Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 15

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End

Das Messer verfehlte mich knapp. Es wirbelte um Haaresbreite über meine Schulter hinweg und bohrte sich in den Stamm eines Baumes. Ich knurrte. War das ihr Dank?

Teenas Augen weiteten sich vor Schreck. Sie griff in die Tasche ihrer Leinenhose und holte jenes runde Fläschchen mit durchsichtiger Flüssigkeit hervor, mit dem sie mir schon bei unserer letzten Begegnung gedroht hatte. Es enthielt, wie ich mich erinnerte, ein Gift namens Vacuúm, dessen Dämpfe allein tödlich waren.

„Keinen Schritt …“ Weiter kam sie nicht. Wer den Tod nicht fürchtet, zögert nicht. Schon war ich bei ihr und schlug ihr das Fläschchen aus der Hand. Es wirbelte durch die Luft. Teena keuchte. Ich fing es mit der Linken und umschloss mit der Rechten ihren schlanken, braunen Hals. Mühelos hob ich sie hoch und drückte sie gegen einen Baumstamm. Ihre kleinen Hände zerrten an meinem schraubstockartigen Griff – vergeblich. Sie zückte ein zweites Messer und stach damit auf meinen Arm ein. Die Klinge schnitt durch meine Haut, schien jedoch einfach an den Muskeln darunter abzugleiten, als träfe sie auf blanken Stahl. Die Wunden bluteten kaum. Teenas Bewegungen wurden schwächer, das Messer entglitt ihren Fingern. Sie hob einen zitternden Arm – ihr Blick flackerte – und deutete mit ausgestrecktem Finger hinter mich. Ich wandte den Kopf, ohne sie loszulassen, und sah das Messer. Auf seiner silbernen Klinge steckte wie auf einem Bratspieß eine fette Spinne und zuckte mit ihren Kieferklauen. Teena hatte nicht versucht, mich zu töten.

Sie hatte mir das Leben gerettet.

Ich setzte sie auf ihre Füße und ließ sie los. Sie wankte. Ihre Beine gaben nach, und sie sank zu Boden. Ich kniete mich neben sie und bettete das Vacuúmfläschchen auf ein weiches Polster aus Moos zwischen zwei Wurzelsträngen. Anschließend hielt ich einen Finger unter Teenas Nase. Sie atmete. Schwach, aber sie lebte.

„Was kümmert dich die schwarze Schlampe?“, fragte Hunger. „Sie war es doch, die dich die Regeln des Unterrumpfes gelehrt hat. Töte sie. Und nimm das Peeerl, das sie bei sich hat.“ Die letzten Worte flüsterte er und seine Augen erglühten. Ich knurrte, packte das Fläschchen mit Vacuúm und holte zum Wurf aus …

Mitten in der Bewegung erstarrte ich. Hunger hatte die bandagierten Hände zu abwehrender Geste erhoben. Er lächelte spöttisch. „Bist du wirklich so dumm?“

Ich seufzte genervt und ließ den Arm sinken. Kurzerhand zückte ich mein Messer und schnitt einen kleinen Beutel, durch dessen Leder das Licht des Perls leuchtete, von Teenas Gürtel. Ich ließ ihn in die Tasche meiner abgewetzten Hose gleiten und erhob mich. Als ich ging, stöhnte Teena leise.

Die Nacht kehrte in den Wald ein. Ich erreichte den Strand, als die Sonne bereits halb im Meer versunken war. Auch für jemanden, der nicht Jahre lang in Dunkelheit gelebt hatte, war dies ein besonderer Anblick. Die See war dunkel, die Sonne ein flimmernder Feuerball. Der Himmel ein Lavameer, das gen Zenit zu einem dunklen Blau abkühlte. Darin funkelten Millionen kostbare Diamanten. Vorübergehend vergaß ich sogar das Verlangen nach Perl.

Ich ließ mich am Strand nieder und vom Anblick des Sonnenuntergangs gefangen nehmen. Zu meiner Rechten leuchteten die Lagerfeuer der Piraten. Ich hörte sie leise rufen, manchmal Gesang. Kein störender Lärm, eher einschläfernd. Gedankenverloren beobachtete ich einige Möwen, die als schwarze Silhouetten der untergehenden Sonne entgegenflogen. Bald war nur noch ein kleines Segment des flammenden Runds zu sehen, das – irrte ich? – in smaragdfarbenem Glanz erstrahlte. Dann hatte das Meer es vollends verschluckt. Noch lange zeichnete die Sonne Farben an den Himmel.

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Da lag ich und lauschte den Sternen. Der Sand wärmte mir den Rücken und der Geruch des Meeres füllte meinen Kopf. Ich war glücklich.

Die Piraten blieben mehrere Viertel auf der Vulkaninsel. Mücken zerstachen jeden Zentimeter meines Körpers. Das Sonnenlicht verbrannte mir die bleiche Haut. Es war ein guter Schmerz. Trotzdem verbrachte ich anschließend die meiste Zeit im Schutz des Regenwalds. Stets hielt ich nach giftigen Spinnen, Fröschen und Schlangen Ausschau. Ich ernährte mich von den Früchten, die dort wuchsen – von Bananen und Ananas, von Mango und Papaya, Kokosnüssen und Kiwis. Könnt ihr euch vorstellen, wie köstlich eine Frucht schmeckt, nachdem man jahrelang von Ratten, Rost und verschimmeltem Brot gelebt hat? Wie dem Verdurstenden ein Schluck klaren Wassers. Wie am Ende eines schwülen Tages die lindernde Kühle eines Gewitters. Wie … wie einem Gefangenen die Ferne.

Ich erinnerte mich an Vieles, das Fonti mich und Emily über den Regenwald gelehrt hatte. An die Bezeichnungen von Pflanzen, welche essbar waren, und wie man daraus Heilmittel herstellte. Ich sammelte einige und legte sie zum Trocknen in die Sonne. Ich erinnerte mich an die Namen von Tieren und welche gefährlich waren. Ich fing ein paar Frösche und machte aus ihren Häuten Beutel, in die ich die Kräuter steckte. Aus der Haut einer Schlange fertigte ich einen Gürtel.

Fonti hatte gut daran getan, mich auszubilden.

Doch wann immer ich eine Erinnerung aus meinem früheren Leben herüberholte, begleitete Hunger mich zurück in die Gegenwart. Er spottete über mich und meine Versuche, in das Leben außerhalb des Unterrumpfes zurückzufinden. Er drängte mich dazu, das Perl zu nehmen, das ich Teena gestohlen hatte, und erinnerte mich bei jeder Gelegenheit daran, dass ich eines Tages in den Rumpf der Swimming Island zurückkehren musste. Ich gab so selten wie nur möglich dem Verlangen nach, die Droge zu nehmen. Der Wechsel von Rausch und Verzicht verlieh mir übermenschliche Fähigkeiten. Ich war stark wie ein Bär, schnell und scharfsinnig. Ich sah das Perl auf hunderte Meter Entfernung. An manchen Tagen glühte der Rumpf der Swimming Island, als wäre er mit flüssigem Mondlicht gefüllt.

Ich versuchte mich abzulenken, indem ich durch den Regenwald streifte. Innerhalb von kurzer Zeit lernte ich, wie ein Affe durch die Baumkronen zu klettern. Hierhin, viele Meter über den Boden, konnte Hunger mir nicht folgen. So blieb ich von seiner Gesellschaft verschont, bis ich spätestens bei Sonnenuntergang auf den Boden zurückkehrte.

Die Nächte verbrachte ich am Strand. Im Unterrumpf hatte ich mir einen leichten Schlaf angewöhnt, sodass ich beim ersten Tageslicht erwachte, bevor die Sonne mir den Körper verbrannte.

Eines Nachts holte mich jedoch etwas aus dem Schlaf, lange bevor die Sonne aufging. Ich schlug die Augen auf und vor dem sternenklaren Himmel sah ich die schwarze Silhouette eines Mannes. In der Rechten hielt er ein Messer. Als er bemerkte, dass ich wach war, stach er zu. Ich war vor Schreck wie gelähmt … das würde ich jetzt wohl sagen, wenn ich nicht längst aufgehört hätte, um mein Leben zu bangen. Aber mein Verstand war eine rasiermesserscharfe Klinge, geschliffen von Furchtlosigkeit. Und Perl.

Ich riss den Arm hoch und schlug dem Meuchler das Messer aus der Hand. Die Klinge wirbelte durch die Luft und landete im Sand. Falls der Mann überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Ohne zu zögern packte er den Griff einer Pistole, der aus seinem Gürtel ragte. Ich rollte mich blitzartig zur Seite – keine Sekunde zu früh. Es knallte, und Sand spritzte auf. Ich sprang auf die Beine. Der Meuchler zielte erneut. Ohne zu zögern, rammte ich ihm die Faust ins Gesicht. Seine Nase knirschte. Blut spritzte. Die Wucht meines Treffers war so heftig, dass es den Mann nach hinten warf. Er schlug mit dem Kopf an einen Stein und blieb bewusstlos liegen.

Hinter mir lachte jemand. „Genug gespielt.“ Ich wirbelte herum. Dort standen zwei weitere Männer. Einer von ihnen hatte den Lauf seiner Pistole auf mich gerichtet. Ich ließ mich augenblicklich nach hinten fallen. Wieder ein Schuss. Ich konnte den Luftzug des Projektils spüren, das um Haaresbreite über mein Gesicht hinweg pfiff. Ich vergrub meine Rechte im feinen Sand und schleuderte den beiden Männern eine Handvoll davon ins Gesicht. Sie fluchten. Ich rollte mich zur Seite. Noch ein Schuss. Sand spritzte auf. Ich kam auf die Beine und stürzte mich auf sie. Schlug dem Ersten die Pistole aus der Hand und rammte dem Zweiten die Faust in den Magen, sodass er den Säbel fallen ließ, den er gerade gezückt hatte. Ich packte sie beide am Hals und hob sie hoch – ebenso mühelos wie Teena. Ich knurrte. Sie würgten und zerrten an meinen Händen. Die Augen quollen ihnen aus den Höhlen. Fast gleichzeitig zogen die beiden Messer aus ihren Gürteln. Ich beugte die Arme und stieß die Männer von mir. Sie landeten rücklings im Sand und hielten sich hustend und würgend die Hälse. Ich hob die Pistole auf, zielte auf das Gesicht des Einen und stellte dem Anderen einen Fuß auf die Brust.

