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3 DIE WAHRE NATUR UND DIE WIRKLICHKEIT

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Zwei Konzepte, für die Seelenperspektive von grundlegender Bedeutung, kommen in diesem Buch immer wieder vor: Die wahre Natur (oder das wahre Wesen mit ihren/seinen dazugehörigen essenziellen Qualitäten) und die Wirklichkeit oder Realität. Sie werden hier nicht im Einzelnen definiert, da sie eher Hinweise zum Erforschen und Erkennen und weniger Begriffe mit nur einer Definition sind. Wenn Sie dieses Buch durchgelesen und durchgearbeitet haben, werden Sie mit jedem dieser Konzepte Ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben. An dieser Stelle möchte ich nur ein paar Dinge aufführen, um Ihren Betrachtungen eine gewisse Richtung zu geben.

Die wahre Natur

Die wahre Natur bezieht sich auf Ihre Essenz als menschliches Wesen. Sie entspricht der Erfahrung dessen, der Sie sind, wenn diese Erfahrung sich nicht auf Ihre körperlichen Dimensionen und Eigenschaften bezieht, nicht von Ihren emotionalen Neigungen oder Ihrem Persönlichkeitstyp bestimmt wird, nicht auf Ihrer speziellen Geschichte und Konditionierung beruht und nicht von Ihren Überzeugungen oder Meinungen beeinflusst wird. Sie ist der Urgrund der Seele, das Herz Ihres eigenen lebendigen Bewusstseins. Wenn Sie jemandem begegnen und weder seinen Namen noch sonst irgendetwas von ihm wissen, wem begegnen Sie dann? Sie sehen einen Körper und vernehmen eine Stimme, Sie hören sich Geschichten an und beobachten Verhaltensmuster. Doch gibt es irgendetwas Grundlegenderes, etwas, das allen Menschen gemeinsam ist und das Sie jetzt in dieser Person wahrnehmen können? Wenn jemand sagt: „Schließlich sind wir alle menschliche Wesen,“ – was bedeutet das dann?

Uns allen ist etwas gemeinsam, das es uns ermöglicht, von einer Geschichte, die man in einem afrikanischen Stamm erzählt, genauso berührt zu sein wie von einem alten japanischen Mythos. Wir sind alle durch diese Menschsein-Erfahrung verbunden, unabhängig von familiären, rassischen oder religiösen Hintergründen, von körperlichen Eigenschaften, psychologischer Entwicklung oder Ausbildung. Einige spirituelle Traditionen nennen die wahre Natur das „Sein“ oder die „Essenz“ – die Essenz dessen, was wir jenseits all unserer individuellen Geschichten sind.

Die wahre Natur bezieht sich auch auf jenen Teil von uns, der am beständigsten ist, sich am wenigsten wandelt und zentral für unsere Selbstdefinition ist. Im Allgemeinen halten Sie Ihren Körper, Ihre persönliche Geschichte und Ihre emotionale Ausrichtung für die hervorstechendsten und unwandelbarsten Aspekte Ihrer Selbstwahrnehmung. Diese Aspekte scheinen auf die eine oder andere Weise zu definieren, wer Sie sind, indem sie Sie von anderen unterscheiden und zugleich den Rahmen bestimmen, innerhalb dessen Sie sich verändern können. Darüber hinaus sind sie Ihnen so sehr vertraut, dass Sie sich gar nicht vorstellen können, sich selbst ohne sie zu erfahren. Doch sind Sie wirklich diese Aspekte? Oder sind Sie etwas viel Grundlegenderes, das sich durch sie oder jenseits dieser Aspekte ausdrückt?

