Читать книгу Rache - Calin Noell - Страница 14

Heimkehr

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Als ich aufwachte, blinzelte ich mehrfach, um den verschwommenen Schleier zu vertreiben. Ich lag in einem Zimmer, die Fenster, vier Stück an der Zahl, zu hoch oben, um von hier aus hinaussehen zu können. Nur eine kleine Lampe direkt neben dem Bett verströmte gedämpftes Licht.

»Du bist wach«, rief Jul begeistert. Überrascht wandte ich mich zu ihm um. »Ich darf gar nicht hier sein, aber ich habe mich reingeschlichen«, fuhr er grinsend fort.

Mühsam setzte ich mich auf. »Wo bin ich?«, fragte ich verwirrt und ließ meinen Blick erneut durch den Raum schweifen.

»In einem der Gästezimmer vom Clan der Idun. Umi hat deine Verletzung auf dem Rücken versorgt, weil der Heiler Nevan beschäftigt war. Sie hat gesagt, du würdest frühestens morgen erwachen. Ich wollte ihr nicht glauben, weil du bereits seit zwei Tagen schläfst.« Jul plapperte wie ein Wasserfall und ich schmunzelte darüber, als sich die Tür öffnete und eine Dunkelelbin das Zimmer betrat. In meinem Kopf arbeitete es und meine Gedanken überschlugen sich.

Warum bin ich hier? Sie gehören nicht zu meinem Clan und doch bin ich jetzt genau dort, wo ich die ganze Zeit hinwollte.

»Du bist ja bereits munter«, rief sie erstaunt, lächelte jedoch. Jul aber verwandelte sich vor Schreck in ein Wolfsjunges, sprang auf meinen Schoß und rollte sich zusammen. Ich streichelte ihn und genoss sein weiches Fell unter meiner Haut. Sichtlich überrascht zog Umi eine Augenbraue in die Höhe und beobachtete uns oder vielmehr mich.

»Was ist geschehen?«, entgegnete ich, bevor sie etwas dazu sagen konnte.

»Du wurdest ohnmächtig und hast dir eine schlimme Verletzung des unteren Rückens zugezogen. Es hat sich ein großer Erguss gebildet, der geplatzt ist. Wie ist das passiert?«, fragte sie und betrachtete mich scheinbar ernsthaft besorgt, wie ich fand, als sich die Tür ein weiteres Mal öffnete. Cadan trat ein und schnappte geräuschvoll nach Luft, als er Jul in Wolfsgestalt auf meinem Schoß entdeckte. Misstrauisch blickte er zwischen Umi und mir hin und her. Noch immer auf Antwort wartend, ignorierte sie ihn jedoch und sah mich auffordernd an.

»Als ich mit Jul an dem Ast hing, traf mich irgendetwas im Rücken. Ich konnte uns gerade noch mit letzter Kraft halten.« Ungläubig fixierte mich ihr Blick.

»Du hast kein Wort gesagt«, empörte sich Cadan.

»Warum sollte ich? Ihr seid mir vollkommen fremd, und ich trage alles bei mir, was ich benötige. Ich habe mich selbst verbunden und geheilt wäre es auch von allein«, entgegnete ich verärgert über seinen Ton und seine ganze Art, während er herablassend eine Braue in die Höhe zog. Ungerührt erwiderte ich seinen Blick.

»Was ist los mit dir, Jul?«, fragte ich schließlich irritiert, weil er sich noch immer nicht zurückgewandelt hatte.

»Er ist noch nicht so sicher in der Rückwandlung«, hörte ich die Stimme seines Vaters und sah kurz auf. »Da du bereits wach bist, haben wir einige Fragen an dich. Würdest du uns bitte begleiten.« Ganz klar eine Aufforderung, keine Frage.

»Wozu?«, fragte ich gespielt verwundert.

Ich wusste doch, dass das eine echt blöde Idee ist.

Was sollte ich jetzt erzählen? Sie würden mich ins Kreuzverhör nehmen, und ich hatte so eine Ahnung, dass ich da nicht so einfach wieder herauskam.

»Das klären wir nicht hier«, antwortete er schlicht und stellte sich neben die Tür. Eine eindeutige Geste, die selbst der Dümmste verstanden hätte.

Langsam erhob ich mich und sah erleichtert an mir hinab.

Sie haben mir meine Kleidung angelassen.