„Warum wollt ihr mich töten?“, fragte ich mit einer Stimme, die weder Gnade noch Grausamkeit verhieß. Die Männer schwiegen. Ich bemerkte den fahrigen Blick desjenigen, dem ich den Fuß auf die Brust gestellt hatte.

„Eine Bewegung und ich schieß deinem Freund das Hirn raus.“ Ich richtete den Blick auf den Anderen. „Keine Antwort in den nächsten fünf Sekunden und ich schieß dir das Hirn raus.“

„Franco hat uns geschickt“, keuchte er. „Bitte nicht schießen.“

„Wer ist dieser Franco?“

„Franco … ist eben Franco. Unser Boss.“

Der Mann, dem ich den Fuß auf die Brust gestellt hatte, streckte jäh den Arm aus und vergrub seine Hand im weißen Sand, wohl um es mir gleich zu tun und ihn mir in die Augen zu streuen. Ich richtete den Lauf des Revolvers auf sein Gesicht und feuerte. Sein Körper erschlaffte. Sein Blut sprenkelte die Wange des Anderen. Der Mann fluchte. Sein ganzer Körper versteifte sich, während er gegen das Verlangen ankämpfte, aufzuspringen und wegzulaufen.

„Wenn du wie ein Hase im Zickzack läufst, schaffst du es vielleicht“, sagte ich kühl. „Oder du sagst mir einfach, was ich wissen will. Warum will dieser Franco mich tot sehen?“

„Weil du unseren Dealer ermordet hast, Mann. Er gehörte zu unserer Bande.“

Ich ließ die Waffe sinken und lächelte freudlos. „Danke. War doch gar nicht so schwer. Jetzt mach, dass du wegkommst.“ Das ließ der Mann sich nicht zweimal sagen. Er rappelte sich auf und rannte davon. Ich durchsuchte den Toten und den Bewusstlosen und erweiterte meine persönliche Habe um zwei Revolver, ein Messer – die einzige Klinge, die mehr aus Stahl denn aus Rost bestand – sowie ein paar Zigaretten. Außerdem fand ich mehr und minder kostbare Gewürze und zwei Kugeln Perl. Anschließend zog ich mich zum Waldrand zurück, wo ich drei Zigaretten hintereinander rauchte. Ich hatte lange kein Perl mehr genommen und der Tabak half, dem Drang jetzt nicht nachzugeben. Ich dachte lange nach. Bei Sonnenaufgang hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich ließ mich vom Geflüster der Bäume zu der Stelle führen, wo ich den Flammenwerfer und den Bärenpelzmantel versteckt hatte. Ich rüstete mir die Waffe an und verbarg sie unter dem Pelz. Dann ging ich auf direktem Wege in das Lager der Piraten. Viele Köpfe wandten sich mir zu, während ich zwischen den Holzhütten und Lederzelten durchging. Der Geruch von Schnaps, Tabak und gebratenem Fisch mischte sich hier mit dem Salzaroma des Meeres. Die Klänge einer Ziehharmonika schlängelten sich durch das Lager.

Nach einer Weile fand ich den Metzger. Er stand über eine Holzbank gebeugt und zerhackte mit seinem Beil einen riesigen Paradiesvogel. Als ich mich näherte, blickte er auf. Er grunzte und setzte seine Arbeit grußlos fort.

„Wo finde ich Franco?“, fragte ich.

„Warum sollte ich dir das sagen?“

Ich runzelte die Stirn. „Sagst du es mir oder nicht?“, fragte ich kühl.

„Zieh Leine.“

Ich wandte mich um und sah mich jäh Chemo gegenüber. Seine geschmolzene Gesichtshaut und der irre Glanz in seinem Blick machten ihn unverkennbar. Nur das Grinsen fehlte.

„Das bist doch duuu“, sagte er. Seine Stimme ähnelte der eines jungen Draufgängers, der einem seiner jüngeren Opfer begegnete. Er neigte den Kopf und blickte an mir vorbei zum Metzger. „Ist er dein Freund, Mario?“

„Wenn noch mehr Müll aus deinem Mund kommt, verstopf ich ihn mit meiner Faust“, entgegnete der Metzger grob.

Chemos Grinsen wurde breiter. Sein Blick richtete sich wieder auf mich. „Du bist groß geworden, Junge. Und stark. Hast den Unterrumpf überlebt, Hut ab, und einen Weg hinaus gefunden. Aber dein Leben endet hier. Ich habe damals geschworen, mir aus deinen Eingeweiden einen Halsschmuck zu machen.“ Er zückte ein Messer mit gezackter Klinge. Das Metall blitzte im Licht der aufgehenden Sonne.

Ich aber hatte nur Augen für sein Gesicht. Sein verhasstes, entstelltes Gesicht. Er war schuld an meinem Elend. Er hatte mich damals in den Unterrumpf gehetzt. Dafür sollte er bezahlen. Ich ballte die linke Hand zur Faust. Ich war drauf und dran, ihn den Atem des Flammenwerfers spüren zu lassen. Aber ich wollte nicht, dass die Piraten von der Waffe erfuhren. Sie war mein Ass im Ärmel.

„Gehörst du zu Franco?“

Chemo schnaubte. „Was kümmert es dich?“

„Ich habe ihn verärgert, weil ich seinen Dealer getötet habe. Ich möchte es mir nicht völlig mit ihm verderben, indem ich auch noch dich kaltmache.“

Chemo lachte ungläubig auf. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Hört ihn euch an. Ist er nicht süß?“

Ich ging auf ihn zu. Ruhigen Schrittes. Ein alarmierter Ausdruck trat auf Chemos Gesicht. Das Lächeln fiel von ihm ab. Er wich zurück …

„Oh, bist du böse? Hab ich was Gemeines gesagt?“ Seine Stimme hatte einen furchtbar nervig entschuldigenden Tonfall angenommen. Wieder juckte es mir in den Fingern, ihn in ein Kleid aus Flammen zu hüllen. „Tu mir nicht weh. Ich hab es nicht so gemeint. HA!“ Jäh sprang er vor und stach zu. Ich rührte mich nicht. Erst im letzten Moment drehte ich meinen Körper, und die Klinge ging ins Leere. Ich hob den Arm, um meinem Gegner den Ellenbogen gegen die Schläfe zu donnern. Aber Chemo war schneller. Er ließ sich zur Seite fallen und rettete sich mit einer eleganten Drehung aus seiner misslichen Lage. Ein wölfisches Grinsen stahl sich auf seine Lippen.

„Ich bin entzückt“, sagte er. „Du hast Tanzen gelernt.“ Er zog eine Machete aus dem Gürtel und ließ sie einmal in der Hand kreisen. „Mal sehen, ob du Espada tanzen kannst.“ Die Luft fauchte, als er sie probehalber mit der Klinge durchschnitt. Sein Grinsen wurde noch breiter, und er stürmte vor. Nun war es an mir, zurückzuweichen. Chemos Streiche folgten schnell. Auf und ab, sodass es mir nicht möglich war, zu ihm durchzukommen. Inzwischen hatte sich eine Menge um uns gebildet. Die Piraten lachten und feuerten uns an.

Der irre Pirat lachte ebenfalls.

Ich verzog keine Miene. Schließlich stieß ich mit den Hacken gegen die Rückwand einer Holzhütte. Chemos Augen blitzten. Seine Machete fuhr auf mich hinab.

Ich lehnte mich nur ein kleines Stück zur Seite. Die Klinge verfehlte mich und bohrte sich in die Hüttenwand. Chemo überwand seine Überraschung schnell, jedoch nicht seinen Zorn. Anstatt mit dem Messer auf mich einzustechen, grunzte er wütend und zerrte am Griff der Machete. Ich ließ den Kopf vorschnellen und rammte ihm die Stirn ins Gesicht. Seine Nase gab ein Geräusch von sich wie Schnee unter einem Stiefel. Er stolperte rückwärts und fiel. Das Messer glitt ihm aus der Hand. Die Piraten umher jubelten und lachten. Manche applaudierten. Ich bemerkte Mario in der Menge, der mit verschränkten Armen dastand. Neben ihm Teena, die in Gegenwart des Hünen noch kleiner wirkte. Und daneben Sam, unverkennbar durch ihr strohblondes Haar, das nur auf einer Seite ihres Kopfes herabfiel. Auch sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, doch sie lächelte milde.

Ich stellte Chemo einen Fuß auf die Brust und beugte mich zu ihm hinab. „Du bleibst am Leben. Aber nur, weil ich immer noch nicht weiß, ob du für Franco arbeitest.“ Chemo antwortete nicht. Er hatte beide Hände auf die Nase gedrückt und funkelte mich aus tränenden Augen heraus an. „Deine Machete behalte ich. Sie sieht teuer aus. Eine kleine Entschädigung sozusagen.“ Ich zog die Waffe mühelos aus der Hüttenwand und klemmte sie in den Schlangengürtel. Dann wandte ich mich der Menge zu, die im Begriff war, sich aufzulösen.

„Wo finde ich Franco?“, rief ich laut.

„In der Hütte beim spitzen Felsen dort“, meinte ein Pirat, der weniger Zähne im Mund hatte als Finger an seinen Händen.

Ich nickte zum Zeichen des Danks und verließ den Schauplatz.

„Aye“, hörte ich Sam zu Mario sagen, als ich an ihr vorbeiging. „Nimm dich vor diesem Malaka in Acht. Er kämpft mit der Ruhe eines Mannes, der den Tod nicht fürchtet.“ Sie rollte das „R“ beim Sprechen.

Mario grunzte zur Antwort.

Vor der Hütte, die der zahnlose Pirat mir beschrieben hatte, erwarteten mich zwei Wächter.

„Ich möchte zu Franco“, sagte ich.

