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2 WAS IST DER RICHTER?

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Willkommen im Gerichtssaal des Lebens

Sie erwachen am Morgen, und ehe Sie es sich versehen, fürchten Sie sich davor, aufzustehen und Ihren Tag zu beginnen. ...Sie fühlen sich schuldig, wenn Sie zuviel Marmelade auf Ihren Toast streichen und beglückwünschen sich dann, weil Sie nur eine Tasse Kaffee trinken. ...Wenn Sie im Büro ankommen, sagt Ihnen der Chef, dass er Ihre Arbeit fantastisch findet und kaum glauben kann, die glückliche Wahl getroffen zu haben, Sie einzustellen. Sie spüren, wie sich Ihnen der Magen zusammenzieht – vor lauter Angst, ihn zu enttäuschen. ...Sie gehen in Ihr Büro und hören den Anrufbeantworter ab; Ihre beste Freundin hat eine begeisterte Nachricht hinterlassen, dass sie den Job bekommen hat, um den Sie sich selber gerade beworben hatten – und Sie brechen innerlich zusammen. ...Sie wollen nicht zurückrufen, weil Sie Angst haben, Ihr zu sagen, wie neidisch Sie sind. ...Sie erkennen, wie sehr all Ihre Beziehungen von Ihrem Kindheitsbedürfnis nach Anerkennung geprägt sind, und Sie können es sich nicht vorstellen, mit irgendjemandem zu reden. ...Später wollen Sie das bohrende und unbehagliche Gefühl, das sich den ganzen Morgen lang aufgestaut hat, wieder abschütteln, also entschließen Sie sich, Ihrer Partnerin ein paar Blumen zu kaufen – lassen es dann aber bleiben, weil sie die Sorte, welche Sie gekauft hätten, vielleicht gar nicht mag. ...Dabei kommt Ihnen in den Sinn, dass Ihre Partnerin nicht versteht, warum Sie sich so oft zurückziehen, obwohl Sie sie doch wirklich lieben – und Sie verstehen es auch nicht. ...Sie versuchen zu arbeiten, können sich aber auf den Bericht, der morgen fertig sein muss, nicht konzentrieren. Sie holen sich einen Schokoriegel aus dem Automaten und befehlen sich selber, endlich mit dem Quatsch aufzuhören und sich nicht so gehen zu lassen...

Sie können sich nicht entspannen und Ihr eigenes Leben genießen.

Der rote Faden in diesem Szenario hat mit einer bestimmten Art Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Erleben zu tun. Diese Beziehung beinhaltet Erwartungen, Maßstäbe, Einschätzungen, Urteile und Konsequenzen. In welchem Ausmaß wird Ihre Reaktion auf das, was Sie erleben – und das Erleben selbst – davon bestimmt, dass Sie ganz bestimmte Auswirkungen erwarten? Wie viel Zeit verwenden Sie darauf, Ihre Leistungen, Ihr Aussehen, Ihre Fähigkeiten und Ihre Geschichte zu bewerten? Wie schwer ist es, den Maßstäben gerecht zu werden, die Sie anlegen, um sich selbst zu beurteilen? Wie häufig wird Ihr eigentliches Selbstgefühl von Ihren Ideen darüber bestimmt, was richtig oder falsch ist?

Das ist der Gerichtssaal des Lebens. Und Sie sind derjenige, der vor Gericht steht.

Manchmal haben Sie das Gefühl, Ihnen würde eine unrechte oder unvorstellbare Handlung vorgeworfen; dann wieder kommen Sie sich vor, als seien Sie auf frischer Tat ertappt worden. Manchmal machen Sie Ihrer eigenen Schuld und Korruption den Prozess, um dann wiederum heftigst zu argumentieren und Ihre Unschuld zu verteidigen. Manchmal drohen Sie sich selbst mit den schlimmsten Konsequenzen, falls Sie ungehorsam sein sollten; dann wiederum gestehen Sie all Ihre Sünden, um dadurch eine Strafminderung zu erwirken. Manchmal wägen sie die Beweise auf beiden Seiten ab, um zu einem Urteil zu gelangen; dann wiederum verkünden Sie Ihr Urteil rücksichtslos und ohne zu zögern.

Aus diesen Aktivitäten besteht der Urteilsprozess, dieser Gerichtssaal des Lebens, dem der Richter vorsteht.