Ich legte Jul auf das Bett und streichelte ihm über den Kopf. »Bis später Jul.«

»Moment«, rief Umi böse und baute sich vor ihnen auf. »Sam geht nirgendwohin, bevor sie nicht mindestens noch einen Tag im Bett verbracht hat.«

Cadan wich tatsächlich einen Schritt zurück und ich lächelte. »Es ist in Ordnung. Ich habe nichts zu verbergen und fühle mich ganz gut. Es wird schon gehen«, fuhr ich beschwichtigend dazwischen. Hinauszögern würde mir auch nicht helfen. »Wenn ich mich vorher noch kurz zurückziehen könnte?« Mein Ton klang freundlich. Angestrengt bemühte ich mich, meine Wut nicht zu zeigen. »Wo sind meine Sachen?«, fragte ich misstrauisch, weil ich den Rucksack nirgendwo sah.

»Natürlich.« Dave wirkte aufrichtig beschämt und nickte Cadan zu, der daraufhin sofort verschwand. Nur einen Augenblick später kehrte er mit meinem Rucksack in der Hand zurück.

»Was soll das?«, rief ich aufgebracht, nachdem ich einen Blick hineingeworfen hatte. »Wo sind meine restlichen Sachen?« Wütend funkelte ich sie an, doch niemand von ihnen reagierte darauf. Bis auf meine Kleidung und mein Waschzeug war der Rucksack nun augenscheinlich leer.

»Wir warten draußen«, entgegnete Dave, statt auf meine Frage zu antworten, und schnappte sich Jul.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Umi. Hastig schüttelte ich den Kopf. Als sie endlich die Tür hinter sich geschlossen hatten, besah ich mir meinen Rucksack eilig genauer. Erleichtert stellte ich fest, dass die Geheimfächer unentdeckt geblieben waren. Meine Messer befanden sich noch alle in ihm, gut verborgen.

Ich erfrischte mich, so gut es ging. Umi hatte mir mein Shirt nicht ausgezogen und so meine ausgekugelte Schulter nicht bemerkt. Ich brauchte ewig, um mich zu waschen und mir ein sauberes Oberteil anzuziehen. Bevor ich einen Versuch unternehmen konnte, mich selbst einzurenken, klopfte es bereits hörbar ungeduldig.

»Bist du endlich fertig?«, erklang Cadans gereizte Stimme durch die Tür.

Mein Rücken und meine Schulter schmerzten von den vielen Bewegungen und ich fluchte leise. »Gleich«, rief ich verärgert zurück.

Nachdem ich mir die Haare ordentlich durchgebürstet hatte und die vergebliche Suche nach einem Haarband aufgab, öffnete ich die Tür. Jul war verschwunden. Dafür standen nun Dave, Cadan sowie zwei mir unbekannte Dunkelelben vor mir, die ich jedoch meinem Clan zuordnete. Ist es tatsächlich möglich?

Cadan fasste meinen Arm und schob mich rücksichtslos vorwärts. Ich entwand mich gewaltsam, während ich das Stöhnen nur mühsam unterdrückte. »Ich bin durchaus in der Lage, allein zu gehen, also Finger weg«, zischte ich, langsam wirklich wütend. »Was soll das alles? Bin ich eine Gefangene oder nennt ihr so etwas Gastfreundschaft?« Mein Blick funkelte gefährlich, dennoch bekam ich auch diesmal keine Antwort.

Als wir den Korridor betraten, kämpfte ich gegen den Ansturm der Erinnerungen aus meiner Kindheit und wurde überwältigt von Gefühlen, die ich kaum noch beherrschen konnte.

Ich bin wirklich im Schloss, in unserem Schloss.

Bevor ich jedoch die Möglichkeit bekam, mich genauer umzusehen, hielten wir vor einer Tür und man bedeutete mir einzutreten. Es waren mehrere Dunkelelben anwesend, doch sobald sich die Tür geöffnet hatte, nahm ich nur noch einen Einzigen von ihnen wahr und benötigte all meine Kraft, um nicht voller Verzweiflung laut aufzuschreien. Ich befand mich tatsächlich an meiner Geburtsstätte und erkannte den Dunkelelb, der hinter dem großen, verschnörkelten Schreibtisch saß, sofort. Trotz der langen Zeit machte mein Herz einen riesigen Satz.

Kiljan!

Sooft hatte ich mir dieses Zusammentreffen vorgestellt, doch nun wurde mir bewusst, dass nichts mich jemals auf diesen Moment hätte vorbereiten können.