„Ich bin ein Mann von fünfundvierzig Jahren mit lockigen Haaren, schlankem Körperbau, heller Haut und Plattfüßen. Ich bin intelligent, ruhig, ausgeglichen und emotional zurückhaltend. Ich bin in Kanada geboren, meine Eltern sind schottischen und deutschen Ursprungs. Ich habe als Tänzer und als Setzer gearbeitet, und jetzt bin ich ein spiritueller Lehrer.“ Jede oder alle diese Beschreibungen treffen auf mich zu, und sie werden sich – bis auf mein Alter – wahrscheinlich nicht ändern. Obgleich ich vielleicht auf diese Weise auch selber an mich denke, beschreiben diese Tatsachen nur meine äußere Schale. Sie sind nicht das, was ich als mich kenne. Ich kenne mich selbst aufs Intimste durch das unmittelbare Gewahrsein meiner eigenen Gegenwärtigkeit – die zentrale Empfindung: „Ich bin jetzt hier.“ Diese innere Empfindung umfasst auch das Gefühl, mich selbst wiederzuerkennen: „Das hier bin ich.“ Letzten Endes kennen Sie sich selbst durch diese innere Empfindung oder Wahrnehmung Ihrer eigenen Existenz. Das ändert sich nie. Solange Sie am Leben sind, können Sie Ihre Existenz und Ihre „Sich-selbst-heit“ spüren. Und alles was in Ihnen auftaucht, kann als Ausdruck Ihrer Gegenwart in Ihrem eigenen Leben gespürt werden. Das ist Ihr wahres Wesen, welches Sie einzigartig macht und zugleich mit allen anderen Menschen verbindet.

Die Seele ist reines Bewusstsein. Deshalb befindet sich ihre wahre Natur oder ihr wahres Wesen, ihr sie bestimmender und unwandelbarer Kern jenseits des physischen Körpers mit seinem Intellekt und seinen Emotionen und auch jenseits Ihrer gesammelten Geschichte. Das wahre Wesen der Seele existiert am fundamentalsten als eine Jetzt-heit. Es ist ein Wesen, welches nicht von Vergangenheit und Zukunft noch von dem Erlebnis abhängt, ein physischer Körper zu sein. Je stärker Ihr Gefühl von sich selbst als einer Seele ist, desto bewusster wird Ihnen, dass Ihr Körper das, was Sie in Wahrheit sind, nicht wirklich ausmacht – noch wird es von dem definiert, was Sie gelernt haben oder in der Vergangenheit wussten. Wer Sie sind, ist etwas viel Intimeres und Unmittelbareres, etwas viel Mysteriöseres und Unbeschreiblicheres. Wenn Sie sich dessen bewusst sind, beginnen Sie sich dem wahren Wesen der Seele – Ihrem eigenen So-Sein jetzt in Ihrem Leben – zu öffnen.

Das wahre Wesen oder die wahre Natur ist allen Menschen von Geburt an zu Eigen, manifestiert sich jedoch in jedem Einzelnen auf einzigartige Weise durch die Seele. Überdies ist diese Einzigartigkeit der Seele schon bei Ihrer Geburt ein inhärenter Teil dessen, was Sie sind. Sie wird nicht erworben und kann auch nicht zerstört werden, sie hängt weder von Ihrem Aussehen noch Ihren Handlungen ab. Sie können allerdings den Kontakt zu Ihrem wahren Wesen verlieren oder sogar vergessen, dass es existiert.

Glauben Sie an so etwas wie das wahre Wesen der Seele? Dieses Buch setzt voraus, dass es existiert und dass Sie als Mensch nicht als das sprichwörtliche weiße Blatt, das nur noch beschrieben werden muss, oder als ein Klumpen Lehm, der nur noch von der Erziehung geformt werden muss, auf die Welt gekommen sind. Das Vorhandensein der wahren Natur bedeutet, dass Ihnen implizit bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten zu Eigen sind, die über alles, was Sie beim Heranwachsen lernen oder aufnehmen, hinausreichen. Das wahre Wesen stellt das spirituelle Fundament der Seele dar, es untermauert als solches Ihre psychische Wirklichkeit und insbesondere den Richter. Sie brauchen allerdings nicht an das wahre Wesen zu glauben, um aus diesem Buch einen Nutzen zu ziehen – nehmen Sie es einfach als interessante Hypothese und warten Sie ab, was geschieht. Ich ermutige Sie, der hier vorgestellten Sichtweise mit Offenheit zu begegnen und zu beobachten, welche Wirkung sie auf Sie hat und wie sie sich auf Ihre eigenen Erfahrungen bezieht.