Der Richter ist ein Teil Ihres Verstandes. Er hält sich in Ideen und Gedanken, Überzeugungen, Vorstellungen und inneren Bildern verborgen. Zur gleichen Zeit lebt er auch durch Ihren Körper und Ihre Energie. Der Richter ist ein Meister der Worte, doch zugleich können Sie ihn in Ihrem Bauch, Ihren Schultern und Ihren Kiefern fühlen, ohne sich dabei irgendwelcher Worte bewusst zu sein. Der Richter durchdringt alles und ist zugleich unsichtbar. Er spricht zu Ihnen aus der Fernsehwerbung, aus Illustriertenanzeigen und Filmen, aus dem Gesichtsausdruck Ihres Partners, dem dreckigen Geschirr in der Spüle und dem Unterton in der Stimme Ihres Vorgesetzten.

Er hat Zugang zu einem Warenhaus voll gelernter Informationen – dem angesammelten Wissen, welches Sie für nötig halten, um in der Welt erfolgreich, sicher, unterstützt und anerkannt zu sein sowie geliebt zu werden. Der Richter setzt die Maßstäbe für alles, was aus Ihnen eine gute, akzeptable und glückliche Person macht. Er besitzt natürlich auch Maßstäbe für alle anderen. Seine Stimme begleitet Ihr äußeres Leben – bewusst und unbewusst – durch Meinungen, Ratschläge, Warnungen, Vorschläge, Überzeugungen, Einschätzungen und Ermahnungen zu allen Aspekten Ihres Verhaltens. Und als ob das nicht genug wäre, bestimmt der Richter darüber hinaus fast alle Aspekte Ihres inneren Lebens.

Vergleich und Urteil

Eine weitere Aktivität, die ebenso wie das Maßstäbe-Setzen zum Urteilsprozess gehört, ist das Vergleichen. Ihr Richter bewertet Sie nicht nur anhand seiner Maßstäbe, er vergleicht Sie auch ständig mit anderen Menschen, um Ihren Wert zu ermitteln. Vergleich und Selbstverurteilung sind eng verwandt. In der Tat können Sie sich jedes Mal, wenn Sie beim Vergleichen sind, sicher sein, dass ein Urteil dahinter steckt. Der Richter benutzt beide abwechselnd um das gewünschte Resultat zu erzielen. Selbst wenn bei Ihnen einem Maßstab zufolge alles gut läuft, können Sie immer noch mit jemandem verglichen werden, bei dem es besser klappt. Und wenn es Ihnen besser als den anderen gelingt, gibt es immer noch Maßstäbe höchster Perfektion, an denen Sie gemessen werden können. Einige Menschen fühlen sich eher dem Vergleichen ausgeliefert, andere leiden mehr unter inneren Maßstäben, doch jeder hat mit beiden zu tun.

In der modernen Gesellschaft zu leben bedeutet, unablässig irgendwelchen Vergleichen ausgeliefert zu sein – so in der Werbung, im sozialen Miteinander, durch die Unterhaltungsindustrie und den Druck, in der Arbeit erfolgreich zu sein. Es fällt schwer, sich eine Aktivität vorzustellen, in der kein Vergleich erlebt wird. Vergleiche bilden die Basis des Wettbewerbs, der einen integralen Teil des westlichen Lebens ausmacht. Niemand würde seinen Nutzen als Preisbrecher, als Ansporn für große athletische Leistungen, als Stimulus für wissenschaftliche Entdeckungen und generell im Verbessern vieler Aspekte unserer Welt bestreiten. Indes wird das Vergleichen immer dann selbstzerstörerisch, wenn es zur Brille wird, durch die Sie sich selbst erleben. Dann wird es zum Handwerkszeug des Richters. Das führt zu ständiger Selbstüberwachung in Bezug auf das Verhalten und die Erscheinung der anderen, wobei Ihnen das Gespür für die Wahrheit Ihrer eigenen Erfahrung verloren geht.

Das Leben durch die Vergleichsbrille zu betrachten führt dazu, sich von seiner eigenen Seelennatur zu entfernen. Wenn der Richter an der Macht ist, dient der Vergleich immer der Ermittlung von Würde oder Wert – der Feststellung, wer „der Bessere“ ist. Wenn Sie sich also von jemandem auf irgendeine Weise unterscheiden, dann muss einer von Ihnen besser sein als der andere. Das ist das Heimtückische beim urteilenden Vergleich, wo jeder Unterschied zu einem Hinweis auf den relativen Wert wird. Der Richter will wissen, wer Recht hat, wer besser ist und warum das so ist. Er hat kein Interesse daran, die Feinheiten und Komplexitäten zu begreifen, welche eine Sache ausmachen. Insbesondere die Seele kann durch den urteilenden Vergleich nie erfasst werden – zumal ihr von Natur aus ein impliziter Wert zu Eigen ist, der sich auf keine andere Seele bezieht. Seelen können weder anhand ihres Wertes noch ihrer Güte verglichen werden, wie sehr sie sich auch voneinander unterscheiden mögen.