Äußerlich blieb ich vollkommen gelassen und empfand nicht das erste Mal in meinem Leben echte Dankbarkeit dafür, dass ich eine derartig antrainierte Selbstbeherrschung besaß.

Ich setzte mich auf den mir zugewiesenen Stuhl und sah in die Runde. Mit meinen vier Begleitern befanden sich, außer mir, nun acht Mitglieder meines Clans, dem Clan der Idun in diesem Raum. Nur Dave und Cadan gehörten definitiv einem anderen Familienverbund an.

Auf dem Tisch vor mir lagen die von mir vermissten Sachen und das ärgerte mich. Zwar trug ich augenscheinlich nur Dinge bei mir, die man wohl kaum auf mein Vorhaben beziehen konnte, doch es handelte sich um mein persönliches Eigentum und niemand besaß das Recht, darin herumzustöbern.

Mein Glück, dass die Messer so gut versteckt sind.

»Also was soll das hier alles«, fragte ich in die Runde und hielt meinen Unmut auch aus meiner Stimme nicht heraus.

Kiljan musterte mich aufmerksam. »Du gehörst unserer Art an«, sagte er schließlich nachdenklich und betrachtete mich weiterhin. Ich unterdrückte ein Schmunzeln, denn ich erinnerte mich, dass er als Oberhaupt geboren worden war, und würde niemals den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass er nicht ebenfalls erkannte, wer genau ich eigentlich war.

Ich nickte. »Ja, und?« Scheinbar irritiert hielt ich seinem bohrenden Blick stand.

»Warum hast du das nicht bereits am Fluss gesagt?« Cadan klang eindeutig zweifelnd.

Seufzend betrachtete ich ihn. »Ja, genau, weshalb denn nicht? Lass mich überlegen. Lag es an deiner so liebenswürdigen Art oder eher daran, dass ich euch dasselbe Misstrauen entgegengebrachte, wie ihr mir? Vielleicht lag es aber einfach auch nur daran, dass mich niemand von euch gefragt hat? Ich habe Jul das Leben gerettet, ohne dass ich wusste, wer oder was er ist. Ich hörte lediglich einen Schrei, doch ein Wort des Dankes erhielt ich weder von dir noch von seinem Vater.«

Beschämt sah Dave zu Boden. »Sie hat recht. Es tut mir leid. Ich bin dir wirklich unglaublich dankbar und stehe tief in deiner Schuld«, entgegnete er entschuldigend. Genervt schüttelte ich den Kopf, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein kleiner Dunkelelb hereinlief.

»Bist du Sam?«, fragte er aufgeregt und ignorierte die bösen Blicke. Verwundert nickte ich und betrachtete ihn. Er fasste meine Hand, natürlich die mit der verletzten Schulter, und zog. Nur mit Mühe gelang es mir, einen Aufschrei zu unterdrücken. »Du musst mitkommen. Es ist wegen Jul, er ist bei Nevan, unserem Heiler, sofort«, rief er drängend und zog erneut.

Während ich mich erhob, packte Cadan plötzlich meinen Oberarm. Ich entwand mich aus der Hand des Kleinen und umschloss blitzschnell Cadans Kehle. »Was verstehst du nicht an den Worten: Nicht anfassen«, zischte ich und stieß ihn ein Stück nach hinten. Ebenso schnell ließ ich ihn wieder los, noch bevor irgendjemand auf den Gedanken kam, sich auf mich zu stürzen. Sein Blick funkelte hasserfüllt.

»Ich kann wohl kaum weglaufen«, sagte ich und ergriff die Hand des Kleinen erneut, der nun ängstlich zwischen uns hin und her sah, mich dann jedoch hinauszog. Ich achtete nicht auf die anderen, wusste, dass sie mich nicht aus den Augen lassen würden. »Wie heißt du?«, fragte ich ihn, als wir vor einer Tür hielten.

»Leif«, entgegnete er lächelnd und öffnete.

»Nein«, schrie Jul. Ich blieb abrupt stehen, sodass die Hüter, die uns folgten, in mich hineinliefen. Ich stöhnte laut auf, war nicht länger in der Lage, den Schmerz zu unterdrücken, und fluchte. Wütend wandte ich mich um und blickte in Kiljans funkelnde, moosgrüne Augen. Er stand direkt hinter mir, sein Körper lehnte noch immer an meinem.

»Entschuldige«, stieß er sichtbar aufgebracht zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Doch ehe ich etwas erwidern konnte, zog mich Leif bereits in den Raum hinein.