Die essenziellen Qualitäten sind Elemente Ihres wahren Wesens und damit Eigenschaften, die dem, was an der Erfahrung, ein Mensch zu sein am wahrsten ist, essenziell angehören. Zu diesen Eigenschaften gehören Wahrheit, Freude, Mitgefühl, Wille, Kraft und Frieden, um nur einige zu nennen. Das sind keine mentalen Beschreibungen bestimmter Erfahrungen, sondern wirkliche substanzielle Formen der Gegenwärtigkeit. All diese essenziellen Eigenschaften sind in der Seele jederzeit als Potenzial vorhanden und nehmen im Bewusstsein individuell ihre Form an – je nachdem, was die jeweilige Situation erfordert. Jede von ihnen stellt eine charakteristische Manifestation des wahren Wesens dar, mit ihrem eigenen Geschmack, ihrer eigenen Gefühlsschattierung, ihrer eigenen Beschaffenheit und eigenen Auswirkung auf die Seele. Das Mitgefühl zum Beispiel ist warm, weich, expansiv, sanft und bedeutet Verständnis und Unterstützung im Umgang mit Schmerz. Der persönliche Wille dagegen ist solide, definitiv, zuversichtlich und eine Quelle standhafter Unterstützung auf schwierigen Pfaden.

Das wahre Wesen umfasst all diese Qualitäten und noch viele weitere. Es ist ein facettenreicher Diamant von unschätzbarem Wert, der in den unbewussten Tiefen eines jeden Menschen vergraben liegt. Auf dem Weg der Selbsterkenntnis stellt die Erforschung Ihrer persönlichen Beziehung zu Ihrem wahren Wesen ein wichtiges Element dar. Erleben Sie Ihr wahres Wesen? Erkennen Sie es in sich selbst und in anderen? Spielt es in Ihrem Leben eine Rolle? Was steht ihm im Wege? Können Sie zulassen, dass es durch Sie hindurchleuchtet? Welchen Einfluss haben Ihre Selbstverurteilungen darauf, ob und wie Sie Ihr wahres Wesen würdigen?

Wirklichkeit

Das wahre Wesen befindet sich in Ihrem Inneren. Es gehört nicht zum äußeren physischen Leben, sondern ist ein Teil Ihrer inneren Erfahrung. Die Wirklichkeit hingegen umschließt sowohl das Innere als auch das Äußere. Sie ist vielleicht noch schwieriger zu beschreiben als das wahre Wesen. Einfach ausgedrückt bezieht sich der Begriff Wirklichkeit darauf, wie die Dinge beschaffen sind und was die Fakten einer Situation sind – das heißt, die eigentlichen Elemente, aus denen sich alles, was zu irgendeinem Moment und an irgendeinem Ort geschieht, zusammensetzt.

Im Prozess der Selbsterkenntnis – besonders wenn es um die Konfrontation mit dem inneren Richter geht – besteht eine der größten Herausforderungen darin, mit dem, was sich in jedem Moment am wahrsten anfühlt, gegenwärtig zu sein und sich damit auf die Wirklichkeit auszurichten. Ihr Kontakt mit der Wirklichkeit hängt davon ab, wie bewusst Sie in jedem einzelnen Moment sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel:

Ich sitze an meinem Schreibtisch und grübele über mein unfertiges Buch nach. Was ist die Wirklichkeit meiner Situation? Meine Wirklichkeit schließt alles ein, was mit mir geschieht – also beginnen wir mit der Tatsache, dass sich meine Aufmerksamkeit auf mein Buch richtet. Mein Buch ist das physische Produkt meiner Schreibtätigkeit, doch ist es zugleich weitaus mehr: Es ist das gesamte psychische Konglomerat dessen, was ein Buch ausmacht – der Ideen; der Geschichte meines Schreibens; meiner Gefühle dazu, ein Autor zu sein und mich als Autorität hinzustellen; meiner Hoffnungen für seinen Erfolg und so weiter. Da „mein Buch“ sich auf viele Dinge beziehen kann, müssen wir spezifischer vorgehen, um die gegenwärtige Wirklichkeit klarer zu erfassen. Genauer gesagt besteht die Wirklichkeit meines inneren Zustandes aus Betroffenheit und Sorge darüber, ob ich das Buch jemals vollenden werde: Werde ich es schaffen? Wann werde ich es schaffen? Wird es mich zufrieden stellen? Was hält mich davon ab, es fertig zu stellen? Will ich es wirklich beenden? Muss ich bei meiner Arbeit am Buch disziplinierter sein?