Sogar in der Selbsterforschung neigt der Richter dazu, die gegenwärtige Erfahrung mittels des Vergleiches herabzuwürdigen und zu banalisieren, indem er Sie dafür kritisiert, sich in Ihrem Sein und Ihrem Handeln nicht verändert zu haben. Oder er wird Ihnen erzählen, dass Sie sich verschlechtert haben – als könne der Wert Ihrer gegenwärtigen Erfahrung an dem, was in der Vergangenheit passiert ist, gemessen werden. Der beurteilende Vergleich macht, wenn er unablässig auf Gefühle, Handlungen und Interaktionen angewendet wird, jegliche Möglichkeit von Frische oder Spontaneität zunichte. In einer Atmosphäre von Vergleich und Urteil kann die Seele keine Lebendigkeit und Offenheit zum Tragen bringen. Wenn Sie verstehen, wie diese miteinander verwobenen Prozesse Ihr Leben im Griff haben und Sie in der Welt der Vergangenheit gefangen halten, dann haben Sie einen wichtigen Schritt getan, um sich selbst von der Selbstverurteilung zu befreien.

Aus dem Leben gegriffen

Carol war Mitte dreißig und hatte keinen Partner, mit dem sie ihr Leben teilen konnte. So sehr sie auch an den Wert ihrer Karriere als Universitätsprofessorin glaubte, vermochte diese doch das Gefühl von Defizit nicht zu beheben, welches sie über Ihre Unfähigkeit empfand, in einer erfolgreichen intimen Beziehung zu sein. Wann immer ein neuer Mann in ihr Leben trat, war sie voller Freude und Optimismus. Doch sobald ihre Verbindung begann, wurde sie von Zweifeln und Fragen gequält: Ob er mich mag? Wie ich ihm wohl gefalle? War ich zu interessiert, habe ich zu viele Fragen gestellt? Was, wenn er mich nicht wieder anruft? Sollte ich ihn anrufen? Warum hat er gar nichts über mein Leben wissen wollen? Vielleicht komme ich ihm zu langweilig vor. Und so weiter.

Dann erkannte sie, wie sehr die Beziehung sie schon nach dem ersten Treffen beschäftigte und entschied, diese sei zu wichtig geworden und ihre Bedürftigkeit würde sicher jede Möglichkeit, dass ein Mann sie je mögen könnte, zerstören. Sie entschloss sich daraufhin, ihre Bedürfnisse zu verbergen und musste sich bei den nächsten Begegnungen also kühl und unemotional verhalten – woraufhin der Mann sie kontrolliert und ziemlich langweilig fand. Ihre Verbindungen mit Männern überdauerten nie die dritte oder vierte Begegnung, und sie konnte einfach nicht verstehen, was sie daran ändern konnte. Carol hatte das Gefühl, in einem schmerzhaften Teufelskreis gefangen zu sein. Sie sah keinen Ausweg und fühlte sich wertlos. Oft versank sie in Phasen der Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, mied dann jeglichen sozialen Kontakt und traf sich nur mit einigen engen Freundinnen.

Erst wenn Sie verstehen, wie sehr Ihr Gefühl, wer Sie sind, sowie die Möglichkeiten, die sich Ihnen eröffnen, von den Erfahrungen und Überzeugungen Ihrer Vergangenheit bestimmt werden, können Sie Ihre Selbstverurteilung transformieren. Dafür müssen Sie ein paar wichtigen Fragen auf den Grund gehen. Können Sie erkennen, dass Sie sich selbst durch ein vertrautes Muster von Gefühlen, Konflikten, Verhaltensweisen und Annahmen definieren? Wie haben Sie gelernt, sich auf diese Weise zu kennen? Neigen Sie dazu, sich immer wieder in dieselben Konflikte zu verstricken, um Ihren Wert zu beweisen, die Liebe anderer zu erwerben und ein Recht auf Ruhe und Entspannung zu haben? Gibt es in Ihnen irgendeinen Anteil, der von der Kritik der inneren Stimmen ausgenommen ist? Von Ihrem Leiden erlöst zu werden hat nichts damit zu tun, das, was Sie meinen tun zu müssen, besser zu tun. Es geht darum, herauszufinden, was Sie überhaupt dahin gebracht hat, wo Sie jetzt sind.

Innere Arbeit

Jeder Mensch bemüht sich um ein erfülltes und beglückendes Leben. Um zu überleben und zu gedeihen, muss er sich um die materiellen Bedürfnisse kümmern und Geld verdienen, sich Kleidung und ein Dach über dem Kopf verschaffen, Essen einkaufen und kochen, genügend Schlaf und Bewegung haben, und so weiter. Darüber hinaus streben die Menschen in ihrem Leben – allein oder mit anderen – natürlicherweise danach, sich wohlzufühlen und glücklich zu sein.