»Was ist hier los?«, fragte ich, weil ein Dunkelelb versucht hatte, Jul zu packen.

Irritiert starrte er uns an, runzelte bei meinem Anblick missbilligend die Stirn. »Er will sich keine Injektion geben lassen. Aber da sich in seinen Atembahnen noch Wasser befindet, und wir nicht wollen, dass sein Körper es bekämpft, muss er es hinnehmen.« Seine Worte wirkten misstrauisch, ebenso sein Blick. Ich wusste, ich kannte ihn, doch ich konnte ihn einfach nirgendwo einordnen. Also zog ich mir vorsichtig einen Stuhl heran und setzte mich neben die Bahre.

»Jul, was ist das Problem?«, fragte ich leise.

»Raus hier«, rief der Heiler plötzlich unbeherrscht.

Überrascht wandte ich mich um. Diese ruckartige Bewegung trieb jedoch einen sengenden Schmerz in meine Schulter, der sich inzwischen kaum noch ignorieren ließ.

Alle zehn Dunkelelben aus dem Verhörraum standen mittlerweile am Eingang und musterten mich. Kiljan nickte ihnen zu, ehe er gemeinsam mit einem mir unbekannten Wächter eintrat. Sie schlossen die Tür und postierten sich abwartend an der Wand.

»Ich möchte kurz mit Jul sprechen, bitte«, stieß ich genervt hervor, dennoch stellte sich der Heiler nur sehr zögernd zu Kiljan. »Nun?«, fragte ich Jul flüsternd. Er wich meinem Blick aus, sodass ich seinen inneren Kampf erkannte.

»Ich habe Angst vor Injektionen«, flüsterte er, traute sich aber noch immer nicht, mich anzusehen. »Du fürchtest dich vor gar nichts«, ergänzte er noch leiser. Ich hörte deutlich seine Scham.

»Ich habe Angst vor geschlossenen Räumen«, vertraute ich ihm so leise an, dass nur er mich hören konnte. Endlich hob er den Blick und riss erstaunt die Augen auf. »Und ich fürchte mich vor Heilern«, schob ich langsam hinterher.

»Was?«, rief er lachend und schüttelte den Kopf.

»Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht. Doch Nevan sieht eigentlich ganz nett aus. Pass auf, wenn ich ihn trotzdem meine Schulter richten lasse, lässt du dir dann von ihm die Injektion geben? Du hältst meine Hand, damit es mir leichter fällt und ich deine. Glaubst du, dass du es dann aushältst?«, fragte ich ihn ernst.

»Was ist mit deiner Schulter?« Jul musterte mich besorgt.

Ich lächelte gequält. »Ich habe sie mir im Fluss ausgekugelt«, antwortete ich und registrierte das nach Luft schnappen der wartenden Dunkelelben hinter uns. Zögernd nickte Jul. »Du musst aber richtig gut festhalten«, forderte ich. »Allein schaffe ich das nicht, in Ordnung?«

Ich hoffte, meine Taktik würde aufgehen. Niemals hätte ich freiwillig meine Verletzung zugegeben, doch dieser kleine Dunkelelb trug irgendetwas in sich, das mich innerlich packte. Innerlich seufzte ich über mein eigenes Verhalten.

»Du hast dir im Fluss die Schulter verletzt und nichts gesagt?«, fragte Nevan vorwurfsvoll. Ich erwiderte seinen Blick, schwieg jedoch. »Zeig mal, vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.« Auffordernd betrachtete er mich, während ich mir ziemlich umständlich das langärmlige Shirt auszog.

Ich saß im T-Shirt vor ihm. »Das wird genügen«, sagte ich bestimmend. »Wenn es dir nicht reicht, schneid den Ärmel auf, doch ich werde mich nicht weiter entkleiden«, ergänzte ich.

Das fehlt mir noch.

Meine Erleichterung darüber, dass Umi mich nicht entkleidet hatte, empfand ich als unbeschreiblich, und ich würde hier nicht damit anfangen. Niemals würde ich freiwillig meine Narben zeigen.

Seinem Gesichtsausdruck war das Missfallen deutlich anzusehen, dennoch schnitt er schweigend den Ärmel ein wenig auf. Als er meine Schulter erblickte, fluchte er.

»Ich weiß sehr wohl, wann sie ausgekugelt ist«, entgegnete ich schlicht. »Bekommst du sie wieder eingerenkt?« Misstrauisch musterte ich ihn.