Hinter diesen Fragen erkenne ich nun meinen Richter, der mir sagt: „Du brauchst zu lange, um fertig zu werden. Du lenkst dich ständig mit anderen Dingen ab. Pass bloß auf, bald gibst du endgültig auf, dann kriegst du es nie fertig.“ Ich fühle mich bewertet, kritisiert und motiviert. Das kommt mir bekannt vor.

Jetzt richtet sich mein Gewahrsein auf den Inhalt meines intensiven Denkens. Ich kann mich leicht in meinen Gedanken und Selbsturteilen verlieren. Doch das ist nicht meine volle Wirklichkeit. Wenn ich mein Bewusstsein ein wenig ausdehne, erkenne ich, dass meine Wirklichkeit darin besteht, an meinem Schreibtisch zu sitzen und mir Sorgen über mein Buch zu machen. Das bringt mich mit einem weitere Teil meiner Wirklichkeit in Verbindung: Über meinen psychischen Prozess hinaus bin ich jetzt mit meiner körperlichen Erfahrung dieses Prozesses in Kontakt. Mein Kopf fühlt sich angesichts der psychischen Beschäftigung, mein Buch zu planen, schwer und voll an. Dann spüre ich, wie sich mein Körper anfühlt: Arme und Beine ziehen sich vor Anspannung zusammen, mein Atem ist flach, meine Bauchmuskeln sind etwas verknotet und ich runzle die Augenbrauen.

Indem ich meinen körperlichen Empfindungen mehr Aufmerksamkeit schenke, fördere ich ein weiteres Element meiner Wirklichkeit zutage: ich habe Angst. Als diese Einsicht sich mit dem verbindet, was mein Richter gesagt hatte, wird mir die Ursache meiner Angst schlagartig bewusst: Ich habe Angst, dass ich mein Buch nicht fertig stellen werde. Das führt zu einer neuen Einsicht: Diese Angst bringt mich mit meiner Überzeugung in Kontakt, jemand zu sein, der wunderbare Ideen hat, sie aber häufig nicht umsetzt. Ich erkenne, dass ich fürchte, dieses Buch könnte ein weiteres Beispiel für solch eine gute Idee sein. Der Richter sagt mir nun, meine Langsamkeit bedeute, dass ich wahrscheinlich nicht zum Ende kommen werde und so mein Mangel an Willenskraft erneut bewiesen würde.

So habe ich nun also nicht nur einen angespannten Körper und einen Kopf voller Sorgen, nein, ich habe den Körper und den Kopf eines bestimmten Jemands, der die Dinge nicht beendet und sich fürchtet – sollte das wieder passieren – als Versager angesehen zu werden. Genauer gesehen bin ich jemand, der glaubt, ein Versager zu sein, und der dagegen ankämpfen muss, um zu beweisen, dass es nicht stimmt. Der Richter sagt mir, was meine Erfahrung bedeutet und was für ein Mensch ich bin. Die größere Wirklichkeit sieht nun also folgendermaßen aus: Es ist meine Geschichte, bestimmte Dinge von mir selbst zu glauben, und meine Selbsturteile führen dazu, dass ich mich auf bestimmte Art fühle und verhalte.

Ich verspüre den starken Drang, mit meinem Richter zu diskutieren, ihm zu erklären, was mit mir los ist und meine Handlungen zu rechtfertigen. Ich möchte ihn davon überzeugen, dass ich kein Versager bin. Ich beginne mich zu schämen. Damit befinde ich mich auf vertrautem Gebiet. In diesem Moment bestimmt der Richter als wichtiger Faktor meine Wirklichkeit. Ein Teil von mir will mich ablenken, damit ich all diese unbequemen Emotionen nicht zu fühlen brauche, und ein weiterer Teil ist entschlossen, meine Wirklichkeit voll und ganz kennen zu lernen. Ich spüre, dass sich mein Bauch und meine Beine mit einer Art solider Energie füllen; das scheint mir den Willen zu verleihen, meine bewusste Beobachtung fortzusetzen, ohne mich mit dem Richter in eine Diskussion zu verstricken. Mein Richter indes ist nicht so leicht abzuwimmeln: „Du kannst mich nicht ignorieren, weil du weißt, dass ich die Wahrheit sage.“ Ich finde, dass ich mich selbst kraftvoller unterstützen muss, wenn ich den Richter daran hindern will, die Oberhand zu gewinnen. Ich stelle mir vor, dass ich mich ihm zuwende und mit all der Energie im Bauch „Halt die Klappe!“ rufe. Diese aggressive mentale Aktion verschafft mir einen klaren Kopf und ermöglicht es mir, zu meinem Selbstgewahrsein zurückzukehren.

