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STERNE GUCKEN

Ich war elf, als ich die Milchstraße zum ersten Mal sah. In einer Sommernacht auf dem Peloponnes, ein menschenleerer Landstrich in Griechenland, wo ich mit meinen Eltern und meinen Schwestern Urlaub machte.

Abends, nach einem Tag am Meer, liefen wir den Hügel hinauf, zu einem kleinen einfachen Lokal, das einsam zwischen Olivenhainen lag. Es war schon spät, wir hatten Hunger, und die untergehende Sonne verlieh uns zwanzig Meter lange Beine, damit wir schneller oben wären.

Während wir das gegrillte Hühnchen aßen, das «Tante Niki» uns vorgesetzt hatte, kroch die Nacht die Berge hinauf. Und ungefähr um die Zeit, als wir uns die Finger ableckten, hatte sich die Terrasse zwischen den Olivenbäumen in ein orangefarbenes Floß auf pechschwarzer See verwandelt.

Wir machten eine Taschenlampe an und wateten in die Nacht hinein.

Eine dunklere Dunkelheit hatte ich noch nie erlebt. Kein Mensch weit und breit, der holprige Weg unbeleuchtet. Die tiefe Schwärze, die uns umgab, war dermaßen von Zikadengesang erfüllt, dass man nicht mehr wusste, wo etwas anfing und wo etwas aufhörte. Ohrenbetäubende Finsternis.

Der grelle Lichtkegel, der vor uns über den Weg huschte, erhellte die Schritte meiner Eltern, aber wir, die wir wenige Meter hinter ihnen her strauchelten, hatten Mühe, den Boden vor unseren Füßen zu erkennen. Meine Schwestern und ich forderten nacheinander die Taschenlampe ein und trugen sie abwechselnd, sodass sie, ungeschickt entrissen und wieder entwunden, auf den Weg fiel und ausging.

Wir tasteten nach der Lampe. Wie die Kiesel glühte sie noch nach, wollte aber nicht wieder angehen.

Als das Nachbild des Lichtkegels auf unserer Netzhaut erloschen war, schien das Lampenlicht zerstoben und nach oben geschwebt zu sein. Über uns tauchten unzählige Sterne auf, in deren Mitte eine weiße Linie verlief.

Mein Vater vergaß seinen Ärger über die kaputte Taschenlampe und erklärte uns, was wir sahen. «Diese bandförmige Aufhellung am Nachthimmel sieht aus wie ein Streifen», sagte er, «besteht aber tatsächlich aus mehreren hundert Milliarden Sternen. Die sind Teil der Milchstraße, der Galaxie, zu der auch unsere Sonne gehört, und bilden eine riesige Spirale, von der ihr einen Ausschnitt seht. Die Sonne ist einer von Milliarden Sternen dieser Spirale. Und die Erde wiederum ein winziger Gesteinsbrocken, der um diesen einen Stern kreist.»

Ich konnte kaum glauben, was er da sagte, nämlich dass die Milchstraße immer da war, und wir sie zu Hause bloß nicht sahen. Ich fand es verrückt, dass etwas so unfassbar Großes, das auch noch Licht spendet, dennoch dem Blick entzogen werden kann, durch Straßenlaternen, Scheinwerfer, Außenwandlampen. Dass etwas so Wesentliches von etwas so Unbedeutendem unsichtbar gemacht wird.

Damals schlief ich noch gut. Ohne mir Gedanken darüber zu machen. Ich schlief, wie ich atmete.

Zwanzig Jahre später lief ich an einem Sommerabend durch Amsterdam. Es war schon spät, und ich war kurz vor Ladenschluss unterwegs zum Supermarkt. Mofas knatterten im schmutzig gelben Dämmerlicht an mir vorbei.

Beim Albert Heijn in der Sarphatistraat suchte ich in den grell beleuchteten Regalen nach etwas, das mich durch die Nacht bringen würde. Es war schon wieder Wochen her, dass ich gut geschlafen hatte, meine Augen waren ganz trocken vor Müdigkeit. Ich hatte gelesen, es könne helfen, abends noch etwas Eiweißhaltiges zu essen. Je mehr Eiweiß, desto langsamer der Verdauungsprozess und desto geringer das Risiko, nachts von einem knurrenden Magen geweckt zu werden. Ob das auch stimmte, wusste ich nicht, aber ich war zu allem bereit.

Blinzelnd las ich mir die Etiketten durch.

Eiweiß. Fett, gesättigte Fettsäuren …

Ich war dreißig und fürchtete mich vor der Nacht wie ich mich als Kind nie davor gefürchtet hatte. Ich suchte nach etwas, woran ich mich nachts klammern konnte: an Tabletten, Pülverchen, Ohrstöpsel, Gute-Nacht-Tee, an einen gesunden Lebensstil. Jede «Lösung» war ein Lichtstrahl, dem ich folgte, bis er erlosch, woraufhin ich wieder weitersuchen musste.

An diesem Abend kaufte ich mir einen Quark mit extra viel Eiweiß, 12,5 Gramm pro hundert Gramm.

Doch in meinem tiefsten Innern wusste ich ganz genau, dass die Lösung für meine Schlafprobleme nichts mit Grammangaben zu tun hatte. In meinem tiefsten Innern wusste ich, dass ich etwas übersah. Nur hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was ich sonst machen sollte. Alle Tipps, die ich finden konnte, hatte ich längst ausprobiert.

Ich trat mit meinen Einkäufen ins Freie, ohne nach oben zu schauen. Zwischen den Straßenlaternen gab es nie viel zu sehen. Höchstens einen Mond, kaum Sterne und schon gar keine Milchstraße.

