwahrnehmung, schlecht zu schlafen. Das Schlafdiagramm, das der Computer ausspuckt, verzeichnet nämlich durchaus Gehirnströme, die der Hirnaktivität im Schlaf, sogar im Tiefschlaf entsprechen. Sie mögen unterbrochen sein, aber wenn man die Schlafabschnitte zusammenzählt, kommt die Testperson auf einen gesunden Schlaf, auch wenn sie behauptet, stundenlang wach gelegen zu haben.

Wie misst man, ob jemand wach liegt? Das war die erste Frage, auf die ich eine Antwort finden musste, und wie sich herausstellte, war das einigermaßen knifflig.

Schlaf mag ein universeller Bestandteil des Lebens sein, bleibt aber trotz seiner Alltäglichkeit erstaunlich mysteriös. Wir wissen eigentlich nur wenig über den Schlaf. Was ist Schlaf überhaupt, warum brauchen wir ihn, wie funktioniert er und wie misslingt er? Wir verfügen bestenfalls über Hypothesen.

Was passiert, wenn man schläft? Wie fühlt es sich an, wie funktioniert es? Das lässt sich nicht so einfach sagen. Man kann seinen eigenen Schlaf nicht beobachten – denn in dem Moment schläft man ja. Auch den Schlaf anderer kann man nur über Umwege erforschen: mit Hilfe vager Berichte nach dem Aufwachen oder Messungen der rätselhaften Hirnaktivitäten, die dann in bunte Bilder oder Diagramme umgesetzt werden.

Vielleicht haben Sie schon mal mit Ihrem Partner darüber diskutiert, ob Sie eben auf dem Sofa kurz weggedöst sind oder nicht. Nein, ich habe doch alles noch gehört und über die Arbeit nachgedacht, denken Sie. Doch, du hast geschlafen, meint hingegen Ihr Partner, der neben Ihnen saß. Er hat Sie leise schnarchen hören, und der kleine Speichelfaden auf dem Kissen scheint ihm recht zu geben.

Was wissenschaftlich als Schlaf gilt oder nicht, wird anhand eines Elektroenzephalogramms, kurz EEG, bestimmt. Aber da fangen die Probleme schon an, wie mir Eus van Someren erklärt. Ich habe ihn eben bereits erwähnt: der jungenhafte Mann mit fröhlich zerzaustem Haar ist Leiter des Fachbereichs Schlaf und Kognition des Niederländischen Instituts für Hirnforschung. Da ich von ihm so viel über den Schlaf gelernt habe wie von niemandem sonst, werden wir ihm in den folgenden Kapiteln noch öfters begegnen.

Van Someren ärgert sich manchmal sehr über die Vorstellung, Schlaflose würden sich ihr Leiden bloß ausdenken: «Menschen, die das sagen, führen immer Schlafdiagramme als Beweis an. Aber was sie dabei vergessen ist, dass so ein elektrisches Signal wenig aussagt.» Bei einem EEG sehe man, wie viel elektrische Aktivität im Gehirn gemessen wird, während jemand schläft, so erklärt er. Diese Signale werden in wellenförmige Linien umgesetzt; und einige dieser Wellen gelten als typisch für Schlaf. Aber was bedeuten diese Wellen eigentlich? Van Someren: «Eine Gehirnwelle gibt an, dass die Gehirnzellen gleichzeitig ihre Aktivität geändert haben. Aber diese Messung ist nicht ganz präzise: Man sieht nur etwas, wenn fünfzig- bis hunderttausend Gehirnzellen gleichzeitig ihre Aktivität ändern. Sind es weniger, zeigt das Gerät es nicht an.» Kurzum: Ein EEG misst nur grobe Veränderungen. «Außerdem: Die Elektroden, die am Kopf befestigt werden, messen nur, was in der äußersten Hirnschicht, in der sogenannten Großhirnrinde passiert. Was in tieferen Schichten geschieht, registrieren sie nicht», erklärt er.

«Man kann sich das vorstellen wie einen großen, altmodischen Computer, den man auf Hochtouren laufen lässt. Irgendwann schaltet sich der Lüfter ein und beginnt zu summen. Unser Gehirn ist bei diesem Vergleich der Computer. Und das Summen des Lüfters ist das EEG: Daraus lässt sich ableiten, dass in unserem Computer bzw. Gehirn etwas vor sich geht. Aber was, wissen wir nicht. Man kann zwar mit dem EEG die Hirnaktivität messen, aber das ist vielleicht gerade mal 0,1 Prozent von dem, was tatsächlich im Gehirn geschieht. Ehrlich gesagt, glaube ich sogar, dass es noch weniger ist. Ich würde sagen, dass sich fast alles unter dem Radar abspielt.»

Kurzum: Anhand von Elektroden und Schlafdiagrammen sieht man nur einen winzigen Bruchteil dessen, was sich in der Großhirnrinde, der äußersten Gehirnschicht, abspielt. Mit Abstand das Meiste, was in unserem Kopf vor sich geht, bleibt im Verborgenen.

Diese Worte aus dem Mund eines der renommiertesten Schlafforscher des Landes klingen nach einem wenig ermutigenden Auftakt für meine Suche nach dem Schlaf. Je mehr ich darüber erfahre, desto deutlicher wird, dass Schlaf komplizierter ist, als ich gedacht hatte. Es handelt sich offenbar um ein Gebiet, bei dem wir größtenteils noch im Dunkeln tappen.

In den nächsten Kapiteln hingegen betrachten wir jene Aspekte des Schlafs, die die Forschung bereits ans Tageslicht befördert hat.

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