„Und ich möchte die Königin von Dustrien ficken“, meinte einer der Wächter gedehnt. „Arrangier das, Bursche, und ich lass dich rein.“

„Ich habe …“

„Hör zu, Junge. Wenn du dich nicht innerhalb der nächsten zehn Sekunden verziehst, schneide ich dir den Schwanz ab.“ Er lächelte böse. „Haben wir uns verstanden?“ Ich schwieg. „Zehn … neun …“

Die Tür zu Francos Hütte ging auf. „Hat mich jemand gerufen?“

Der Wächter verdrehte die Augen und wandte sich um. „Nein, Boss. Der Bursche hier will aufmucken.“ Ich sah gleich, warum Franco der Kopf der Bande war. Er war groß mit breiten Schultern. Unzählige Narben entstellten seine Haut. Er hatte einen gewaltigen Schnauzbart. Das schmutzige Haar hing in fettigen Strähnen über seinen Schultern. Er hatte Perlen, Muscheln und andere Dinge hinein geflochten, die – da war ich mir sicher – sich schon lange nicht mehr daraus befreien ließen.

Franco musterte mich.

„Du bist der, der aus dem Unterrumpf gekommen ist“, stellte er fest. „Der meinen Dealer getötet hat. Wie hast du ihn so zugerichtet? Hast du ihn angezündet, nachdem du ihn abgestochen hast?“ Ich hielt seinem Blick mit furchtloser Miene stand und schwieg. „Und jetzt hast du auch noch Trepper ermordet.“

„Ist es schade um ihn? Deine Männer haben es vermasselt, mich zu töten, als ich ihnen unbewaffnet und schlafend ausgeliefert war. Sie waren zu dritt.“

Franco kratzte sich gelangweilt im Schritt. „Du hast zwei meiner Männer auf dem Gewissen. Dafür wirst du bezahlen.“

„Ich kann dich auf andere Weise entschädigen.“

Franco hob die Brauen. „Was hast du zu bieten?“

„Ich kann töten.“

Ein spöttisches Schnauben war die Antwort. „Männer von der Sorte habe ich genug.“

„Du meinst die, die du auf mich losgelassen hast?“

„Du wirst sterben, Junge.“ Franco gab den Wächtern einen Wink, woraufhin sie ihre Macheten zogen. Unter dem Ärmel meines Umhangs legte ich die Hand auf den Abzug des Flammenwerfers.

„Was hast du zu verlieren?“, frage ich. „Schlimmstenfalls sterbe ich bei dem Versuch, einen deiner Aufträge auszuführen. Im besten Fall hast du einen Killer für deine Bande gewonnen. Einen, der den Unterrumpf überlebt hat. Einen, der den Pelz getötet hat.“

Francos Augen weiteten sich, als bemerke er erst jetzt den Umhang, der um meine Schultern lag. Offenbar war der Name des Bären auch an Deck der Swimming Island bekannt. Er hob die Hand, und die Wächter hielten inne.

„Du bist der, den sie den Perlkönig nennen?“ Er musterte mich einen Moment lang nachdenklich. „Also gut, Junge. Arbeite für mich.“

„Ich habe Bedingungen.“ Franco hob die narbengespickten Brauen. „Solange ich für dich arbeite, stehe ich unter deinem Schutz. Ich bekomme drei Mahlzeiten pro Tag. Und eine Kugel Perl an jedem Zahltag.“

Franco bleckte die Zähne. „Du stehst in meiner Schuld, Junge. Die ersten beiden Morde bekomme ich umsonst. Ab dann stehst du unter meinem Schutz und bekommst deine Mahlzeiten. Das Perl kannst du vergessen. Ich dulde keinen Junkie in meiner Bande.“

„Also gut“, knurrte ich. Der Perlentzug machte mich reizbar. Franco spuckte sich in die Hand, und ich ergriff sie.

Nach Sonnenuntergang dieses Tages suchte Mario, der Metzger, mich am Strand auf. Ich hatte mich weit vom Piratenlager entfernt, um mich dort zur Ruhe zu legen. Die jüngste Begegnung mit Francos Handlangern hatte mich vorsichtig werden lassen. Mario näherte sich mir im Schutz des Waldes. Trotzdem bemerkte ich ihn, lange bevor er auf den mondbeschienenen Strand hinaustrat.

„Als ich sagte, du sollst dir Freunde suchen, meinte ich nicht mich“, sagte er grußlos. „Grundsätzlich habe ich nichts gegen dich, Junge. Aber zwischen unserer Bande und Franco herrscht ausnahmsweise Waffenstillsand. Und offenbar hat Franco was gegen dich. Ich möchte diesen Frieden nicht aufs Spiel setzen, indem ich mich mit dir anfreunde.“

„Du kannst beruhigt sein“, sagte ich. „Ich arbeite jetzt für Franco.“

Marios Blick verfinsterte sich. „So? Du scheinst deinen Platz auf diesem Schiff gefunden zu haben, Junge. Viel Glück.“

Ich denke oft, dass ich die Vulkaninsel nie hätte verlassen dürfen. Das Grün des Waldes war Balsam für meine Seele. Ich erfuhr, dass die Piraten sich an abgelegene Orte wie diesen zurückzogen, um für einige Zeit abzutauchen. Bis die Königreiche ihre Patrouillen auf See zurückzogen, und die Händler es wagten, ihre Routen wieder zu fahren. Ich hatte meine letzte Kugel Perl schon vor einer Weile aufgebraucht, als Black Raven höchstselbst auf das Dach einer Hütte kletterte und verkündete, dass sie binnen vierundzwanzig Stunden ablegen würden. Es war das erste Mal, dass ich den Kapitän der Swimming Island sah. Er unterschied sich in seinem Aussehen nicht wesentlich von einem Mann wie Franco. Doch blickte man in seine schwarzen Augen, bekam man es mit der Angst zu tun. Man war froh, in der Menge zu stehen wie ein Schaf, das sich in der Herde in Sicherheit wähnte. Die Kälte in Ravens Augen ließ keinen Zweifel, dass er auf Ungehorsam nur eine Antwort kannte: Den Tod.

Die Furcht, die der Mann verströmte, umgab ihn wie eine schützende Rüstung. Er schritt so kühn durch das Lager, als wäre er unverwundbar. Die Männer senkten den Blick, wenn er vorüberging. Große Männer. Männer mit Armen wie Baumstämme. Männer, die tödliche Waffen bei sich trugen. Sie grüßten ihn mit respektvoller Stimme. Sie wichen ihm aus.

Am nächsten Tag kehrte ich wie alle anderen an Bord der Swimming Island zurück. Ich saß in einem der Boote. Inzwischen zitterte ich am ganzen Leib. Mein Herz raste. Ich gierte nach Perl.

Auch Hunger sah nicht gut aus. Sein Gesicht war unrasiert, seine Augen blutunterlaufen und er atmete hörbar.

„Du wirst als erstes den Eingang zum Neulingsschacht suchen“, sagte er mit bebender Stimme. „Hörst du?“ Der Neulingsschacht war eine Art Rutsche, durch die regelmäßig Bewohner in den Unterrumpf gelangt waren. Mitglieder von Ravens Crew, die man bestraft hatte oder die einfach Pech gehabt hatten. Vier von fünf Neulingen hatten nicht länger als zwei Viertel im Unterrumpf überlebt. Viele waren direkt an der Schachtmündung der Rutsche ermordet und geplündert worden.

„Du kannst dir Perl besorgen und den Rumpf einfach wieder verlassen“, fuhr Hunger fort. Dunkle Schweißflecken zeichneten sich unter seinen Armen ab. „Du bist der Perlkönig. Wer sollte dich aufhalten?“

„Ich gehe nicht zurück“, murmelte ich verbissen. Die Insassen des Bootes warfen mir misstrauische Blicke zu.

„Rede keinen Unsinn“, keifte Hunger. „Wir wissen beide, dass du es keine Sekunde länger aushältst.“

Ich sah zum Rumpf der Swimmung Island. Hunger hatte Recht. Das Perl hinter der gepanzerten Wand pulsierte so hell, dass es zu einem einzigen, silbernen Licht verschmolz.

Gib es mir

Gib es mir

Ich erschauerte.

Unser Boot wurde von einem Kran auf Höhe des Decks angehoben. Zuallererst suchte ich ein geeignetes Versteck für den Flammenwerfer. In meinem Zustand war es nicht klug, ihn bei mir zu tragen. Anschließend lief ich ziellos umher. Ich holte eine Zigarette hervor – meine zehnte heute – und zündete sie an. Meine zitternden Finger konnten kaum den dünnen Stängel halten. Indessen huschte Hunger umher auf der Suche nach dem Neulingsschacht. Er verschwand hinter einem Schiffsaufbau, nur um sogleich hinter einem anderen wieder aufzutauchen.

„Wo ist dieser Schacht?“, sagte er in immer drängenderem Tonfall. „Wo, wo, wo?“

Kaum gewahr, wo ich hinlief, rempelte ich einen Piraten an. „Pass doch auf“, blaffte er.

„Gefunden!“, rief Hunger triumphal. Er stand vor einer eckigen Schachtöffnung, die aus einem der Aufbauten ragte. „Gefunden! Hier ist er! Rein, geh rein, und hol es dir.“

„Halt den Mund …“, murmelte ich mit mühsam beherrschter Stimme.

„Wie bitte?“, fragte der Pirat und packte den Griff seines Säbels.

„Rein, geh rein, losloslos, da unten ist es, geh rein …“

„Ich sagte: HALT DEN MUND!“ Viele Gesichter wandten sich mir zu.

Der Pirat zog den Säbel. „Du hast es so gewollt“, knurrte er.

Hunger fing an zu schreien. Seine blutunterlaufenen Augen glühten. Er verschwand an Ort und Stelle und tauchte hinter dem Piraten wieder auf. In den Händen hielt er ein Messer – mein Messer! Er riss den Kopf des Piraten in den Nacken und schlitzte ihm die Kehle auf.

Unmöglich! Er war nur eine Halluzination, eine Ausgeburt meines kranken Verstands.

Ich blinzelte.