Jetzt sehe ich ein, dass ich mich schon sehr lange für jemanden gehalten habe, der dagegen ankämpft, zu versagen, und dass dieses Gefühl meiner selbst sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben gezogen hat. Ich fühle, dass es einem Kindheitsglauben entspringt: Ich muss mein Potenzial, etwas zu erreichen, erfüllen oder meine Eltern wären enttäuscht und ich würde ihre Liebe verlieren. Jetzt erkenne ich eine tiefere Ebene meiner gegenwärtigen Wirklichkeit. Wer ich bin und was ich in diesem Moment erlebe, hat seine Wurzeln in dem Kind, das die Liebe seiner Eltern begehrte und zu verlieren fürchtete. Diese kindlichen Gefühle stehen hinter den Selbstverurteilungen, die zu meiner Besorgnis führen, ob ich das Buch je fertigstellen werde. An dieser Stelle bemerke ich, dass Sorge und Selbstverurteilung mich nicht länger im Griff haben – an ihre Stelle ist das Gefühl getreten, ein ungeliebtes Kind zu sein. Ich fühle mich klein und alleine und fürchte mich vor einer Welt, die so viel größer zu sein scheint als ich. Ich bin traurig und sehne mich nach der Liebe meiner Eltern. Ich bin mir bewusst, wie die Anspannungen in meinem Körper diese Gefühle spiegeln.

Normalerweise hasse ich es, mich wie ein kleines, hilfloses Kind zu fühlen. Ich will nicht, dass die Wirklichkeit so aussieht – als reagiere ich jedesmal, wenn ich mich so fühle, indem ich mir selber (als der Richter) sage: „Du brauchst die Liebe deiner Eltern doch gar nicht mehr; du bist jetzt erwachsen. Sei groß und höre auf, dir Sorgen zu machen.“ Dann richte ich meine Aufmerksamkeit gewöhnlich auf irgendeine Aktivität und ignoriere meine Emotionen. Unglücklicherweise hat sich die Wirklichkeit durch diese Haltung nie verändert. Sie hat mich einfach nur von der Wahrheit des gegenwärtigen Moments abgeschnitten.

Dieses Mal hingegen berührt mich das gegenwärtige junge Gefühl meiner selbst. Ich beginne, eine sanfte Wärme in der Brust und ein Gefühl von Verständnis und Fürsorge für dieses ängstliche Kind zu verspüren, und dieses Mitgefühl zu mir selbst in meiner gegenwärtigen Situation entspannt mich und beruhigt meinen Geist. Ich atme tiefer und kann die Kleinkindgefühle zulassen, während ich mir zugleich bewusst bin, viel mehr zu sein als jene Gefühle. Die unbewusste Verbindung zwischen dem Kind und meinem Buch ist jetzt unterbrochen. Die Selbstverurteilung, welche mein Schreiben belastet hatte, ist verschwunden und ich kann mit meiner Arbeit fortfahren, wobei ich mich in einem ausgedehnteren Gefühl der Wirklichkeit sicher verankert fühle.

Sie können Ihr Gewahrsein der Realität immer dann erweitern, wenn Sie die Wahrheit dessen, was Sie gerade erleben, in größerem Maße erkennen. Oder Sie können sich entscheiden, die Wirklichkeit abzuleugnen, zu vermeiden oder im Kontakt mir ihr eine Auswahl zu treffen, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit – auf Kosten dessen, was Sie wirklich erleben – auf das richten, was Sie glauben oder was Ihnen angenehm ist.

Der Richter ist ein aktiver Teilnehmer bei all diesen Aktivitäten, wie das obige Beispiel zeigt. Wenn Sie sich der Rolle, die der Richter bei Ihren Erfahrungen und Beweggründen spielt, nicht gewahr sind, finden das Verleugnen, das Vermeiden und die selektive Auswahl automatisch und ohne Ihr Zutun statt.