Für einige bedeutet das, sich aktiv der inneren Arbeit zu widmen – also zum Beispiel ihre Beweggründe und Sehnsüchte zu erforschen, Bewusstsein und Sensibilität zu entwickeln und ihre Erinnerungen sowie ihre Vorstellungen zu untersuchen, um zu verstehen, was es bedeutet, ein menschliches Leben zu leben und dieses Leben zu bereichern. Die Tatsache, dass Sie dieses Buch lesen, beweist, dass Sie zu diesen Menschen gehören. Ihre innere Arbeit mag in Form einer Psychotherapie geschehen, in einer Selbsthilfegruppe, beim Tagebuchschreiben, durch Selbstanalyse oder eine Form der spirituellen Disziplin wie der Meditation. Was immer die Form sein mag, die Aufmerksamkeit für Ihren persönlichen inneren Prozess – dafür, was Sie über sich selbst und Ihr Leben denken und fühlen – lässt die Kräfte, welche diesen Prozess bestimmen, bewusst werden. Von all diesen Kräften ist der Richter eine der mächtigsten. Wenn Sie sich der inneren Arbeit widmen, können Sie eine bestimmte Schwelle nie überschreiten, ohne mit diesem stets gegenwärtigen Begleiter (auch das Über-Ich, der innere Kritiker oder Top-Dog genannt) zu einer Einigung zu kommen.

Oft erscheint einem die Stimme des Richters wie die eigene – man selbst ist derjenige, der all diese Ideen darüber hat, was nötig oder richtig ist oder was die Dinge bedeuten. Beim aufmerksamen Betrachten Ihrer Selbstverurteilungen werden Sie jedoch bemerken, dass Sie Ihre Maßstäbe von anderen gelernt haben und dass sie im Gegensatz zu dem stehen können, was Sie selber wollen, fühlen oder als die Wahrheit erkennen. Dann erkennen Sie, dass die Stimme, die Sie hören, nicht die Ihrige ist. Es ist die Stimme eines vertrauten Begleiters, der in Ihrem Inneren lebt, von jemandem, den Sie auf diese Lebensreise mitgenommen haben.

Doch selbst wenn Sie erkennen, dass die Stimme nicht die Ihrige ist, können Sie sich nicht von ihr frei machen. Sie scheint unter Ihrer Haut zu leben, in Ihren Gelenken, hinter Ihren Augen. Sie beobachten sich selbst dabei, wie Sie Ihr tägliches Verhalten gnadenlos in Plus und Minus einteilen. Sie beobachten auch die anderen. Manchmal fühlen Sie sich von den Menschen in Ihrem Umfeld – Freunden, Familienmitgliedern oder Fremden – beobachtet und fürchten deren Missbilligung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit. Sie ziehen sich zurück. Dann erkennen Sie, dass Sie Ihren eigenen Richter dort draußen in den anderen sehen und ihn gleichzeitig im eigenen Inneren hören. Sie beginnen zu erkennen, wie wenig Kontrolle Sie über diesen Urteilsprozess haben. Ob Sie nun Beobachter oder der Beobachtete sind – Sie werden gleichermaßen zum Opfer einer kritischen und bestrafenden Einstellung, denn diese Art zu beobachten ist immer ein Ausdruck von Selbsthass und mangelndem Vertrauen in sich selbst.

Der Richter hat alle Fäden in der Hand

Der Richter setzt sich über Ihre natürliche Intelligenz und Ihren direkten Kontakt mit dem Leben hinweg, indem er Ihnen seine Überzeugungen von der Realität aufzwingt. Dann tragen Sie eine gefärbte Brille, welche die Wirklichkeit verzerrt, und haben aufgrund dieser verdrehten Wahrnehmung das Vertrauen in Ihren intuitiven Kontakt mit dem Leben verloren. Tatsächlich haben Sie kein Gefühl mehr dafür, was es bedeutet, im direkten Kontakt mit Ihrem Lebensprozess zu stehen. Sie sind darauf angewiesen, dass der Richter (oder, wenn das besser passt: die Eltern, die Gesellschaft, Gott) Ihrem Leben Sinn, Bedeutung und Richtung verleiht. Er trägt Ihnen vor, was Sie erleben sollen und wie Sie es erleben sollen, warum Sie es erleben, was das Erlebnis bedeutet und was Sie damit anfangen sollen. Größtenteils bleibt dieser Prozess vor Ihnen verborgen oder spielt sich im Unbewussten mit dem Resultat ab, dass er Ihnen völlig normal erscheint. Selbst jetzt beim Lesen dieser Worte wird die Art, wie Sie sie aufnehmen – ob Sie von ihnen berührt werden oder nicht und wie Sie auf sie reagieren – von Ihrem Richter beeinflusst.