Jäh war ich an Hungers Stelle. Das Blut meines Opfers strömte mir über die Hände. Ich wich zurück und starrte den Mann an, der röchelnd vor mir zusammenbrach. Ich war mehr irritiert denn entsetzt. Was von alledem war noch real? Ich betrachtete meine Handrücken. Die Adern traten dick hervor. Ich spürte eine unsägliche Kraft wie damals, als ich das schwarze Perl genommen hatte, doch wurde sie nun von dem noch größeren Verlangen nach der Droge begleitet.

Weitere Piraten zogen ihre Waffen.

„Er dreht durch.“

Eine Pistole klickte. Ich hob den Blick. Mir war klar, dass ich nicht schnell genug reagieren können würde. Hunger hingegen konnte es. Schon stand er vor dem Schützen und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Er packte seinen Kopf mit beiden Händen und brach ihm mit einem Ruck das Genick. Und erneut fand ich mich an seiner Stelle wieder.

Tumult brach aus. Die Piraten stürzten sich auf uns oder flohen. Ich zückte Chemos Machete und hackte damit auf den nächsten Widersacher ein. Ich tötete zwei Männer und schlug einem dritten aufs Auge. Der Mann taumelte rückwärts. Erst jetzt bemerkte ich, dass es Chemo war. Er kämpfte sichtlich gegen die Benommenheit an, die mein Schlag ausgelöst hatte. Ich warf die Machete weg, packte ihn um die Körpermitte und hob ihn so mühelos über den Kopf wie eine Stoffpuppe. Vergeblich versuchte er sich aus meinem Griff zu befreien. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse. Ich wollte ihn über die Reling werfen. Da fiel mein Blick auf die Öffnung des Neulingsschachts und ich warf Chemo hinein. Der irre Pirat verschwand schreiend in der Tiefe.

„Hinterher“, brüllte Hunger. „Er wird sich das Perl holen, das dir zusteht!“

„Ich gehe nicht wieder zurück!“, schrie ich.

Inzwischen hatte man einen Kreis um uns gebildet. Ich sah viele Pistolenmündungen auf mich gerichtet. Es gab, glaube ich, zwei Gründe, warum man mich nicht längst erschossen hatte. Zum einen bestand das Risiko, mich zu verfehlen und jemand anderes zu treffen. Zum anderen war ich eine Art Kuriosität. Ein Tier, das zwar gefährlich, aber zu exotisch war, um es zu töten.

Da ertönte das helle Lachen einer Frau. Sam drängte sich zwischen den Piraten hindurch und betrat den Ring. „Gerade wollte ich dich töten“, sagte sie, „da wirfst du Chemo in diesen Schacht. Nein, das ist zu komisch.“ Sie schien keine Angst vor mir zu haben. Wirkte lediglich belustigt. „Ich lasse dir dein Leben.“ Ihre Augen blitzten kampflustig. „Komm her, Malaka. Du bist stark, aber ich werde dir jetzt eine Lektion erteilen.“

Ich knurrte und ballte die Hände zu Fäusten. Sam stand genau zwischen mir und dem Eingang zum Neulingsschacht. Hunger schrie. Töte sie! Töte sie!

Ich trat auf sie zu. Unermessliche Kraft pulsierte in meinen Muskeln. Ich wollte sie zermalmen! Mein Faustschlag kam mit solcher Geschwindigkeit, dass sie ihn unmöglich sehen konnte.

Aber sie sah ihn. Sie wich ihm aus und flog mit einer eleganten Drehung, fast wie beim Tanz, an mir vorbei. Ihr langes Haar kitzelte meine Wange. Als ich mich zu ihr umwandte, zierte ein verspieltes Lächeln ihre Lippen.

Sie bedeutete mir, es erneut zu versuchen. „Ella, Malaka. War das alles?“ In den Reihen der Piraten ertönte verhaltenes Lachen.

Dann tauchte Hunger hinter Sam auf. Er hielt mein Messer in der Hand, bereit, es Sam in den Rücken zu stoßen. Sam drehte sich so schnell herum, dass ihre Umrisse verschwammen. Sie hatte ein Messer gezogen und donnerte das Heft gegen Hungers Schläfe.

Greller Schmerz explodierte vor meinen Augen. Ich fand mich zu Sams Füßen wieder.

„Netter Versuch, Malaka.“ Sie fasste mein langes Haar und zog mich daran auf die Beine. Die Welt drehte sich, und mir wurde übel. Sams Gesicht kam dem meinen so nahe, dass ich ihren Atem riechen konnte. „Du bist gut. So gut, dass ich diesen Kampf jetzt beenden muss.“ Sie stieß mich von sich, und ich taumelte rückwärts geradewegs gegen den dicken Bauch eines Piraten. Marios Bauch. Ich hatte noch die Zeit, ihm ins Gesicht zu sehen, ehe er sagte: „Schlafenszeit“ und mich mit einem einzigen Schlag ausknockte.

Ich erwachte kurz, als man meinen erschlafften Körper vor jemandes Füße warf.

„Was soll das?“ Das war Francos Stimme.

„Er sagte, er arbeitet für dich“, knurrte Mario. „Betrachte es als unseren guten Willen, dass wir ihn nicht getötet haben.“ Ich wurde wieder bewusstlos.

Als ich erwachte, schwebte ich auf einer Trage über das Deck der Swimming Island. Der Rahmen einer Tür glitt über mich hinweg, und das Sonnenlicht verschwand. Brachte man mich in den Unterrumpf?

„Nein.“ Ich lallte, als wäre ich betrunken. Ich hob den Kopf. Augenblicklich erfasste mich Schwindel und wieder verlor ich das Bewusstsein.

Das nächste Mal holte mich eine vertraute Stimme zurück. „Godric? Mein König?“

Ich blinzelte. Über mir schwebte das Gesicht von Limbania. Mutter der Ratten. Ich wollte antworten, aber mein Kopf war leer.

„Ihr habt ihm ganz schön zugesetzt“, sagte Limbania. „Schädel-Hirn-Trauma.“

„Nicht wir“, brummte Franco.

„Geht. Kommt in drei Tagen wieder.“

„Du sollst ihn nicht bloß heilen, Limbania. Es gibt da noch eine andere Sache, um die du dich kümmern musst.“

„Denkst du, das weiß ich nicht? Geht!“

Schritte entfernten sich, und eine Tür fiel ins Schloss. Limbanias Gesicht tauchte wieder über mir auf. „Mein armer Kleiner.“ Sie strich mir durchs Haar, wie Emily es früher getan hatte. „Ich weiß, was in dir vorgeht. Ein böser Geist verfolgt dich. Das schwarze Perl gab ihm die Kraft, dich bis ins Sonnenlicht zu begleiten.“ Sie lächelte und offenbarte ihre nadelspitzen Zähne. „Ich werde ihn vertreiben. Aber du wirst dafür bezahlen.“ Sie wandte sich ab und verschwand im angrenzenden Zimmer. Unter großer Anstrengung drehte ich den Kopf. Mein Blick fiel als erstes auf den Spiegel und traf den meines Ebenbildes.

Es lächelte.

„Nein“, flüsterte ich.

Mein Spiegelbild stieg aus dem Bett. Ich versuchte mich aufzusetzen. Schwindel erfasste mich, und für einen Moment trat ich weg. Als ich wieder zu mir kam, war mein Spiegel-Ich im Begriff, durch das Glas zu treten. Es streckte seinen Arm hindurch, und der Spiegel warf Wellen wie die Oberfläche eines Sees. In den Augen meiner selbst funkelte die Mordlust. Mir wurde heiß.

„Limbania.“ Meine Stimme war ein raues Flüstern. „Limbania.“

Mein Ebenbild betrat vollends die Kammer. Kurz blickte es an sich herab, als könne es nicht glauben, seinem Gefängnis entkommen zu sein. War das alles eine Halluzination? Es trat vor das Bett, in dem ich lag. Ich blickte zu ihm auf, die Augen weit aufgerissen. Sein Lächeln war beinahe liebevoll. Sein Blick dunkel und kalt. Ich fürchtete mich nicht vor dem Tod, wohl aber vor mir selbst. Mein Ebenbild zog ein Messer.

„Limbania!“ Nicht ich hatte gerufen. Ich blickte zum Regal. War der Schrumpfkopf zum Leben erwacht?

„Was ist?“ Mein Spiegelbild raste an seinen angestammten Platz zurück. Eine Sekunde später betrat Limbania die Kammer. In der Hand hielt sie eine winzige Schale mit gelbem Brei. Sie ging vor mir in die Hocke. „Iss das, mein König.“ Der Brei schmeckte wie faule Eier. Aber im Unterrumpf hatte ich schon weitaus widerwärtigere Dinge mit Appetit verschlungen. Gehorsam aß ich, was sie mir verabreichte, und versank in tiefem Schlaf.

Ich träumte von einem Birkenwald. In der Nähe einer Stadt mit roten Dächern. Die Strahlen der tief stehenden Sonne wärmten mein Gesicht. Grillenzirpen füllte die Luft. Eine Böe strich mir durchs Haar und trug den Geruch des Meeres heran, und die Birken flüsterten durcheinander.

„Ich kenne diesen Ort“, sagte ich zu mir selbst.

„Es ist deine Erinnerung.“ Es war, als hätte Limbania schon die ganze Zeit neben mir gestanden.

„Unmöglich.“ Ich ging in die Hocke und berührte die Samen eines Grashalms. Es waren acht. „Ich habe ein gutes Gedächtnis, aber kein so gutes.“

„Lass dich nicht täuschen. Woran du dich nicht erinnerst, erfindet dein Gehirn dazu.“

Ein Ruf ertönte. „Komm zurück, Emily. Signore Fonti sagte, wir sollen diese Aufgaben bis morgen gelöst haben.“

Die Silhouette eines Mädchens tauchte über der nächsten Hügelkuppe auf. Haar und Rock wehten hinter ihr her, als sie auf die Birken zulief. Ihr folgte ein magerer Junge, der große Schwierigkeiten hatte, mit ihr Schritt zu halten.