Er tauschte einen Blick mit Kiljan und nickte schließlich. »Leif hat dich an dieser Hand hier hereingezogen.« Er wirkte fassungslos und sah die Szene anscheinend noch einmal im Geiste vor sich.

»Er konnte es nicht wissen«, antwortete ich nur.

»Warum hast du nichts gesagt. Das müssen unglaubliche Schmerzen sein«, erwiderte er vorwurfsvoll.

»Wann denn? Ich war kaum aufgewacht, da packte man mich und schleppte mich zum Verhör«, stieß ich verärgert hervor, auch wenn ich wusste, dass diese Aussage nicht ganz fair war. Zwar hatte mich niemand gefragt, doch wenn ich etwas gesagt hätte, wären sie hilfsbereit gewesen, das war mir klar. Aber es brachte mich in eine bessere Position und die brauchte ich dringend.

Anklagend blickte der Heiler die beiden an der Wand stehenden an. »Wie ist das geschehen?«, fragte er nun freundlicher.

»Nachdem ich ins Wasser gesprungen und losgeschwommen bin, riss mich plötzlich die Strömung ein Stück mit. Ich prallte an einen Felsen, bevor es mir gelang, mich aus dem Strom zu befreien.« Ich zuckte mit den Schultern und spürte augenblicklich den stechenden Schmerz, fluchte innerlich über meine eigene Dummheit. Erneut kämpfte ich gegen die nahende Ohnmacht.

»Mir wurde berichtet, du hättest euch über einen Ast aus dem Wasser gezogen. Da warst du die ganze Zeit schon verletzt?«, fragte Kiljan von hinten und ich wandte mich ihm ein wenig zu.

»Ja.« Kiljan runzelte die Stirn.

»Das kann ich kaum glauben«, warf der Heiler ein und betrachtete mich skeptisch.

Ich lachte bitter. »Dann lasst es, alle, oder glaubt ihr ernsthaft, es interessiert mich, was ihr denkt?! Richte die Schulter und fertig«, stieß ich wütend hervor. »Vom Reden jedenfalls wird es nicht besser. Und du willst Jul doch die Injektion geben, oder etwa nicht?« Argwöhnisch nickte er und zog ein Medikament auf eine Spritze. »Nein, die brauche ich nicht.« Mein Blick fixierte ihn. »Keine Heilmittel. Es geht auch so.« Mein Ton sollte eigentlich jeglichen Widerspruch im Keim ersticken.

»Das kann unmöglich dein Ernst sein«, entgegnete er dennoch entsetzt.

Ich seufzte. »Ebenso wie ich in dem Moment des Aufpralls wusste, dass sie ausgekugelt ist, weiß ich, dass es ohne gehen wird. Also mach jetzt endlich.« Ich wandte mich Jul zu. »Du musst gut festhalten, ja?«, wiederholte ich sanft. Mit großen Augen nickte er. Weil Nevan sich noch immer nicht rührte, streckte ich ihm ungeduldig meinen Arm entgegen. Erneut holte er geräuschvoll Atem, denn nichts in meinen Zügen ließ irgendetwas von meinem Schmerz erkennen.

Er benötigte drei Versuche, und ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht, ihn erdolcht oder mehrfach den Kopf eingeschlagen. Ich bin nicht unempfindlich gegen Schmerz, ich verarbeite ihn nur anders, dennoch besaß selbst ich Grenzen und die hatte er deutlich überschritten.

Beim dritten Versuch jedoch glitt das Gelenk schließlich zurück an den richtigen Platz. Erleichtert atmete ich auf. Schweiß bedeckte meinen Körper, aber mir war trotzdem kein Laut über die Lippen gekommen. »Ist mit deiner Hand alles in Ordnung?«, fragte ich Jul. Zögernd nickte er. »Habe ich nicht zu fest gedrückt?«, hakte ich besorgt nach, weil er ein wenig blass wirkte, doch er schüttelte den Kopf.

»Du hast gar nicht geschrien«, erklang es ehrfürchtig.

Ich lächelte. »Du schaffst das auch, wenn du meine Hand nur doll genug drückst.«

»Ich fixiere deinen Arm am Oberkörper, damit du ihn schonst«, erklärte der Heiler stockend.

»Nein«, entgegnete ich bestimmend. »Eine Schlinge wird ausreichen.« Stumm fochten wir ein Duell, bis er schließlich widerwillig zustimmte.