Er tut zwar, als helfe er Ihnen dabei, das zu erreichen, was Sie sich für Ihr Leben wünschen, doch in Wahrheit behindert der Richter Ihre Bestrebungen, zu wachsen und sich zu entwickeln. Seine Funktion besteht darin, den Status quo auf zwei verschiede Arten aufrecht zu erhalten: Er hält Sie von den Teilen Ihrer selbst fern, die er für gefährlich oder unbelehrbar hält. Zugleich steuert er Sie zu allen Idealen, von denen er glaubt, dass sie einen akzeptablen, erfolgreichen Menschen aus Ihnen machen werden. Er ermahnt Sie ständig: „Lass dieses bleiben! Tu jenes!“, doch seine Ermahnungen finden nie ein Ende – was bei Ihnen zu dem Gefühl führt, nicht nur jetzt, sondern für immer „nicht gut genug“ zu sein.

Doch der Einfluss, den der Richter auf jede Veränderung ausübt, ist noch viel hinterhältiger und blockierender. Er sagt Ihnen: „Verändere dich! Das was du bist, reicht nicht. Du musst besser werden, damit die Menschen dich mögen, anerkennen und lieben“ – und gleichzeitig behauptet er: „Es wird dir nie gelingen, dich zu verändern. Dir mangelt es einfach an allem. Aus dir wird nie etwas werden.“ Sollten Sie allerdings an einen Punkt kommen, wo wirkliche Veränderung möglich wäre und Sie entscheiden könnten, sich anders zu verhalten, dann wird der Richter Ihnen mit höhnischen Bemerkungen Angst einjagen: „Wenn du dich veränderst, wird dich keiner mehr mögen oder unterstützen. Sie werden sich alle von dir abwenden, und dann wirst du ganz allein sein.“ Ob Sie sich nun verändern oder nicht – verdammt werden Sie in jedem Fall.

Wenn Ihnen Ihre Situation zunehmend bewusster wird und Sie sich immer stärker in ihr gefangen fühlen, dann ist Ihre natürliche Reaktion: „Ich will hier raus. Ich will Abstand von diesem Oberaufseher in meinem Inneren.“ Und obwohl Sie leiden und sich nach Erlösung sehnen, werden Sie es schwer finden, seinen Worten nicht zu glauben.

Der Richter hat viele Gesichter

Einer der Gründe, warum Sie den Worten des Richters weiterhin Glauben schenken, hat damit zu tun, dass er viele wichtige Rollen für Sie einnimmt. Diese Rollen sorgen dafür, dass seine urteilende Haltung in attraktiver Verpackung daherkommt. Selbsterkenntnis bedeutet, die Hüllen des Richters abzustreifen und damit die Wahrheit seines Einflusses über Ihr Leben offen darzulegen. Dafür müssen Sie zuerst seine Verkleidung – die Rollen, in welchen er sich versteckt – betrachten.

Der Richter ist ein Gewissen, welches Ihnen hilft, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Er ist jemand, der Sie motiviert und antreibt, in Ihrem Leben aktiv zu werden. Er ist ein Aufpasser, der unpassende Gefühle und Verhaltensweisen verhindert. Er ist ein Berater, der Sie bei allen Entscheidungen unterstützt. Er ist ein Führer, der Sie auf Ihrem Weg in die richtige Richtung weist. Er ist eine Autoritätsfigur, die Anerkennung und Lob für Sie bereithält. Er ist ein Maßstab, an dem Sie Ihren Fortschritt messen können. Und schließlich ist er auch ein Spiegel, dessen Reflexion Ihnen zeigt, wer Sie selber zu sein glauben.