„Na und?“, rief das Mädchen. „Die erledigen wir doch in Nullkommanichts. Es ist ein wunderschöner Tag. Bis die Sonne untergeht, können wir den Bäumen lauschen.“ Emily erreichte den Birkenwald und ließ sich an dessen Rand im Gras nieder. Der Junge legte sich wortlos neben sie, sodass sich ihre Köpfe fast berührten.

Ich ging zu ihnen. Eine Zeit lang stand ich bloß da und betrachtete das Gesicht, das einst mein eigenes gewesen war. Rund und rosig und narbenlos. Die Augen voller Lebensfreude.

„Komm“, sagte Limbania leise und fasste mich am Unterarm. Mit sanfter Gewalt zog sie mich fort.

„Wohin gehen wir?“

„Das siehst du gleich.“

Wir taten nur drei Schritte. Die Hügel lagen hinter uns, und wir standen auf den Straßen der Stadt. Hier wurde meine Erinnerung blasser, die Umrisse aller Dinge unschärfer. Limbania öffnete die Tür eines Hauses, und dahinter kam ein dunkler Gang zum Vorschein. Mit einem Nicken forderte sie mich auf, einzutreten. Ich erwiderte ihren Blick und schüttelte den Kopf.

„Es ist nicht der Unterrumpf“, sagte Limbania. „Es ist nur eine Erinnerung. Der einzige Weg zurück in die Gegenwart.“ Ich holte tief Luft, straffte die Schultern und trat ein.

In meiner Erinnerung war der Unterrumpf wie in meinen Albträumen. Ein undurchsichtiges Gewirr dunkler Gänge und enger Räume. Nur jene Orte, die ich oft besucht hatte, sah ich klar. Wie jene Kammer über dem Maschinenraum. Irres Geschrei hallte durch die Gänge. Stetes Tropfen begleitete es. Rattenfiepen und das Knarren von Stahlträgern. Es roch nach Eisen, nach Rost und Blut.

„Du hast gelogen.“ Ich blieb abrupt stehen. „Lass mich zurück.“

„Es gibt kein Zurück.“

„Limbania, ich werde dir den Hals umdrehen …“

„Vertrau mir. Hier entlang.“ Sie führte mich durch einen Gang, eine Treppe hoch, durch ein Loch in der Wand und eine Leiter hinauf. Während wir dem Verlauf eines breiten Hauptganges folgten, bemerkte ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln.

„Wir werden verfolgt“, murmelte ich.

Limbania nickte und schwieg.

Wir gingen weiter und gelangten vor eine Tür. Die Dealertür.

„Sie ist verschlossen.“ Limbania ignorierte meine Worte und belehrte mich eines Besseren. Hinter der Tür führte eine Brücke zum Deck der Swimming Island. Das Holz knarrte unter unseren Füßen. Auf der anderen Seite bedeutete Limbania mir, mich umzudrehen. Unser Verfolger stand dort im Rahmen der Tür. Die Dunkelheit verbarg ihn, doch ich erkannte den Zylinder.

„Hunger …“

„Er folgt dir, wann immer du eine Erinnerung aus deinem alten Leben mitnimmst. Du kannst dem ein Ende bereiten.“ Limbania reichte mir eine Axt, die sie scheinbar aus dem Nichts geholt hatte.

„Ich soll ihn töten?“

„Das würde dir nicht gelingen. Zerstör die Brücke.“

Als ich die Axt hob, legte Limbania mir eine Hand auf den Arm. „Warte. Du solltest wissen, dass du auch den Weg zu deinen Erinnerungen an das Leben vor dem Unterrumpf zerstörst.“

Ich ließ die Arme sinken. „Ich werde mich an nichts erinnern?“

„An das wenigste.“

„Emily?“

„An sie vermutlich schon. Nicht dein Kopf sondern dein Herz erinnert sich an sie.“

„Und wenn ich die Brücke nicht zerstöre?“

„Wird er dir folgen“, sagte Limbania, „und dir das Leben zur Hölle machen.“

Ich betrachtete nachdenklich die Brücke. „Fonti hat mir Vieles beigebracht.“

„Deine Erinnerungen sind nicht für immer verloren. Du kannst sie nicht mehr finden, aber wenn du geduldig bist, finden sie dich.“

Ich nickte. Hob die Axt und schlug sie krachend ins Holz. Nach nur wenigen Streichen stürzte die Brücke ins dunkle Wasser. „Auf Nimmerwiedersehen“, sagte ich zu Hunger und lüftete einen unsichtbaren Hut, als der Traum sich schon aufzulösen begann.

„Er erwacht. Ich hole Franco.“

Als ich die Augen öffnete, stand Franco schon über mir. „Raus hier. Ich möchte mit ihm allein reden.“ Eine Tür fiel knallend ins Schloss.

Ich setzte mich auf und sah mich um. Ich war nicht mehr in Limbanias Versteck, auch nicht mehr im Unterrumpf. Tageslicht fiel durch ein Fenster. Ich lag in einem riesigen Bett, an dessen Fußende eine Kleidertruhe stand. Gemälde nackter Frauen zierten die Wände.

„Du bist in meiner Kammer.“ Franco ließ sich auf einem Stuhl nieder. Kurz schwieg er, weil er wohl erwartete, dass ich etwas sagte. Doch ich blieb stumm. Franco sog geräuschvoll die Luft ein und strich sich über den Schnauzbart.

„Warum hab ich dich nicht einfach über Bord geworfen?“, knurrte er. „Mmh? Was denkst du, Bursche?“

Ich schwieg.

„Die Männer, die du getötet hast, gehörten zu niemandem. Dein Glück. Es hätte auch anders kommen können. Hättest du diese Saminthi getötet, hätte das einen Bandenkrieg ausgelöst. Also, warum habe ich dich am Leben gelassen?“ Er strich sich erneut über den Schnauzbart. „Man hat mir berichtet, dass du kämpfst wie ein Dämon. Sogar Saminthi hatte Respekt vor dir. Du bist ein wertvoller Kämpfer, Godric. In dir schlummert eine Bestie, aber wenn du sie nicht zähmen kannst, muss ich dich töten.“ Er erhob sich. „Unser Deal steht noch. Zwei Opfer habe ich gut. Danach stehst du unter meinem Schutz.“ Franco verließ das Zimmer. Ich schwang die Beine über die Bettkante und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Es war nur noch wenige Millimeter lang. Jemand hatte es abrasiert.

Ich dachte an den Traum. Es war, wie Limbania gesagt hatte. Ich wusste noch, dass ich ein Leben vor dem Unterrumpf gehabt hatte. Dass ich und meine Schwester von Rico Fonti ausgebildet worden waren, dass wir beim Überfall der Piraten voneinander getrennt worden waren, und dass ich eine lange Zeit im Unterrumpf verbracht hatte. Dass mein Name … wie lautete er? Ich griff in die Hosentasche, als glaubte ich, ihn dort zu finden, und fand stattdessen meinen Siegelring. Ich betrachtete die Initialen – GE – und die Erinnerung fand mich. Ich steckte mir den Ring an den kleinen Finger, wie um sicherzustellen, dass ich den Namen nicht wieder vergaß.

Ich erinnerte mich nicht mehr an das, was Fonti mich gelehrt hatte. Ebenso wenig an den Schrecken des Unterrumpfes. Und das Verlangen nach Perl … es war fort.

Francos Aufträge ließen nicht lange auf sich warten. Ich tötete die Männer und wurde offiziell Mitglied seiner Bande. Ich erhielt weitere Aufträge, und angesichts meines Erfolgs fand Franco zunehmend Gefallen an mir. Er schrieb die Namen derer, die ich töten sollte, auf einen Zettel und nagelte diesen an eine Tür. Bald wusste jeder: Stand jemandes Namen auf diesem Zettel, blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Ich wurde zur meist gehassten Person an Bord der Swimming Island.

„Nehmt euch vor diesem Malaka in Acht“, hörte ich Sam sagen. Doch weder Furcht ließ ihren Blick gefrieren, noch Hass ihre Augen glühen. Sie respektierte mich.

Ich schlief immer woanders. Meist unter freiem Himmel. In einer Hängematte hoch oben im Takelwerk, auf dem Dach eines Schiffsaufbaus oder zwischen einem Stapel verrottender Kisten. An kalten Tagen zog ich mich ins Schiffsinnere zurück. Zweimal versuchte man, mich im Schlaf zu ermorden. Beide Male weckte mich mein Instinkt, und ich vergalt den Mördern den Versuch mit gleicher Münze – nur erfolgreicher. Danach ließ man mich in Ruhe.

Nur einmal gelang es jemandem, sich mir zu nähern, ohne dass ich es bemerkte. Ich lag auf dem Dach eines Deckaufbaus und blickte zum Himmel. Unter mir zechten und sangen die Piraten. Als ich die Sterne sah, passierte es: Eine Erinnerung fand mich. Ich erinnerte mich an die Namen der Sternenbilder. Tyrs Augen, Stahl, Einar … und natürlich die zwölf Wächter. Aber etwas war merkwürdig. Da waren nur elf. Ich zählte ein zweites Mal.

„Du bist so ruhig.“ Ruckartig setzte ich mich auf. Es war Sam. „Du sprichst kaum, du betrinkst dich nicht und bist am liebsten allein. Ich hingegen bin laut und ungeduldig, aber wenn ich dich nur ansehe, werde ich selbst ruhiger.“ Sie legte sich neben mich und blickte zum Himmel. „Was siehst du?“

Ich zögerte einen Moment. Dann kam ich zum Schluss, dass sie mir nichts Böses wollte. Ich ließ mich zurücksinken, so nahe neben sie, dass mein Kopf auf ihrem blonden Haar ruhte.

„Kennst du die Sternenbilder der Norvolken?“, fragte ich.

„Nein.“

Ich deutete zum Himmel. „Das sind Tyrs Augen. Er sucht nach Lotin, um ihn zu verbannen. Dort ist Stahl, der sich nach seiner Schwester sehnt. Und diese sind die zwölf Wächter.“ Aber es waren nur elf.

„Was bewachen sie?“

„Ich … erinnere mich nicht.“ Waren es vielleicht schon immer elf gewesen? Täuschte mich meine Erinnerung?