»Du musst den Arm ruhig halten, keine Bewegungen.«

Ich nickte, denn ich wusste, dass er recht hatte, doch sollte ich hier in Schwierigkeiten geraten, wollte ich in der Lage sein, schnell zu reagieren. Das aber wäre kaum möglich, sollte er den Arm an meinem Körper festbinden.

Der Heiler zog eine Injektion auf und sah Jul liebevoll an. Plötzlich schien es, als stünde ein ganz anderes Geschöpf vor mir. Während er sich setzte, verschwand jegliche Härte aus seinen Zügen und nun saß dort nur noch der fürsorgliche Heiler eines kleinen Dunkelelben.

Jul drückte meine Hand. Ich war dankbar dafür, würde so hoffentlich niemand mein eigenes Zittern bemerken. »Ich bin bereit«, sagte er tapfer, doch seine Angst war noch immer deutlich zu sehen.

»Du musst richtig kräftig drücken, ich spüre deine Hand ja kaum«, spornte ich ihn an und hoffte, dass er sich so mehr auf seine Kraft konzentrierte, statt auf die Nadel. Aufmunternd lächelnd sah ich ihm in die Augen. Während des Einstichs zuckte er ganz kurz zusammen, weiter geschah jedoch nichts.

»Fertig.« Der Heiler schmunzelte.

Jul erstrahlte. »Ich habe gar nicht geschrien«, freute er sich. »Kiljan, hast du gesehen?! Ich gab keinen Laut von mir. Keinen einzigen«, rief er begeistert.

Lächelnd trat er auf ihn zu und strich ihm liebevoll über den Kopf. »Du bist sehr tapfer«, entgegnete er ernst. Ich warf ihm einen Blick zu, wandte mich jedoch schnell wieder ab, denn bei seinem Lächeln drohten mich die Erinnerungen plötzlich zu überschwemmen. Langsam erhob ich mich und spürte meine eigene Schwäche immer deutlicher.

»Du wirst mindestens drei Tage im Bett bleiben«, befahl der Heiler unvermittelt. Stirnrunzelnd drehte ich mich zu ihm um. Dieser aber sah nicht mich, sondern Kiljan an. »Ich lasse nicht mit mir verhandeln. Sie gehört ins Bett, und zwar sofort. Ich sehe mir später die Wunde auf ihrem Rücken noch einmal an. Was auch immer ihr zu klären habt, kann warten.«

Irritiert blickte ich zwischen den beiden hin und her. Kiljan nickte schließlich und betrachtete mich. »Ich begleite dich auf dein Zimmer«, sagte er und öffnete die Tür.

»Sie muss sich ausruhen«, rief Nevan warnend hinterher.

Ich sah Kiljans Ärger deutlich. »Ja, Heiler«, stieß er hervor.

»Ich komme dich nachher noch einmal besuchen«, rief Jul hastig, während sich die Tür bereits schloss.

Kiljan führte mich in mein Zimmer und nun standen sie wieder zu viert vor mir. Kiljan und sein stummer Begleiter, ebenso wie Dave und Cadan. »Was willst du hier?«, erkundigte Kiljan sich plötzlich.

Scheinbar irritiert von dieser Frage runzelte ich die Stirn. »Wieso hier?«

»Warum warst du im Wald, ganz allein?«

»Ich war wandern. Das bin ich ständig. Ich meide die Städte, solange und sooft es möglich ist. Ich mag keine Menschenmassen und verbringe meine Zeit lieber in der Natur. Ich war schon an vielen Orten. Ich wollte zum Fluss, da meine Wasservorräte fast aufgebraucht waren, als ich plötzlich den Schrei hörte. Wäre hier nicht ein wenig Dankbarkeit angebracht, statt mich andauernd zu verhören? Wir gehören demselben Volk an, also was soll das alles?«, entgegnete ich verärgert und funkelte ihn an.

»Ich bin das Oberhaupt vom Clan der Idun und für den Schutz aller verantwortlich. Niemand kennt dich oder hat dich je gesehen. Es gab Übergriffe, zwei in naher Vergangenheit«, antwortete er nachdenklich, doch ich spürte seine Anspannung.

»Was für Übergriffe?«, fragte ich irritiert. Cadan trat auf ihn zu und ergriff seinen Arm.

Interessant. Haben sie sich etwa zusammengeschlossen?

Kiljan ignorierte ihn. »Ich muss sichergehen, dass du unser Vertrauen nicht hintergehst«, sagte er schlicht.

