Читать книгу Rache - Calin Noell - Страница 12
Unerwartet
ОглавлениеIch lief den ganzen Tag und je weiter ich vordrang, desto schwerer fiel es mir, meine Erinnerungen zu verdrängen. Erneut blickte ich auf die Karte und verlagerte meinen Weg schließlich ein wenig nach Norden, in der Hoffnung, in nicht allzu großer Entfernung auf den Fluss zu treffen, der in der Karte eingezeichnet war.
Plötzlich hörte ich einen lauten und überaus verzweifelten Schrei. Vorsichtig lief ich los. Darauf bedacht, nicht in eine Falle zu laufen, sah ich mich immer wieder misstrauisch um. Als ich das Ufer endlich erreichte, suchte ich systematisch das Wasser ab. Außer dem einen Schrei hatte ich nichts weiter vernommen, doch ich wusste mit Sicherheit, dass es der panische Schrei eines Kleinen vom Volk der Dunkelelben gewesen war.
Dann sah ich ihn, einen Arm, der sich aus den Fluten streckte. Ich lief am Flussufer entlang und schätzte die Strömung ab. Ohne noch länger darüber nachzudenken, ließ ich den Rucksack und meine Jacke fallen, hastete ein Stück stromabwärts und sprang. Beim Auftauchen versuchte ich mich zu orientieren und schwamm. Ich sah den Körper nicht mehr und hoffte auf ein weiteres Lebenszeichen, denn ohne einen erneuten Hinweis würde ich ihn niemals finden.
Die Strömung war stark, und obwohl ich unermüdlich gegen sie ankämpfte, riss sie mich schließlich einfach mit. Bevor ich die Kontrolle zurückerlangte, prallte ich plötzlich hart an einen Felsen und spürte sogleich einen unsäglichen Schmerz in der Schulter. Doch ich ignorierte ihn, blendete ihn vollkommen aus, wie ich es in den ersten Monaten meiner Gefangenschaft gelernt hatte, und kämpfte mich weiter vorwärts.
Endlich sah ich erneut eine Bewegung und korrigierte meine Richtung. Ich schwamm schneller, bis ich ihn erreicht hatte, packte ihn und zog ihn zu mir heran. Während ich meine Schwimmbewegungen aufgab, blickte ich mich hektisch um, suchte nach einer Möglichkeit, irgendwie das Ufer zu erreichen. Verzweifelt bemühte ich mich darum, den Kopf des Kleinen über Wasser zu halten, doch lange würde mir das nicht mehr gelingen. Schließlich entdeckte ich einige Meter vor uns einen dicken Ast, der über den Fluss ragte und betete, dass er unser Gewicht tragen würde. Hastig streckte ich meinen verletzten Arm aus und biss die Zähne aufeinander, versuchte, hoch genug zu gelangen, um ihn ergreifen zu können. Trotz des kalten Wassers traten mir die Schweißperlen auf die Stirn. Der Schmerz in meiner Schulter wurde unerträglich, dennoch packte ich zu und ließ nicht wieder los. Der Ast hielt und ich zwang mich, den Schmerz zu ignorieren, während ich den Dunkelelb vorsichtig in meinem Griff schüttelte. Niemals könnte ich uns so aus dem Wasser ziehen, denn dazu benötigte ich beide Hände.
Ich lasse ihn nicht los, dachte ich verzweifelt und rüttelte erneut an dem kleinen Körper. »He, du musst aufwachen, sonst schaffen wir es hier nicht raus.«
Nachdem ich ihn ein weiteres Mal geschüttelt hatte, öffnete er endlich seine Augen, hustete jedoch sogleich würgend und erbrach sich. Sein Atem folgte röchelnd, und er brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen. Mein Schmerz aber erschien mit jeder Minute, die wir länger an diesem Ast hingen, heftiger. Ich benötigte meine gesamte Kraft, um die Qualen auszublenden, so, wie ich es all die Jahre getan hatte, um überleben zu können.