Jeder Mensch braucht diese Form der Hilfe. Was Ihnen beim Heranwachsen nicht beigebracht wurde, war die Fähigkeit, die wahre Quelle dieser Funktionen in Ihrer eigenen Seele zu entdecken. Ihr wahres Wesen hat das Potenzial, all diese Bedürfnisse zu befriedigen – allerdings nur, wenn Sie erkennen, dass Sie alle nötigen Eigenschaften schon in Ihrem Inneren tragen. In Ihrer Kindheit war es wichtig, dass Ihre Eltern oder andere verantwortliche Erwachsene diese Rolle für Sie erfüllten. Als Sie dann heranwuchsen und begannen, für sich selbst verantwortlich zu sein, mussten Sie Wege finden, diese Bedürfnisse selber zu befriedigen. Unglücklicherweise wurde Ihnen beim Erkennen und Entwickeln Ihrer eigenen innewohnenden Fähigkeiten wenig oder gar keine Hilfe zuteil. Es blieb Ihnen kaum eine andere Möglichkeit, als die Rollenvorbilder der Eltern in Form des Richters zu verinnerlichen. Die Art, wie er diese wichtigen Funktionen erfüllt, mag Ihnen nicht besonders gefallen, doch ist er Ihnen vertraut, Sie kennen seine Zuverlässigkeit und wissen, dass er immer für Sie da sein wird.

Wir sollten nicht vergessen, dass der Richter weder schlecht noch böse ist – er ist nicht einmal nutzlos. Ohne ihn hätte keiner von uns bis ins Erwachsenenalter überlebt, und unsere Gesellschaft wäre ohne seine ständige Anwesenheit längst nicht so zivilisiert wie sie es ist. Jeder von uns braucht einen Richter, bis er in sich selbst die Quelle mühelosen Handelns, direkter Erkenntnis und eines objektiven Gewissens findet. Bis dahin haben die meisten Menschen für all diese Dinge nur den Richter zur Verfügung. Er ist allerdings auch mechanisch, einschränkend, ineffektiv und unsensibel, und das Leben der Seele fördert er so gut wie gar nicht.

Der Richter hat keine Ahnung davon, dass Sie eine lebendige Seele sind – er verfügt indes über zahllose Informationen über Ihr Leben in der Welt: über Ihr Verhalten, Ihre Gewohnheiten, Vorlieben, Schwächen und Stärken, Ihre Freunde und Feinde. Kaum etwas entgeht seinem wachsamen Auge. Das verleiht ihm große Macht. Tatsächlich stellt der Richter häufig akkurate Beobachtungen darüber an, was Sie getan haben und was nicht. Dieses Wissen benötigen Sie, um heranzuwachsen und zu reifen. Doch seine Beobachtungen müssen stets teuer bezahlt werden. Er teilt sie nicht großzügig aus, um Ihnen zur Wahrheit zu verhelfen. Sie werden Ihnen aufgedrängt, um Sie davon zu überzeugen, dass Sie wieder mal nicht gut genug waren.

Die Falle sieht so aus: Solange Sie nicht gelernt haben, sich von dem Richter zu lösen, besteht für Sie keine Möglichkeit, seine Beobachtungen ohne beurteilende Verpackungen geliefert zu bekommen. Sie sehen, dass Sie auf diese oder jene Art gehandelt haben und akzeptieren daraufhin, dass Sie ein so oder so gearteter Mensch sind. Die äußeren Fakten Ihres Lebens bringen stets eine Einschätzung Ihres eigenen Wertes mit sich. Sie können das eine vom anderen nicht trennen. Sie wollen es nicht einmal trennen, weil Sie fürchten, überhaupt keinen Wert zu haben!

Aus diesem Grunde werden die allgemeinen Aktivitäten des Richters von der Erkenntnis, dass er Sie behindert, begrenzt und sogar verletzt, kaum berührt – sie vergrößert nur das Bewusstsein Ihrer eigenen Hilflosigkeit. Wenn wir uns dieser Selbstverurteilungen und ihrer negativen Auswirkungen bewusst werden, besteht eine der größten Gefahren darin, dass dieses Bewusstsein zur Grundlage weiterer Urteile wird. Sie werden sich dafür verurteilen, einen inneren Richter zu haben!

Dennoch ist es unerlässlich – trotz aller Hoffnungslosigkeit oder Selbstkritik, die damit einhergehen – dass Sie sich der Realität Ihrer Erfahrungen mit dem Richter bewusst werden. Sie haben den größten Teil Ihres Lebens mit dem Richter zugebracht und sich vielfach durch seine Anwesenheit motiviert, beschützt, erzogen und angeleitet gefühlt. Dieser Zustand blieb so, weil er Ihnen nicht bewusst war. Damit sich die Dynamik des Selbstverurteilens ändert, muss der erste Schritt darin bestehen, dass Sie bewusst werden.

Wir beginnen also mit einer Definition:

Der Richter ist diejenige Kraft in Ihnen, die Ihren Wert als menschliches Wesen unablässig berechnet, abschätzt und damit Ihre Fähigkeit einschränkt, im gegenwärtigen Moment voll und ganz lebendig zu sein.