»Das kann ich euch wohl kaum beweisen, da ihr mir sowieso kein Wort glaubt. Wenn das Gastrecht hier keine Gültigkeit besitzt, dann sag es und ich gehe«, erwiderte ich, nach außen Gelassenheit ausstrahlend, innerlich aber spannte ich mich an. Es war nicht fair, das Gastrecht ins Gespräch zu bringen, denn es verpflichtete ihn, mich aufzunehmen. Doch er ließ mir kaum eine andere Wahl, und ich versuchte so zu tun, als wäre es mir tatsächlich gleichgültig.

»Sie hat Jul das Leben gerettet«, warf Dave ein. »Wir würden sie sofort bei uns aufnehmen, aber die nächsten zwei Wochen können wir dieser Pflicht nicht nachkommen, das weißt du.« Schweigend blickte Dave Kiljans an.

Erneut runzelte ich die Stirn. »Warum das?«, fragte ich und musste meine Verwirrung nicht einmal spielen.

»Jul hat seine zehnte Lebensbahn erreicht und die Zeremonie findet bald statt. Das heißt, wir werden nicht hier sein.« Ich nickte, denn ich erinnerte mich noch, dass dieses Ritual ein großes Ereignis war. Sie feierten den Eintritt in den sogenannten zweiten Lebensabschnitt – vom Kleinen zum Halbstarken – an einem heiligen Ort und fast alle Erwachsenen des eigenen Clans nahmen daran teil.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Jul stürzte herein. »Sam. Ich lade dich hiermit zu meinem Fest ein. Wenn wir wieder zurück sind, hat mein Vater mir versprochen, dass ich ein zweites Fest bekomme, zu dem ich jeden einladen darf, den ich möchte. Ich will, dass du dabei bist. Kommst du?«, plapperte er ganz aufgeregt und bemerkte die betretenen Mienen der anderen gar nicht.

»Ich weiß nicht, ob ich dann noch hier bin«, antwortete ich und blickte in sein bestürztes Gesicht.

»Aber du musst. Du hast mir das Leben gerettet. Sam, bitte. Kannst du nicht wenigstens so lange bleiben?« Er klang verzweifelt, sah erst zu seinem Vater und danach zu Kiljan. »Sie darf hierbleiben, oder nicht? Das sind wir ihr doch schuldig.«

Seufzend fuhr sich Kiljan durch sein Haar, sichtlich ratlos. »Ja, Jul. Wir sind es ihr schuldig. Du hast recht und natürlich darf sie bleiben«, entgegnete er, fast schon resigniert.

»Yippie!«, rief Jul und hüpfte in meine Arme. Ich fing ihn auf und taumelte stöhnend einige Schritte rückwärts.

»Jul«, schimpfte Kiljan, sprang vor und hielt mich plötzlich fest.

Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und erneut kämpfte ich gegen eine nahende Ohnmacht. Vor Schreck wandelte Jul sich wieder in ein Wolfsjunges. »Danke«, stieß ich keuchend hervor, noch immer gegen den Schmerz kämpfend. Dennoch machte ich mich los. Vorsichtig lehnte ich mich an das Bett und atmete bewusst ein und aus. Als die Schmerzwelle langsam verebbte, blickte ich auf und begegnete seinem durchdringenden Blick. »Es geht schon.« Genervt drehte ich mich um und unterdrückte krampfhaft die Bilder, die unablässig an die Oberfläche drängten.

»Komm, Sam braucht ein wenig Ruhe. Du kannst später noch einmal nach ihr sehen.« Er nahm ihn mir aus dem Arm und wandte sich ab. Gemeinsam begaben sie sich zur Tür, nur der stumme Begleiter verharrte nach wie vor an Ort und Stelle und betrachtete mich.

»Du heißt Sam?« Seine Stimme klang eindeutig misstrauisch und Kiljan stockte mitten in der Bewegung.

Ich hielt dem bohrenden Blick stand und nickte. »Und du?« Sämtliche Instinkte warnten mich. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck ließ mich wachsam innehalten.

»Mael«, antwortete er schlicht. Der Schock, als er seinen Namen nannte, fuhr mir heiß durch den Körper. Stumm betete ich zu allen Geistern und Ahnen, dass niemand meine Überraschung bemerkt hatte. »Kennen wir uns?«, schob er plötzlich hinterher.

Ich erwiderte seinen Blick, hoffentlich überzeugend genug, überaus irritiert. »Nein, sollten wir?« Unbewusst hielt ich den Atem an, bis er zögernd den Kopf schüttelte und sich schließlich abwandte.