Sam stellte keine weitere Frage. Sie holte eine Zigarette hervor und reichte sie mir nach dem ersten Zug. Als wir sie aufgeraucht hatten, ging sie ohne ein Wort des Abschieds.

Nachdem die Swimming Island die Vulkaninsel verlassen hatte, dauerte es mehrere Viertel, ehe erneut Land in Sicht kam. Es war Dustrien. Das erste Ziel der Piraten war South Harrow, eine Hafenstadt. Es sollte nicht oft vorkommen, dass jemand Widerstand gegen Black Raven leistete, aber die Verteidigung von South Harrow war bestens gerüstet und der Offizier hatte offenbar Befehle. So sah ich, wie die Piraten kämpften, und begriff, warum gegen sie kein Kraut gewachsen war.

Zunächst war da das Schiff mit mehr als sechzig Kanonen je back- und steuerbordseitig. Sobald die Artillerie ihr Zerstörungswerk verrichtet hatte, gingen die Piraten an Land. Sie waren ein bunter Haufen und kamen wie eine Lawine über die Stadt. Schwarze, braune und weiße Menschen; Hünen, Krüppel und Zwerge. Sie kämpften mit exotischen Waffen, mit Beilen, Macheten und Katanas, Revolvern, Granaten und Flammenwerfern. Sie zogen ohne System in den Kampf und schlachteten ihre Feinde. Sie nahmen keine Rücksicht auf Verluste und töteten sich sogar gegenseitig.

Lief ein Raubüberfall friedlich ab – was in aller Regel der Fall war – wurde die Beute unter den Bandenbossen aufgeteilt. Die Mächtigsten bekamen das meiste. Die Bosse wiederum bezahlten die Bandenmitglieder.

Eskalierte ein Überfall wie in South Harrow, behielt jeder, was er erbeutete. Das war die Gelegenheit, sich zu bereichern, auch für mich. Trotzdem hielt ich mich zurück. Viele an Bord der Swimming Island trachteten mir nach dem Leben. Ich stand unter Francos Schutz, doch im Gefecht wäre schwer nachzuweisen, aus welcher Waffe die Kugel gestammt hatte. Während sich alle anderen auf die Soldaten stürzten, blutdurstig wie Wölfe, drang ich tiefer in die Hafenstadt vor. Ich gelangte vor ein Hotel, das vom Beschuss größtenteils verschont geblieben war. Kunstvolle Buchsbäume säumten den Weg zum Eingangsportal, Marmorsäulen verliehen dem Gebäude antike Anmut.

Ich betrat das Foyer. Niemand war hier. Personal und Gäste waren geflohen oder versteckten sich irgendwo. Die Kassen hatte man mitgenommen. Ich durchquerte den Saal in der Hoffnung, etwas von Wert zu finden, da ertönte das metallene Klingen eines Säbels, der aus der Scheide gezogen wurde. Ich wandte mich um und sah mich einem bärtigen Adligen gegenüber. Er trug eine entschlossene Miene und deutete mit der Spitze seiner Waffe auf mich.

„Gebt mir den Ring, den Ihr da tragt“, sagte er mit theatralischer Stimme. „Es ist nicht der Eure, Dieb.“

Ich schnaubte. „Versuch nicht, den Helden zu spielen, Mann. Es ist meiner.“ In diesem Moment fand mich eine Erinnerung und mir wurde klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Jeder, der einen Siegelring wie ich besaß, war registriert. Wenn der Mann die Initialen gesehen hatte, kannte er meine Identität.

„Lügner“, rief der Mann, fuchtelte mit dem Säbel und kam näher. Ich zog Chemos Machete. Die Wucht meines ersten Treffers entwaffnete den Mann, der für mich kaum ein Gegner war. Der zweite Schlag hinterließ einen so tiefen Schnitt in seiner Kehle, dass er ihn fast enthauptete. Der Mann starb in der Lache seines eigenen Blutes.

Ich hörte ein Wimmern. Als ich mich umwandte, sah ich zwei Kinder, die hinterm Empfangstresen hervorlugten. Ein Junge von vielleicht zehn Jahren und ein jüngeres Mädchen, vermutlich seine Schwester. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte der Junge mich an. Das Mädchen drückte ihr Gesicht an seine Schulter und weinte. Mein erster Gedanke war, auch sie zu töten. Vielleicht hatten sie die Initialen gesehen. Vielleicht würde der Junge den Tod des Mannes, der sein Vater oder Onkel gewesen sein mochte, rächen wollen. Dann würde er nach mir suchen lassen.

Ich tat einen Schritt in ihre Richtung und erstarrte. Mir wurde klar, dass ich in Begriff war, eine Grenze zu überschreiten. Im Unterrumpf hatte ich viele grausame Dinge getan. Aber ein Kind zu ermorden, das war etwas anderes. Lange Zeit hatte ich geglaubt, dass die Dunkelheit mir alles Menschliche ausgetrieben hatte. Aber als ich diesen Jungen sah und das Mädchen, das an seiner Schulter weinte, keimte Mitleid in mir – ein Gefühl, das ich für immer verloren geglaubt hatte.

Ich wandte mich um und verließ das Hotel, ohne etwas mitzunehmen.

Einige Viertel nach diesem Vorfall reichte Franco mir einen Fetzen Papier. Es war ein Steckbrief. Unter einer treffenden Zeichnung meines Gesichts stand:

GESUCHT

GODRIC END

TOT ODER LEBENDIG

1000 LIBERTY BELOHNUNG

Einmal fragte ich Franco, wer zur Bande des Kapitäns gehörte.

Franco zuckte die Achseln. „Das weiß keiner so recht. Manche behaupten, für ihn zu arbeiten, aber vielleicht bezahlt Raven sie, damit sie lügen. Der Kapitän spielt nicht mit offenen Karten. Könnte sein, dass ihm das halbe Schiff untersteht. Vielleicht auch kein einziger Mann. Es hat schon Meutereien gegeben, aber stets schlagen sich die meisten auf Ravens Seite. Kaum einer glaubt, dass man ihn stürzen kann.“

„Haben sie denn nicht versucht, so viele wie möglich zu mobilisieren, bevor es zur offenen Revolte kam?“

„Das haben sie. Aber Raven hat ein System. Seine Mannschaft setzt sich aus Halsabschneidern und Verrätern zusammen. Einmal hat er ein Gefängnis überfallen, nur um die Insassen aufs Schiff zu holen. Jeder zweite würde dich verkaufen. Ständig sterben Mannschaftsmitglieder oder landen im Unterrumpf oder verlassen das Schiff. Er hetzt die Banden gegeneinander auf. Dazu kommt die Größe der Besatzung. Du wirst es nie schaffen, sie zu einen.“

Von Zeit zu Zeit ankerte die Swimming Island in Schwarzwasserhafen, einem Hafenabschnitt der Metropole Rust. Viele Erinnerungen fanden mich hier. Erinnerungen an das, was Fonti mich und Emily über die Stadt gelehrt hatte. Die Hauptstadt Dustriens ist so groß, dass selbst ein Schiff, das als schwimmende Insel bekannt ist, dort unbemerkt bleibt. Schwarzwasserhafen ist die wohl mieseste Gegend. Es ist der Rückzugsort aller Kriminellen. Wenn am Morgen keine Leiche auf der Straße liegt, sprechen die Menschen von einer gesegneten Nacht.

Die Piraten gingen hier an Land, um ihre Beute zu verkaufen, um neue Mitglieder anzuwerben und um Vorräte, Waffen und Munition zu kaufen. Aber vor allen Dingen, um die Hurenhäuser zu besuchen. Franco zeigte mir das Haus, in dem die Gefahr am geringsten war, sich mit der Fickfäule, dem Schwanzschwamm oder dem Freudenfieber anzustecken. Sex fühlte sich gut an und war zugleich enttäuschend. Von kurzer Dauer, und die Erregung der Hure war schlecht gespielt. Trotzdem kehrte ich zu ihr zurück. Ich wurde besser, und die Hure fand zunehmend Gefallen an mir. Ich genoss, wenn ihr Blick ehrfürchtig meinen Körper streifte. Die Muskeln unter meiner straff gespannten Haut. Die Narben überall. Sie wäre wohl gerne mit mir durchgebrannt. Eine romantische Vorstellung, wie nur Frauen sie haben. Vielleicht bildete sie sich ein, mir etwas zu bedeuten. Ich aber machte mir nichts vor. Sie hatte mir nichts zu bieten und war mir bloß ein Objekt, das dazu diente, meine Lust zu befriedigen.

Bei unserem ersten Halt in Schwarzwasserhafen erkannte mich jemand von den Steckbriefen trotz des flaumigen Bartes, den ich mir seither stehen ließ.

„Dein hässliches Gesicht hab ich schon mal irgendwo gesehen“, rief eine junge Frau. Sie wäre hübsch gewesen, wäre ihr Haar nicht verfilzt und voller Flöhe, ihre Kleidung nicht zerlumpt und ihr Körper nicht schmutzig. „Du wirst gesucht, Godric End. Eintausend Liberty Belohnung.“

„Willst du mich ausliefern?“

„Mich ausliefern?“, äffte sie nach. „Hältst du mich für dämlich? Ich sehe doch, dass schon andere sich die Zähne an dir kaputtgebissen haben. Zugegeben … mit eintausend Liberty könnte ich dieses Leben hinter mir lassen.“ Sie seufzte. „Die Hafenhexe meinte, ich sollte nach Treedsgow gehen.“ Sie imitierte die Stimme einer alten Frau. „Es würde dir dort gut gehen, Diane. Es wäre kein Leben im Luxus, aber allemal besser als dieses hier.“

„Wer ist die Hafenhexe?“

Diane zuckte die Achseln. „Eine blinde Alte, die behauptet, die Zukunft zu kennen. Jeder hält sie für verrückt und trotzdem bezahlen die Leute sie für ihre Vorhersagen.“

Ich griff in meine Hosentasche, zog ein Bündel Banknoten hervor und warf es Diane vor die Füße. Sie hob es auf, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Denkst du, ich mach die Beine für dich breit, wenn du mir Geld gibst? Das haben schon andere gedacht … die haben jetzt keinen Schwanz mehr.“

Ohne eine Erwiderung ging ich fort. Keine Ahnung, warum ich ihr das Geld gegeben habe. Nicht aus Mitleid. Ich hatte aus einer Eingebung heraus gehandelt. Verschmerzen konnte ich die Summe allemal. Meine Dienste bei Franco brachten mir mehr als genug ein.