Aus großen, ängstlichen Augen betrachtete mich der kleine Dunkelelb. »Hör zu. Schling deine Arme um meinen Nacken und deine Beine um meinen Bauch, klammer dich fest wie ein Äffchen, schaffst du das?« Obwohl er nur sehr zögernd nickte, zog ich ihn ganz nah an mich heran. Endlich kletterte er an mir hinauf. Erleichtert griff ich mit der nun freien Hand nach dem dicken Ast, als mir plötzlich irgendetwas in den Rücken schlug. Vor Schock und Schmerz zuckte ich zusammen und wir rutschten ein Stück ab. Hastig packte ich ihn und erneut lastete das ganze Gewicht einzig und allein auf meinem verletzten Arm. Doch ich hatte Angst, dass ich mit der anderen, aufgrund der Schmerzen zu langsam gewesen wäre. Also biss ich die Zähne aufeinander und zog ihn wieder hoch. Diesmal schaffte er es und umschlang mich. »Halt dich gut fest, aber drück nicht so an meinem Hals.« Sofort gab sein Griff ein wenig nach und ich grinste gequält.
Mühsam hangelte ich mich an dem Ast entlang und schlang schließlich meine Beine darum. Mein Rücken war nun dem Fluss zugewandt und der Kleine lag auf meiner Brust. Ich kletterte, so weit es möglich war, und fluchte. Wir hingen noch immer weit über dem Fluss, doch so kamen wir nicht näher an das Ufer heran.
»Du musst auf die andere Seite klettern. Hörst du?!« Er reagierte nicht. »Hör zu. Du musst deine Angst überwinden und auf meinen Rücken klettern, sonst fallen wir wieder ins Wasser. Ich kann uns nicht mehr lange halten«, schrie ich gegen die Strömung an. Endlich löste er sich aus seiner Erstarrung.
Ich spürte seine Furcht und ließ langsam meine Beine von dem Stamm gleiten, damit es ihm leichter fiel. Nun lastete jedoch das ganze Gewicht erneut auf meinen Schultern. Diesmal trieb mir der Schmerz Tränen in die Augen. Der Kleine aber erstarrte bei meiner Bewegung und so ließ mein gesunder Arm den Ast los. Es war meine einzige Chance, es noch an die rettende Böschung zu schaffen. Grob packte ich ihn. »Lass los verdammt. Sofort«, schrie ich wütend.
Endlich tat er es, und ich schob ihn nach hinten, dankbar, dass er nicht besonders viel wog. Augenblicklich umschlang er mich und ich griff hastig mit der freien Hand wieder nach dem Ast. »Halt dich jetzt richtig gut fest, verstanden?« Ich glaubte, ein Nicken zu spüren, und zog meine Beine hoch, schlang sie darum und atmete erleichtert aus. Zwar waren wir noch längst nicht aus der Gefahrenzone, doch es verschaffte meiner geschundenen Schulter eine kleine Ruhepause.
Da ich nun meinen Bauch frei hatte, zog ich mich hoch und lag schließlich keuchend und erschöpft bäuchlings auf dem Ast. Nach einem kurzen Moment robbte ich langsam und vorsichtig vorwärts. Ich zog uns weiter, so zügig es mir noch möglich war, immer darauf bedacht, den Ast nicht in zu starke Schwingungen zu versetzen. Als ich die Böschung fast erreicht hatte, wurde ich plötzlich gepackt und hochgezerrt. Einer Panik nahe, riss ich mich augenblicklich los, sobald ich festen Boden unter den Füßen spürte, traf dabei jedoch versehentlich den jüngeren von zwei Dunkelelben mit der Faust im Gesicht. Hastig brachte ich einige Schritte Abstand zwischen uns. Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen, während ich nach dem Kleinen griff, doch er hielt sich noch immer krampfhaft an mir fest.
»Du kannst jetzt loslassen.« Ganz bewusst verlieh ich meiner Stimme einen ruhigen Klang, wandte jedoch meinen Blick nicht von den beiden ab, die mich mindestens ebenso misstrauisch musterten. »Kennst du die? Bist du vor ihnen geflohen?«, fragte ich und drehte mich ein wenig seitlich, damit er sie ansehen konnte. Erneut versuchte ich, ihn von mir zu ziehen.
»Vater«, rief er überrascht und sprang ihm entgegen. Der plötzliche Druck und der Schwung ließen mich taumeln, und während er seinen Sohn auffing, fasste der andere meinen Arm, um zu verhindern, dass ich umfiel. Trotz meiner Schwäche befreite ich mich hastig aus seinem Griff und tastete meinen Rücken ab. Als ich unauffällig hinuntersah, entdeckte ich Blut.