Mit dem Bewusstsein beginnt der Entwirrungsprozess, in dessen Verlauf Sie Ihren eigenen Wert von Ihren Lebensumständen zu trennen lernen. Natürlich müssen Sie beim Heranwachsen bestimmte Kenntnisse, Handfertigkeiten und Fähigkeiten entwickeln und aus Ihren Erfahrungen lernen, um sinnvolle und kluge Entscheidungen treffen zu können. Doch Ihr Wert hängt weder von Ihren Leistungen noch von irgendeiner Anerkennung ab. Der Richter macht Sie glauben, dass Ihnen weder Wert noch Würde zu Eigen sind, dass Sie deshalb bewertet werden und sich verbessern müssen. Diese Überzeugung beinhaltet die Annahme des Richters, dass Ihr Wert von allerlei Bedingungen abhängt und Sie von sich aus wertlos sind. Sie müssen daher etwas erreichen, müssen sich verändern, müssen überwacht werden, brauchen Anleitung und einen Tritt ins Hinterteil!

Der Richter erzählt nicht die ganze Wahrheit

Je mehr Sie über den Richter wissen, desto eindeutiger erkennen Sie, dass er bei Ihrer Selbstdefinition die zentrale Rolle spielt. Sie beurteilen Ihren eigenen Wert und Ihre eigene Wirklichkeit, indem Sie seine Maßstäbe anlegen. Je besser Sie sich selbst kennen, desto mehr erkennen Sie, welch gravierend negative Auswirkungen diese Bewertungsform mit sich bringt. Sie haben sich daran gewöhnt, sich selbst mit Verachtung zu betrachten und auf eine Weise herabzusetzen, die Sie niemand anderem erlauben geschweige denn zumuten würden, weil sie einfach zu gemein ist. Überdies zwingen Ihre Versuche, dieser Verachtung zu entkommen, Sie unvermeidlich dazu, Selbstverbesserungen anzustreben, um jenen strengen Maßstäben gerecht zu werden.

Was kann man tun, um den Auswirkungen einer derart negativen Konditionierung entgegenzuwirken? Die meisten Menschen sind der Überzeugung, dass positive Bestärkung und bestätigender Zuspruch in kontinuierlich verabreichten und großen Portionen nötig sind, um ein solch negatives Selbstbild aufzuheben. Manche Eltern konzentrieren sich darauf, alles was ihr Kind tut, zu loben und anzuerkennen. Die Freunde desjenigen, der sich selbst heruntermacht, bemühen sich, ihm nur positive Dinge zu sagen. Menschen mit geringer Selbstachtung praktizieren täglich ihre Affirmationen in dem Versuch, ihre Überzeugungen neu zu programmieren. Das soll dazu führen, einen Richter zu verinnerlichen, der einem Lob und Anerkennung anstelle von Missbilligung und Ablehnung zuteil werden lässt. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie einsehen, dass Sie inständig hoffen, der wohlwollende Blick des Richters möge eines Tages an die Stelle seiner negativen Aufmerksamkeit treten.

Das Problem dabei ist, dass ein schlechtes Urteil einfach nur durch ein gutes ersetzt wird. Anstatt das zu bekräftigen oder zumindest zu erkennen, was wahr ist, richtet sich Ihr Fokus schlichtweg darauf, eine negative Einschätzung zu überwinden oder ihr entgegenzuwirken. Die Tatsache, dass da ein Urteil besteht, bleibt unangetastet. Anders ausgedrückt: Sie stützen Ihren Selbstwert immer noch auf äußere oder verinnerlichte Maßstäbe. Sie erstreben jetzt Lob statt Kritik. Doch dabei fehlt die direkte Erfahrung Ihres Selbstwerts in Ihrem eigenen Inneren. Ein positives Urteil kann Ihnen bewusst machen, die innere Entwertung unbewusst akzeptiert zu haben. Es kann Sie zeitweilig von der Schelte des Richters befreien, was dazu führt, dass Sie sich besser fühlen. Es kann auch als Spiegel für ein früheres wahres Erlebnis dienen – zum Beispiel einer tiefen Einsicht, eines Augenblicks der Glückseligkeit oder einer Offenheit während der Meditation. All diese Beispiele haben ihre Bedeutung und ihren Nutzen.

Doch selbst starke Wahrheitserlebnisse vermögen langjährige Überzeugungen über sich selbst nicht zu verändern, solange sie nicht in die Seele aufgenommen und verstanden werden. Das erreichen wir nicht, indem wir die Einsicht einfach als einen neuen Maßstab oder Glauben einsetzen. Eine Erfahrung zu verstehen und zu integrieren bedeutet, die Auswirkungen zu erkennen, welche dieses neue Gewahrsein darauf hat, wie Sie Ihr Leben erfahren, wenn Sie beginnen, im Einklang mit ihm zu leben.