Dann war da noch Sam. Zu behaupten, dass ich sie beobachtete, hätte wohl nicht ganz der Wahrheit entsprochen. Man kam nicht umhin, sie zu bemerken.

„Malaka“, nannte sie die anderen Mannschaftsmitglieder, wobei keiner so recht wusste, ob das eine Beleidigung war. Jeder kannte sie. Sie hatte schon unzählige Male sowohl ihr schlagfertiges Mundwerk als auch ihre herausragende Kampfkunst bewiesen. Es gab immer wieder Dummköpfe, die sie unterschätzten.

„Sag Meine Mutter ist eine Hure“, befahl sie einem Neuling, der sie belästigt hatte. Er lag auf dem Bauch, Sam über ihm und verdrehte ihm die Arme.

„Meine Mutter ist eine Hure“, stöhnte der Mann, und Sam erntete Gelächter.

Ich bewunderte sie im Stillen. Sam lebte mit einer Leichtigkeit mit den Piraten, ob der man sich fragen musste, warum sie und Teena die einzigen Frauen an Bord waren. Ich ertappte mich dabei, wie ich solche Orte aufsuchte, an denen ich sie am ehesten anzutreffen glaubte. Ihre Nähe verschaffte mir ein warmes Gefühl. Sie redete viel und lachte gerne – ganz im Gegensatz zu mir – und ich genoss ihr lebendiges Wesen wie auch sie meine Schweigsamkeit.

Es gab da nur ein Problem. Sie gehörte zu Marios Bande, ich zu Francos. Wir waren Feinde.

Eines Nachts – ich hielt mich am Heck des Schiffes auf – hörte ich ihr Lachen. Es war ein schwüler Tag gewesen, und ein kühler Wind und fernes Grollen kündeten ein Gewitter an. Fast jeder hatte sich ins Innere des Schiffes zurückgezogen. Ich ging um einen Schiffsaufbau herum und dort sah ich sie inmitten einer kleinen Gruppe von Piraten. Sie alle gehörten zu Marios Bande. Sie hatten sich auf Kisten niedergelassen, tranken Schnaps und spielten im Windschatten Karten. Da waren der Zwerg Little Jow und sein riesenhafter Freund Bigass Bob, Mario selbst, Teena und natürlich Sam.

„Eine Karte legen, eine ziehen“, rief Little Jow wütend. „Wenn ich noch einmal weniger als vier Karten in deiner Hand sehe, musst du trinken.“

Bob brummte etwas.

Teena beugte sich zu Sam und flüsterte ihr ins Ohr. Sam hob den Blick und sah zu mir. „Fantasma.“ Das bedeutete wohl Geist. Obwohl meine Haut längst nicht mehr weiß war, mein Haar wieder schwarz und meine Augen normal, nannte Sam mich manchmal immer noch so. „Komm her.“

Ich trat in den Schein der Laternen. Nacheinander begegnete ich den Blicken der anderen. Misstrauen und Abneigung waren nicht zu verkennen. Nur Sam schien sich über mich zu freuen.

„Was hast du hier zu suchen?“, fragte Mario.

„Lass nur, Mario. Er soll mitspielen.“ Mario schien nicht glücklich darüber zu sein, doch Sam winkte mich zu sich und bedeutete mir, neben ihr Platz zu nehmen. „Hast du schon mal Rapidez gespielt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es ist ganz einfach. Ziel ist es, als erster deinen Kartenstapel abzulegen.“ Kurzerhand erklärte Sam mir dir Regeln. Es war wirklich nicht schwer. Hinzu kam, dass der Verlierer einen Kurzen irgendeines exotischen Schnapses aus Sams Heimat trinken musste. In der ersten Runde schlug ich mich gut. Die zweite gewann ich. Die dritte verlor ich. Jow schob mir das Glas zu.

Ich hob abwehrend die Hand. Ich wollte einen klaren Kopf bewahren.

„Wir teilen“, sagte Sam, leerte das Glas zur Hälfte und reichte es mir. Gehorsam trank ich den Rest. Indes mischte Mario die Karten. Jow und Bob stritten lautstark über die Regeln. Teena füllte das Glas.

„Da, wo ich herkomme“, sagte Sam leise, „heißt es, teilt man Racó, teilt man ein Geheimnis. Was hast du über mich herausgefunden?“

Ich sah ihr in die Augen. Worauf wollte sie hinaus? „Du bist eine gute Kämpferin.“

„Das ist kein Geheimnis“, sagte Sam, während Mario die Karten austeilte und Bob und Jow anfuhr, endlich mit der Diskussion aufzuhören. „Was hast du über mich herausgefunden?“

„Du magst mich.“ Die Worte waren heraus, ehe ich es verhindern konnte.

Sam lachte und wechselte abrupt das Thema. „Er braucht einen anderen Haarschnitt. Hab ich Recht, Bob?“

Der Hüne blickte auf und betrachtete mich. „Hast Recht. Sieht nicht gefährlich aus. Braucht dringend einen neuen Haar von Schnitt.“

„Das heißt Haarschnitt, du Ochse“, meinte Jow.

„Halt doch deine Boca, du Arsch von Gesicht.“ Jow verdrehte die Augen.

Wir spielten weitere Runden. Immer häufiger erhellten Wetterleuchten den Himmel. Das Grollen wurde zu einem Donnern, der Wind stärker, und die ersten Tropfen fielen. Die Piraten packten ihre Sachen und zogen sich ins Innere des Schiffes zurück. Ich folgte wenig später, als der Himmel seine Schleusen öffnete. Ich hatte so manche regnerische Nacht im Freien verbracht, aber bei einem Unwetter wie diesem war das Risiko zu groß, über Bord geworfen zu werden. Dann zog ich mich in eine der Schlupfkajüten zurück. Kaum hatte ich den Flur betreten, von dem aus die Schlafräume zu erreichen waren, vermisste ich den Himmel. Schummrige Gasleuchten an den Wänden spendeten als einziges Licht. Auf halber Höhe des Flurs öffnete sich eine Tür vor mir, und ich hörte Sams Stimme.

„Ich schwöre dir, Jow, wenn morgen nichts mehr da ist, mache ich dich noch einen Kopf kürzer, als du ohnehin schon bist.“ Sie trat auf den Gang und bemerkte mich. Als sich unsere Blicke trafen, donnerte es lauter denn je, und Sam zuckte zusammen.

Ich lächelte.

Sam schürzte die Lippen und ging wortlos an mir vorbei, als wäre ihr die Sache peinlich. Als ich die Tür zu der Kajüte öffnete, rief sie meinen Namen. Ich wandte den Kopf. Auch sie stand vor der offenen Tür ihres Schlafraums. „Was du vorhin gesagt hast … richtig vermutet.“ Und sie verschwand in ihrer Kajüte.

Auch ich kroch in die winzige Kammer und legte mich auf das Lager. Ihre Worte ließen mich vergessen, wie sehr ich die Enge dieses Ortes hasste. Mein Herz jubilierte. Zugleich verspürte ich ein anderes Gefühl. Es war Angst. Angst vor dem Tod. Denn mit Sam gab es wieder etwas, das das Leben lebenswert machte.

Am Morgen klopfte ich an ihre Tür. „Da bist du ja“, sagte sie, als hätte sie auf mich gewartet. „Komm rein.“ Sie schloss die Tür hinter mir. Ihre Kajüte war deutlich größer als meine. Man konnte aufrecht stehen und es war genug Platz für einen Stuhl und einen winzigen Tisch. „Setz dich. Ich verpasse dir jetzt einen neuen Haarschnitt.“ Sie zückte eine Rasierklinge und stellte sich hinter mich. Ich überlegte, dass sie mir womöglich die Kehle durchschneiden wollte. Dann kam ich zu dem Entschluss, dass es das Risiko wert war.

Sie schnitt mir nicht die Kehle durch. Mit Bedacht führte sie die Klinge über meine Kopfhaut und entfernte das dunkle Haar bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte. Mit einer Schere kürzte sie das verbliebene Haar auf wenige Zentimeter Länge.

„Nun bist du nicht nur gefährlich“, sagte sie, „sondern siehst auch so aus.“

Sam weckte in mir den Wunsch, noch gefährlicher zu werden. Ich kaufte mir bei einem Waffenhändler verschiedene Schusswaffen und übte mich in ihrem Umgang. Ich schoss auf Flaschen und Dosen, später auf Möwen. Ihr kennt Federico Fibonacci? Er ist wohl der berühmteste Violinist der Welt. So sicher, wie er die Töne greift, so sicher lernte ich, mein Ziel zu treffen.

Eines Tages erreichten wir Treedsgow. Noch immer hatte ich den Brief von Limbania. Zusammen mit den anderen Piraten ging ich an Land. Der Überfall lief friedlich ab. Man brachte den Piraten, was sie verlangten, und sie trugen es an Bord. Ich streifte indes durch den Hafen. Seit ich jenem Mädchen Diane in Schwarzwasserhafen Geld gegeben hatte, war viel Zeit vergangen. Ich schätzte zwei Jahre, war mir aber nicht sicher. An Bord der Swimming Island waren wir viele Monate lang auf hoher See gewesen. Ich hatte zusammen mit den Piraten die Küsten wärmerer Länder überfallen oder an Orten wie jener Vulkaninsel gelebt. Da verlor man leicht den Überblick über die Jahreszeiten und jegliches Zeitgefühl.

Was mochte aus Diane geworden sein?