Verdammt. Das fehlt mir gerade noch, ärgerte ich mich.
»Hey, bist du vor einem von ihnen weggelaufen?«, wiederholte ich ruhig und deutete in ihre Richtung, nur um sicherzugehen. Irritiert schüttelte er den Kopf. Sein Vater betrachtete mich verwundert, der andere schnaubte missbilligend.
»Vor wem bist du davongelaufen, Jul?«, hakte sein Vater nach, ließ mich aber ebenfalls nicht aus den Augen.
»Vor Mati und Kial«, flüsterte er beschämt.
»Sie haben dich in einen Fluss gehetzt und sind dann einfach abgehauen?«, fragte ich fassungslos, rief mich im nächsten Moment jedoch selbst zur Ordnung.
Das geht mich überhaupt nichts an.
»Sie haben uns geholt«, keifte der andere aufgebracht.
Wütend funkelte ich ihn an. »Und dafür sind zwei nötig?« Ich schüttelte den Kopf. »Sei das nächste Mal vorsichtiger«, sagte ich zu dem Kleinen und wandte mich ab.
»Warte, wo willst du denn hin?«, rief er mir hinterher.
»Ich muss meine Sachen holen«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen, und ging los.
Plötzlich stand er vor mir, lächelte und sprang mir in den Arm. »Danke«, lachte er fröhlich.
Mir hingegen entwich ein Stöhnen. Ich sank auf die Knie, nicht mehr in der Lage, den Schmerz noch länger zu ignorieren. Nicht nur, dass er meine Schulter fest umklammerte, auch meinen Rücken schien es schlimmer erwischt zu haben als ich dachte. Behutsam löste ich seine Arme und sah ihn an, lächelte zögernd. »Gern geschehen. Doch das nächste Mal läufst du nicht weg. Stell dich ihnen in den Weg, und auch wenn du Angst hast, zeig sie ihnen nicht. Zwing dich selbst dazu, ihnen in die Augen zu blicken, gleichgültig, wie ängstlich du bist. Du wirst sehen, dann macht es ihnen gar keinen Spaß mehr, dich zu ärgern und zu jagen.« Ernst nickte er.
»Es scheint dir nicht besonders gut zu gehen. Hast du dich verletzt?«, fragte der Vater hinter mir und trat in mein Blickfeld.
»Es wird schon gehen, ich muss nur zu meiner Tasche. Ich habe alles dabei, was ich benötige«, wich ich aus, griff die Schulter des Jungen und sah ihn an, als würde ich noch etwas sagen wollen. Dabei nutzte ich ihn lediglich als Stütze, um überhaupt wieder auf die Füße zu kommen. »Mach‘s gut, Jul«, sagte ich, während ich mich schwerfällig erhob. Ich wusste inzwischen, dass sie zwar zu meinem Volk gehörten, doch sie waren nicht die, die ich suchte. Jul und die beiden stammten von einem anderen Clan ab.
Ich nahm meine Hand von seiner Schulter und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, ballte sie zur Faust.
»Wie heißt du?«, fragte Jul und betrachtete mich neugierig.
»Sam«, antwortete ich lächelnd, nickte den beiden zu und setzte meinen Weg fort.
Seit wann bin ich so verweichlicht? Warum kann ich meine Schmerzen immer weniger kontrollieren, meine Erinnerungen? Alles scheint mir zu entgleiten.
»Warte. Du bist verletzt und kannst unmöglich allein weiter durch den Wald spazieren. Du kommst mit uns und wir versorgen deine Wunden«, beschied der Vater und fasste meinen Arm. Ich versteifte augenblicklich.
»Nicht anfassen, bitte«, flüsterte ich und entwand mich hastig, zuckte jedoch sogleich vor Schmerzen zusammen.
»O ja. Bitte, Sam. Umi macht jeden wieder gesund. Und wo willst du denn hin, du kannst ja kaum gehen«, rief Jul begeistert.