Gemeinsam verließen sie das Zimmer und ich atmete erleichtert mehrmals tief durch. Leise fluchend zog ich meine Stiefel aus. Verdammt. Das hatte ich mir alles irgendwie viel einfacher vorgestellt. Ich hatte das Misstrauen eindeutig unterschätzt und musste mir nun eingestehen, dass ich zu sehr auf meine Rache fixiert gewesen war, statt mir ernsthafte Gedanken über einen vernünftigen Plan zu machen.

Das sieht mir gar nicht ähnlich.

Ich sank auf das Bett und schloss die Augen, konnte endlich meine Schmerzen zulassen und atmete zitternd ein und aus. Nun jedoch fluteten mich Bilder aus meinen Erinnerungen, und ich besaß nicht länger die Kraft, sie zurückzudrängen.

Die Sonne steht noch nicht hoch am Himmel, die meisten schlafen noch, doch ich laufe Kiljan hinterher.

»Komm schon, kleine Talil, beeil dich«, drängt er.

»Rian kommt aber gar nicht nach, wir sind viel zu schnell«, rufe ich zurück, laufe aber dennoch schneller und schließe zu ihm auf.

»Ich habe ihn nicht darum gebeten, uns zu begleiten. Ich möchte dir etwas zeigen.« Er läuft noch schneller, weiß, dass er mich damit nicht abschütteln kann. Rian jedoch wird zurückbleiben.

»Wir haben ihn schon gestern nicht mitgenommen«, sage ich. »Wir werden Ärger bekommen.«

Kiljan aber lässt sich nicht einschüchtern. »Mir egal.«

Schweigend laufen wir weiter und insgeheim genieße ich es, mit ihm allein zu sein. Doch das würde ich ihm niemals erzählen, denn er ist auch so schon eingebildet genug.

Plötzlich stocke ich und auch Kiljan wird langsamer. »Wir dürfen nicht ohne einen Erwachsenen an die Klippen«, sage ich und schaue mich um.

»Ich weiß«, antwortet er nur und grinst. Er nimmt meine Hand und zieht mich mit sich an den Klippenrand, während sich unsere Finger wie von allein ineinander verschränken. »Siehst du dahinten die Insel? Sie ist in Wirklichkeit viel, viel größer, auch wenn sie von hier aus so klein wirkt. Sie gehört mir, ich bekam sie von meiner Mutter geschenkt. Doch sobald du die Lebensbahn der Erwachsenen erreichst und eingewilligt hast, meine Gefährtin zu sein, schenke ich sie dir.« Er sieht zu der Insel, doch ich blicke zu ihm auf.

»Und wenn ich gar nicht deine Gefährtin sein möchte?«, frage ich lachend, aber er betrachtet mich plötzlich vollkommen ernst.

»Du wirst meine Gefährtin sein, kleine Talil, ich weiß es ganz bestimmt. Und dann bekommst du diese Insel von mir geschenkt, damit du sie, wie meine Ahnen, an unsere Tochter weitergeben kannst.« Ich runzle die Stirn, nicht sicher, ob ich wütend auf ihn bin, weil er ständig solche Sachen sagt.

»Da seid ihr ja«, ruft Rian, und ich befreie hastig meine Hand. Verärgert presst Kiljan die Lippen aufeinander, doch Rian scheint es gar nicht zu bemerken.

»Was machen wir jetzt?«, fragt er und sieht uns freudestrahlend an.

Ich mochte Rian damals unheimlich gern. Kiljan aber verfügte nur über sehr wenig freie Zeit, weil sein Vater ihn ständig zwang, zusätzlichen Unterricht bei einem Privatlehrer zu nehmen. Kiljan nutzte jede Möglichkeit, die wenigen Momente mit mir allein zu verbringen und schloss Rian immer mal wieder aus. Ich schüttelte den Kopf.

Mael, der große Bruder von Rian.

Ich ärgerte mich über mich selbst, darüber, dass ich ihn nicht erkannt hatte.

Auch ein Fehler.

Ich war mir zu sicher gewesen, dass ich alle wiedererkennen würde. Doch nun musste ich mir eingestehen, dass sechzehn Jahre anscheinend ein zu langer Zeitraum war.

Erinnere ich mich deswegen einfach nicht mehr an das Gesicht, das ich so verzweifelt suche?

Grübelnd übermannte mich schließlich der Schlaf.

Rache

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