Soll es zu Entwicklung und Veränderung kommen, ist es wichtig, dass Sie die Wirklichkeit Ihres Erlebens in jedem Moment Ihres Lebens erkennen – denn diese Wirklichkeit bestimmt die Grenzen und das Potenzial dessen, was zu jedem Zeitpunkt möglich ist. Die Arbeit an meinem Buch war von Selbsturteilen und Versagensangst vergiftet. Hätte ich die tieferen Aspekte meiner Wirklichkeit nicht erkannt, dann wäre ich dem Bedürfnis, zu beweisen, dass ich es schaffen könnte, nie entronnen. Mit dem Erkennen, dass ich mich damit identifizierte, jemand zu sein, der gegen das Versagen und die dahinter liegende Angst, die Liebe seiner Eltern zu verlieren, kämpfen musste, verschob sich etwas. Die Selbstverurteilung hörte auf. Die Wirklichkeit fühlte sich weniger begrenzt, dafür aber offener an. Je mehr mir die Wahrheit bewusst wurde, desto deutlicher kam mein wahres Wesen in der Form von persönlichem Willen, Stärke und Mitgefühl zum Vorschein, welche wiederum einen volleren Kontakt mit der Wirklichkeit ermöglichten.

Die wichtigste Zutat, um im Kontakt mit der Wirklichkeit zu sein, besteht darin, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was im gegenwärtigen Moment am wahrsten erscheint. Jedoch bedeutet die Tatsache, dass Sie mit der Wahrheit Ihrer Erfahrung im Kontakt sind, nicht, dass Sie sich Ihrer gesamten Wirklichkeit bewusst sind. Jeder Augenblick der Wahrheit wird, wenn er ohne Urteil zugelassen wird, zu einem Tor in ein tieferes Erleben der Realität und allem, was wahr ist.

Mein Gewahrsein der Wirklichkeit lief in mehreren Schritten ab:

Das Buch

Die Besorgnis und die Selbstverurteilung

Meine körperlichen Empfindungen, während ich mich sorgte

Meine Versagensangst

Mein Urteil darüber, zu versagen

Die Entschlossenheit, mich nicht zu rechtfertigen

Dem Richter die Stirn bieten

Das Erkennen meiner Geschichte rund um das Versagen

Die im Voraus erwartete Enttäuschung der Eltern

Ich als das ungeliebte Kind mit seinen schmerzhaften Gefühlen

Mein Gewahrsein dieses Kindes und mein Mitgefühl mit ihm

Wieder mit meinem Buch, diesmal auf leichte, entspannte Weise

Das ist ein Beispiel dafür, wie wir die Wirklichkeit im Hier und Jetzt erforschen können. Es ist ein Prozess, der uns die sich entfaltenden Tiefen unseres gegenwärtigen Erlebens enthüllt. Diese Form der Erforschung ist eine tiefgreifende Praxis, und die Fähigkeit, sie zuzulassen, kostet viele Jahre der Erfahrung. Erwarten Sie nicht, dass Ihr eigenes Gewahrsein der Wirklichkeit sich so leicht oder direkt enthüllt, wie ich es beschrieben habe. Allerdings lässt mein Prozess viele Elemente klar hervortreten, mit denen Sie im Verlauf dieses Buches arbeiten werden. Vielleicht möchten Sie ihn später, wenn Sie mit dem Lesen weitergekommen sind, als Anschauungsmaterial benutzen.

Der Richter vermeidet die Wirklichkeit

Wenn Sie auf Ihren Richter hören, lenkt Sie das von der Wirklichkeit ab. Der Richter hält die Wirklichkeit für unsicher und schwierig und glaubt, dass sie Ihnen Probleme bereiten wird. In Ihrer Kindheit haben Sie häufig Situationen ertragen, die schmerzhaft, Angst erregend, überwältigend und frustrierend waren. Diese Gefühle waren schwer zu ertragen, und die Auswirkungen auf Sie mussten kontrolliert werden, damit Sie sich sicher fühlen konnten. Es war die Aufgabe des Richters, Sie davor zu bewahren, von diesen Erfahrungen überwältigt oder bedroht zu werden, und seine hauptsächlichen Abwehrmaßnahmen waren Leugnen, Vermeiden und das selektive Gewahrsein. Er glaubt nun weiterhin, dass Sie vor der Wirklichkeit Ihres Lebens – ja, tatsächlich vor fast jeder direkten Erfahrung der Wirklichkeit – geschützt werden müssen. Der Richter bestimmt die Art, wie Sie die Wirklichkeit erleben, indem er Ihnen erklärt, was wichtig ist und worauf Sie achten müssen. Er wird Sie unablässig davon ablenken, auf Ihr volles Erleben im gegenwärtigen Moment zu achten. Er misstraut der Möglichkeit, dass Sie irgendeinen Wert oder Nutzen daraus ziehen könnten, mit sich selbst ehrlicher zu sein.