Inzwischen weiß ich, dass fast 40 Prozent der Menschheit die Milchstraße niemals zu Gesicht bekommt. Die Lichtverschmutzung ist einfach zu groß. Zwischen uns und den Sternen ist alles Mögliche im Weg: Satelliten, die Straßenbeleuchtung, die Gesamtheit des Lichts, das unsere Bildschirme, Lampen und Neonreklamen abgeben.

Einige finden das schlimm. Sie gründen Vereine wie die International Dark Sky Association, verweisen auf die negativen Folgen des vielen Lichtsmogs für die verschiedensten Tiere und fordern das Recht ein, nachts Sterne beobachten zu können – einschließlich der Milchstraße, der Galaxie, zu der auch wir gehören.

Tatsächlich fordern sie das Recht ein, das größere Ganze zu sehen.

Ich habe jahrelang schlecht geschlafen. Zwischen zwanzig und dreißig führte ich einen Grabenkampf mit der Nacht, bei dem ich jeden Zentimeter Boden, den ich erobern konnte, gleich wieder preisgeben musste. Mir war, als würde ich da nie wieder rauskommen. An schlechten Tagen war die Erschöpfung eine Mauer, über die ich kaum noch schauen konnte.

Ich begann mich für alles zu interessieren, was mit Schlaf zu tun hatte, fast schon obsessiv. Es war, als wäre ich von einem Liebhaber verlassen worden, um den ich mir nie viel Gedanken gemacht hatte, bis er auf einmal weg war und ich feststellen musste, dass ich nicht ohne ihn leben konnte. Und so verführerisch ich auch gurrte – er kehrte nicht zu mir zurück.

Eine Schlaflosigkeit, die ich erst loswurde, als ich akzeptierte, dass meine Probleme nichts mit Schlaf zu tun hatten, mit der Art, wie ich das Thema Schlafen anging, mit den pragmatischen Aspekten der Nacht: mit dem Gute-Nacht-Tee, den Schlaftabletten, meinem Schlafzimmer, mit der Art der «Schlafhygiene», mit der ich mich auf das Zubettgehen vorbereitete. Ich starrte mich blind an der Nacht, aber das Problem war der gesamte Zeitraum von vierundzwanzig Stunden: die Art, wie ich meine Tage verbrachte. Erst als ich meine Schlaflosigkeit als Warnsignal wahrnahm, als Einladung, genauer hinzuschauen und größer zu denken, fand ich erneut einen Weg durch meine Nächte.

Ich lernte, mich zu fragen, was in meinem Leben mich unbewusst dermaßen irritierte, dass es mich wachhielt, lernte, dass ich etwas daran ändern musste. Nicht an meinen Nächten musste ich arbeiten, sondern an meinen Tagen. Im Grunde an meinem ganzen Leben. Das ist eine Erkenntnis, die so naheliegend ist, dass ich mich fast schäme, sie aufzuschreiben. Und dennoch eine, zu der ich, so viel ich auch über das Thema Schlaf las, erst nach langem Rätselraten gelangte. Eine, die wir nur selten zu lesen bekommen, weil sie nicht zum heutigen Forschungsansatz mit seiner großen Vorliebe für alles Neurologische und Mechanische passt. Dieser Ansatz kann uns zwar viel über den Schlaf beibringen, ist aber unvollständig. Chronische Schlafprobleme sind häufig nicht die Folge mangelnder Schlafhygiene und lassen sich deshalb auch nicht mit noch irgendeinem Abendritual oder einer neuen Matratze lösen. Schlechte Nächte sind die Folge unserer Tage. Und damit nicht genug: Sie sind die Folge einer Welt, in der diese Tage stattfinden.

Ich habe knapp zehn Jahre gebraucht, um dahinter zu kommen, und hätte mir jemand vor zehn Jahren gesagt, dass ich alle vierundzwanzig Stunden meines Alltags überdenken muss, um nachts schlafen zu können, hätte ich ihm nicht geglaubt. Deshalb nehme ich Sie gerne mit auf meine Schlafodyssee.

In Wahrheit hat sie Jahre gedauert, wurde aber hier auf einen symbolischen Vierundzwanzigstundenzyklus zusammengekürzt. Dieser Zyklus beginnt mit einer schlaflosen Nacht und dem dazugehörigen Psychokrieg mit dem Schlaf. Anschließend gehe ich auf die derzeitige «Morgenröte» der (Neuro)wissenschaften ein, auf die Biologie des Wachliegens. Der Nachmittag bringt einen Wendepunkt, nämlich die Erkenntnis, dass Schlaflosigkeit ein Warnsignal sein kann – nicht etwa dafür, dass mit unserem Gehirn, sondern dafür, dass mit unserem Leben etwas nicht stimmt. Die Abendstunden widme ich schließlich den Möglichkeiten, die wir haben, um auf dieses Warnsignal zu hören: Und zwar indem wir uns überlegen, welches Verhältnis wir zu so grundlegenden Themen wie Geld, Zeit, unsere aktuelle Wohnsituation, unser Ego und die Menschen in unserem persönlichen Umfeld haben.

Wenn Sie nach diesem Buch gegriffen haben, dürften Sie ebenfalls Bekanntschaft mit den frühen Morgenstunden gemacht haben: ein schöner Ort, den wir dann und wann an einem alkoholseligen Abend mit Freunden aufsuchen, aber die Hölle, wenn wir wiederholt allein dort feststecken. Vermutlich haben Sie genau wie ich schon alles probiert, um besser schlafen zu können, liegen aber dennoch wach. In diesem Fall lade ich Sie dazu ein, mir auf meine Odyssee durch die Nacht zu folgen und weit über den Horizont der Schlafhygiene hinauszublicken. Denn wenn ich in meinen schlaflosen Nächten eines gelernt habe, dann, dass es auch bei Schlafproblemen von entscheidender Bedeutung ist, das große Ganze zu sehen.

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