Ich fluchte innerlich. Sie hatten ja recht, dennoch behagte es mir nicht. Andererseits würden sie mich zu einem Übergang bringen und somit besäße ich schon mal ein Problem weniger. »Ist es weit?«, fragte ich zögernd, noch immer nicht sicher, ob das so eine gute Idee war. Lachend fasste Jul meine Hand. Ich unterdrückte krampfhaft das erneute Zusammenzucken, als er an meinem verletzten Arm zog. »Ich brauche aber meine Sachen«, beharrte ich und setzte mich wieder in Bewegung. Aufgeregt hopste der Kleine neben mir her, wodurch meine Schulter die ganze Zeit bewegt wurde. Inzwischen bildeten sich auf meiner Stirn kleine Schweißtropfen.
Kaum jemand wird verstehen, weshalb ich nicht einfach zugab, am Ende zu sein. Doch es saß zu tief in mir verwurzelt, niemals eine Schwäche zuzugeben oder zu zeigen, selbst jetzt noch. Ich wusste natürlich, dass mich niemand mehr dafür bestrafen würde, doch die jahrelange Folter ließ sich nicht einfach so wieder umkehren. Außerdem waren sie Fremde und allein schon deswegen konnte ich ihnen gegenüber niemals eine Schwäche eingestehen. Also schleppte ich mich vorwärts und ließ mir so wenig wie möglich anmerken.
Bei meinen Sachen angekommen, nutzte ich die Gelegenheit und entwand mich aus Juls Griff. »Dreht euch um und am besten geht ihr ein paar Schritte weg, damit ich mir wenigstens trockene Kleidung anziehen kann.« Sichtbar widerwillig folgten sie meiner Aufforderung, während ich hinter einer Baumreihe Schutz suchte. So schnell wie es meine Schmerzen zuließen, zog ich mich um. Bevor ich als letztes mein langärmliges Shirt überstreifte, legte ich eine Wundauflage auf die Rückenverletzung und umwickelte sie eilig mit einem Verband. All das brachte mich an den Rand meiner Belastbarkeit, weil ich ständig meine ausgekugelte Schulter bewegte. Als ich mich ihnen vollständig angekleidet zuwandte, schwitzte ich vor lauter Qualen.
»In Ordnung«, rief ich und packte meine Jacke ein. Vorsichtig hängte ich mir den Rucksack über die lädierte Seite und Jul schnappte sich sofort meine andere Hand. Erleichtert, dass er nun nur noch an meinem gesunden Arm zog, ließen sich die Schmerzen aushalten.
Wir schwiegen eine ganze Weile, während wir immer tiefer in den Wald vordrangen, bis Jul plötzlich stoppte. Ich spürte den Übergang bereits und atmete tief durch. »Wir müssen dir die Augen verbinden«, erklärte Juls Vater zögernd. »Nur zur Sicherheit.«
Misstrauisch runzelte ich die Stirn und sah zwischen ihnen hin und her. Der Stumme erwiderte meinen Blick undurchdringlich, sprach jedoch noch immer nicht. Jul hingegen strahlte über sein ganzes Gesicht. Schließlich nickte ich seufzend. »Ihr werdet mir wohl kaum ein Messer in den Rücken rammen wollen«, entgegnete ich und hoffte, dass dem auch tatsächlich so war. Jul kicherte, doch der Schweigsame schnaubte erneut. »Wie heißt ihr?«, fragte ich und musterte sie diesmal ausgiebiger.
»Ich heiße Dave«, antwortete der Vater. »Und das ist Cadan«, sagte er und deutete auf den jüngeren Dunkelelb, der ungefähr in meinem Alter sein musste. Ich nickte und schloss die Augen, zwang mich zur Ruhe. Nur einen Atemzug später trug ich eine schwarze Binde und spürte zwei Hände auf meinen Schultern. Fluchend zuckte ich zusammen, sowohl vor Schreck, als auch vor Schmerz.
»Du willst wohl kaum hinfallen, also musst du schon zulassen, dass ich dich führe«, zischte dieser Cadan an meinem Ohr und packte noch gröber zu.
Verkrampft schloss ich die Augen, der Schweiß lief mir den Nacken hinab. Jul zog nach wie vor an meiner Hand und ich versuchte, mich einzig und allein auf seinen Griff zu konzentrieren. Beim dritten Stolperstein jedoch gaben meine Beine nach und ich wäre gestürzt, hätte Cadan mich nicht noch fester gepackt. Der Druck aber verschlimmerte die Schmerzen in meinem Rücken, ebenso die in meiner Schulter auf ein unerträgliches Maß und ich verlor den Kampf mit meinem Bewusstsein.