Im Allgemeinen lässt der Richter gelten, dass essenzielle menschliche Eigenschaften wie Würde, Kraft, Frieden, Mitgefühl und Wille von Bedeutung sind. Er glaubt allerdings nicht, dass diese Ihnen angeboren sind, sondern macht Ihnen weis, dass Sie sie im Außen durch Leistungen und gutes Benehmen erwerben müssen: „Wenn du ein selbstloser, gebender Mensch bist, dann hast du vielleicht einen gewissen Wert.“ Der Richter glaubt, dass Ihnen diese essenziellen Eigenschaften nur zustehen, wenn Sie beweisen können, dass Sie sie verdient haben, im Griff behalten und sich ihrer würdig erweisen, indem Sie seine Maßstäbe erfüllen. Gelingt Ihnen das nicht, behauptet er: „Du spiegelst diese Erfahrung wahrscheinlich nur vor; diese Eigenschaften sind nur vorübergehend, und du wirst sie jeden Moment wieder verlieren, weil sie gar nicht zu dir gehören.“

Die hier dargestellte Sichtweise stellt dem Richter die wichtige Aufgabe, Sie vorzubereiten, darin zu unterweisen und Sie zu ermahnen, was Sie alles tun müssen, um Zugang zu diesen Grundelementen menschlicher Erfahrung zu bekommen. Für den Richter sind diese Seelenqualitäten eher so etwas wie Belohnungen oder Errungenschaften, die zwar wünschenswert, aber keineswegs notwendig sind. Wenn es sich auf mehr als nur Ihren Körper, Ihre Persönlichkeit und Ihre Geschichte bezieht, hält der Richter das wahre Wesen für eine Illusion oder einen Mythos.

Um der Übermacht des Richters im Lenken und Kontrollieren Ihrer Erfahrungen die Stirn zu bieten, müssen Sie zunächst erkennen, dass das wahre Wesen in Ihnen vorhanden ist und weder von Ihren Leistungen noch von dem Eindruck abhängt, den Sie auf andere machen. Es ist und war schon immer ein Teil von Ihnen. Sie müssen ferner erkennen, wie der Richter ein solches Gewahrsein kontinuierlich unterminiert. Sie müssen also bestimmte Eigenschaften Ihres wahren Wesens auf den Plan rufen, um die Strategien des Richters zu kontern. Im obigen Beispiel leisteten Gewahrsein, Wille, Stärke und Mitgefühl jeweils ihren Beitrag, als es darum ging, die Kontrolle zu brechen, die der Richter über meine Erfahrungen ausübte. Wenn Sie Ihre Verbindung mit diesen Aspekten Ihres Menschseins, die auf einer tieferen Ebene als Gewohnheiten, Vorlieben und frühe Konditionierungen angesiedelt sind, erkennen und entwickeln, werden Sie auf ein alternatives Orientierungs- und Unterstützungssystem stoßen, das auf einem grundlegenderen Wirklichkeitssinn fußt.

Bei jedem der in diesem Buch vorgestellten Aspekte des wahren Wesens werden Sie erkennen, dass dem Richter übliche und vertraute Vorgehensweisen zur Verfügung stehen, um zu versuchen, die jeweilige Eigenschaft herabzusetzen, zu unterwandern und anzugreifen. In dem Maße wie es ihm gelungen ist, Sie von Ihrem wahren Wesen abzuschneiden, sind Sie davon abhängig, dass er als Ersatz für jene verloren gegangenen Eigenschaften fungiert. Wir werden also bei jeder Eigenschaft betrachten, auf welche Weise der Richter Sie üblicherweise angreift, wenn Sie die jeweilige Fähigkeit aktivieren. Außerdem werden wir uns im Kontrast dazu anschauen, wie die jeweilige Fähigkeit Sie dabei unterstützt, das Bedürfnis nach einem Richter abzuschaffen.

Befreiung vom inneren Richter

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