Eine positive Beurteilung ersetzt lediglich einen alten Glauben, den Sie über sich selbst hegten, durch einen neuen. Sie möchte etwas verfechten, was nicht Ausdruck Ihrer eigenen erlebten Wahrheit ist. Sie kann Ihre ursprüngliche Überzeugung, wertlos zu sein, niemals entwurzeln. Deshalb werden Sie oft erleben, dass Sie dem Lob anderer misstrauen und es mit inneren Kommentaren wie: „Wenn sie das behaupten, können sie mich nicht besonders gut kennen!“ begleiten. Tatsache ist, dass positive Beurteilungen einem Makeup ähneln – sie müssen immer wieder erneuert werden, und jeder heftige Regenguss spült sie fort.

Die einzige echte Alternative zur Selbstverurteilung liegt darin, die Wahrheit darüber zu kennen, wer man wirklich ist. Wenn Sie tief im Herzen glauben, wertlos zu sein, dann müssen Sie herausfinden, woher dieser Glaube kommt und warum Sie ihn für die Wahrheit halten. Bevor Sie das nicht verstehen, wird sich nichts Grundlegendes ändern. Besitzen Sie aber erst einmal in Ihrem tiefsten Inneren das direkt gefühlte Wissen, einen innewohnenden Wert zu besitzen und nehmen Sie sich selber voll und ganz an, dann beginnen Sie sich von dem Drang nach positiver Beurteilung, nach Anerkennung anderer und damit von Ihrem eigenen Richter zu befreien.

Wollen Sie wirklich erkennen, wer Sie sind, müssen Sie den Richter herausfordern. Sie müssen den Mut und die Weisheit, die Entschiedenheit und Klarheit, das Mitgefühl und Verlangen finden, die Wahrheit zu sehen und sich auf den Prozess einzulassen, dieses Wahre zu fördern. All diese Eigenschaften sind nötig, um Ihrer eigenen Erfahrung – unabhängig davon, ob Sie sie für gut oder schlecht, richtig oder falsch, freudig oder schmerzvoll halten – Raum zu verschaffen. Andernfalls werden es Ihnen die vom Richter provozierten Gefühle der Scham, Schuld, Fehlerhaftigkeit und Selbstsucht unmöglich machen, mit dem Reichtum, den Herausforderungen und dem Mysterium dessen, was Sie entdecken werden, zu leben.

Der Prozess, den Sie in den ersten Kapiteln dieses Buches beginnen, wird Ihr Bewusstsein für den Richter schärfen und Sie mehr in Kontakt mit ihm bringen, was bedeutet, dass Sie empfindlicher für das Gefühl werden, von ihm angegriffen zu werden. Das macht weder Spaß noch ist es angenehm. Ihr Richter wird den Prozess als schlecht bezeichnen und behaupten, dass Sie ihn vermeiden müssten. Sind Sie aber willens, die Urteilserfahrung in Ihr Bewusstsein zu bringen und Ihre eigene wachsende Offenheit und Verletzlichkeit mit Mitgefühl und Stärke zu fördern, dann können Sie diese Arbeit auf sinnvolle Weise aufnehmen. Diese innere Arbeit wird Sie wieder mit ihrer Seelennatur verbinden und Sie werden mit ihrer Hilfe eine wahre Führung entdecken, anhand derer Sie Ihr Leben leben und verstehen können und die den Richter, mit dem Sie aufgewachsen sind, ersetzen kann.

Diese wahre Führung entsteht spontan aus dem Kontakt mit Ihrem eigenen Leben sowie daraus, dass Sie sich Ihres Lebens gewahr sind. Sie reagiert auf die Wahrheit dessen, was Sie sind und was benötigt wird. Daraus folgt, dass die Arbeitspraxis mit Ihrem Richter sowohl unmittelbar stattfinden als auch über lange Zeit hinweg erfolgen muss. Sie müssen sich dem Richter in Ihrem derzeit gelebten Leben stellen, ansonsten bleibt die Arbeit mit ihm nur eine gute Idee, die für irgendwann in der Zukunft aufgespart wird. Andererseits ist der Prozess auch nie zu Ende – er wird Sie ein Leben lang begleiten. Der Einfluss des Richters ist tief in Ihrer Seele verankert und trifft Sie mit erstaunlich subtiler Präzision. Es ist keine leichte Reise, doch kaum einer anderen wird es auf ebenso lohnende Art gelingen, Ihr Gefühl dafür, wer Sie sind, zu erweitern und es Ihnen zu ermöglichen, ein volles und bedeutungsvolles Leben zu führen.

Befreiung vom inneren Richter

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