Treedsgow war eine schöne Stadt. Selbst der Hafen war nobel. Es gab kaum Bettler. Die Straßen waren halbwegs sauber und entlang der Promenade reihten sich Straßenlaternen. Mein Blick fiel auf einen Jungen. Er mochte elf Jahre alt sein und stand in einer merkwürdigen Haltung da: Die Arme hingen in der Luft wie bei einer Marionette, die nicht gelenkt wurde, und er regte sich nicht. Als ich an ihm vorbeiging, wandte er sich jäh um. Seine Augen waren blau und wirkten leblos.

„Godric End.“

Ich blieb stehen und starrte ihn an. Hatte er mich erkannt? Trotz des struppigen Bartes, der inzwischen mein Gesicht beherrschte, und der neuen Frisur, die ich beibehielt, seit Sam sie mir verpasst hatte?

„Du hast einen Brief für mich.“ Der Junge machte eine unbeholfene Geste, und erneut fühlte ich mich an eine Marionette erinnert. Ich bemerkte dünne rote Striemen an seinen Handgelenken. „Gib ihn mir.“

Ich zog den Brief aus der Hosentasche. Der Junge streckte beide Hände danach aus, doch ich hielt ihn außerhalb seiner Reichweite.

„Woher weiß ich, dass du der Adressat bist?“

„Woher weiß ich sonst von dem Brief?“, fragte der Junge ungeduldig. Seine Stimme klang merkwürdig. Etwas zu tief für sein Alter. „Nun gib ihn mir.“ Ich reichte ihm den Brief, und der Junge klemmte ihn zwischen den Handflächen ein. Ohne ein weiteres Wort ging er davon. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Art, wie er einen Fuß vor den anderen setzte, lustig oder unheimlich finden sollte.

Es war ein paar Monate nach diesem Vorfall, da ich einen merkwürdigen Traum hatte. Es war eine kalte Winternacht, und ich schlief in meiner Schlupfkajüte. Ich träumte, dass eine leise Melodie mich weckte. Sie drang deutlich an meine Ohren, als säße jemand hier, in meiner Kajüte, und ließe seine Trauer Musik werden.

Ich verließ den Schlafraum und trat ins Freie. Die Swimming Island war gestrandet. Sie befand sich in Schräglage am Fuß einer Steilklippe. Es schien, als sei eine halbe Ewigkeit vergangen, seit sie hier ihr Ende gefunden hatte. Die Segel hingen in Fetzen von den Masten. Der Rumpf war rostzerfressen und einer der Schornsteine umgestürzt. Aus einem Loch im Deck ragte eine mächtige Eiche. Feenwürmchen schwirrten in ihrer Krone. Am Himmel funkelten die Sterne. Im Schatten des Baumes saß ein Mann und spielte jene traurige Melodie. In seinem Rücken steckte ein Messer.

Er blickte nicht auf, als ich mich näherte. Die Waffe steckte tief. Der Griff war schlicht, von einer einzelnen Diamantträne abgesehen, die wie das Mondlicht leuchtete.

„Was ist passiert?“

Blut tropfte aus dem Mundwinkel des Mannes auf den Korpus der Gitarre. „Du hast tausend Jahre geschlafen, Godric End.“

„Wer hat das getan?“

„Frage die Toten nicht.“ Ehe ich etwas erwidern konnte, fuhr der Mann fort. „Eibalan hat etwas für dich.“

Ich blickte zu der Eiche. Eine Böe strich mir durchs Haar und trug den Geruch von Salz und Rost heran. Eibalans Laub raschelte.

Komm zu mir.

Ich trat näher. Zwischen den moosbewachsenen Wurzeln der Eiche fand ich ein Buch mit ledernem Einband. Als ich es nahm, beendete der Mann sein Spiel. Er blickte auf. Seine Pupillen waren milchig und er weinte Blut. „Die Zwölfte Stunde schlägt, Godric End. Es bleibt nicht viel Zeit.“

Ich erwachte. In den Händen hielt ich das Buch. Eine geschlagene Minute, während der ich zu begreifen versuchte, ob ich wahrhaftig nicht mehr träumte, starrte ich den Ledereinband an. Es gab keine logische Erklärung dafür, wie ich in den Besitz gekommen war. Meine Tür war verschlossen. Die Kammer bis auf eine dünne Matratze leer. Es war unmöglich, dass jemand es vorher hier platziert hatte. Ich fuhr mit dem Finger über den Rand des Buchdeckels und wog es in der Hand, wie um mich zu vergewissern, dass es real war. Es war ein dünnes Buch ohne Titel. War es möglich, dass ich es aus dem Traum mitgenommen hatte? Ich klappte den Deckel auf, blätterte zur ersten Seite und las:

Ich wohne jetzt seit fast einem Viertel hier: Treedsgow, Stadt des Wohlstands und der Naturwissenschaften …

Treedsgow. Ich hatte Limbanias Brief dort abgegeben, Diane hatte davon gesprochen und jetzt wieder. Was hatte es mit dieser Stadt auf sich?

Laute Stimmen und schnelles Fußgetrappel vor der Tür zerrissen die Leinwand meiner Gedanken. Ich legte das Buch beiseite und öffnete die Tür.

„Was ist passiert?“, fragte ich einen vorbeieilenden Piraten.

„Sam und Franco … angeblich kämpfen sie.“

Ich runzelte die Stirn. Unmöglich. Das hätte einen Bandenkrieg ausgelöst, eine Schlacht an Bord der Swimming Island, so verheerend, dass Raven es nicht zulassen würde. Ich folgte den anderen. Schon auf halbem Wege hörte ich Sams aufgebrachte Stimme.

„Wie lange sollen wir uns das noch gefallen lassen, Mario?“

Marios Antwort klang drohend, war aber nicht zu verstehen. Ich betrat das Deck und schloss mich der Menge an, die sich um Franco, Mario und Sam gebildet hatte.

„Das nennst du Waffenstillstand?“, empörte sich Sam. „Jorge ist nun der dritte unserer Männer, den er töten ließ.“

„Wer hat etwas von einem Waffenstillstand gesagt?“, fragte Franco. Ruhig stand er da, die Hände in den Hosentaschen, und lächelte.

Sam tat drei schnelle Schritte. Ihr Gesicht kam dem Francos so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Ihr Haar wehte im Wind. „Du willst einen Krieg? Den kannst du haben!“

„Genug.“ Marios Stimme schnitt durch die Luft wie eine Machete. „Jorge hat beim Kartenspiel beschissen. Er hat gewusst, welches Risiko er eingeht. Ich werde nicht wegen ein paar Liberty einen Bandenkrieg lostreten.“

„Jorge hat nicht betrogen! Das weißt du ebenso gut wie ich. Franco dezimiert unsere Bande, weil er uns fürchtet.“

„Ich sagte: genug!“

„Das Meer soll dich holen!“ Sam wandte sich an Franco. „Ein weiterer Mord, Franco. Ein weiterer Mord an einem unserer Männer und, das schwöre ich, ich werde dich töten.“ Franco lächelte nicht mehr. Sam wandte sich um und stürmte davon. Der Bandenboss bleckte die Zähne. Seine Augen waren dunkel.

Am nächsten Morgen erhielt ich einen Auftrag.

Ich starrte auf den Namen, den Franco in krakeliger Schrift niedergeschrieben hatte.

Saminthi.

Seit sie mir gesagt hatte, dass sie mich mochte, und mir einen neuen Haarschnitt verpasst hatte, waren einige Monate vergangen. Doch ihre Worte hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt. Was du vorhin gesagt hast … richtig vermutet. Wahrscheinlich erinnerte sie sich nicht einmal mehr daran. Ich zündete mir eine Zigarette an und starrte auf den Namen.

Saminthi.

Das einzige Mal, da ich gegen sie gekämpft hatte, hatte sie mich vorgeführt wie einen Anfänger. Damals war ich stark wie zehn gewesen, aber auch rasend vor Verlangen. Seither hatte ich viel dazugelernt.

Saminthi.

Wenn ich den Auftrag ablehnte, würde Franco mich büßen lassen. Seine Bande war in den vergangenen Jahren mächtig geworden. Ich warf die Zigarette fort, an der ich nur zwei Mal gezogen hatte. Sam musste sterben. Wozu mein Leben für sie riskieren? Ich bedeutete ihr ohnehin nichts.

Ich brauchte Sam nicht zu beobachten, wie ich es für gewöhnlich mit meinen Opfern tat. Ich kannte ihre Gewohnheiten. Es gab nicht viele Dinge, die sie wiederholt tat, wohl um ein ebensolches Vorhaben wie meines zu unterbinden. Doch wenn sie aufgewühlt war, zog sie sich immer an denselben Ort zurück. Hunderte Male hatte ich sie dort zu den Sternen aufblicken sehen: am Heck des Schiffes auf dem Dach eines Schiffsaufbaus hinter dem letzten Schornstein.

Auch an diesem Tag kam sie wieder hierher. Ein starker Wind wehte, und hohe Wellen brachen sich am Rumpf des Schiffes. Ich blieb im Verborgenen und betrachtete ihre kahle, mondbeschienene Gesichtshälfte. Meine Hand lag auf dem Griff der Pistole. Ich wartete auf den Befehl. Hunger, der mich aufforderte, es endlich zu tun. Aber zu hören war nur das Rauschen der Wellen. Der Wind blies kalt über meinen nackten Oberkörper.

Worauf wartest du?

Sam erhob sich. Seltsam. Für gewöhnlich blieb sie länger an diesem Ort. Vielleicht fror sie …

Sie sprang von der Aufbaute und machte sich am Schloss einer Tür zu schaffen. Es klickte und sie verschwand im Innern. Still wie ein Schatten folgte ich ihr. Eine Treppe hinab und durch einen Gang. Gasleuchten an den Wänden spendeten schummriges Licht. Der Geruch von altem Leder, Papier und geborgenem Wissen hing in der Luft. Der Gang mündete in einen Saal. Auch hier gab es Gasleuchten. Mit Büchern gefüllte Regale reichten bis unter die Decke. Schnallen verhinderten, dass die Bände herausfielen oder gar die Regale umkippten. Auf einem Messingschild war der Name Hazlewood Industries eingeschlagen. Sam war nirgends zu sehen. Ich trat ein und betrachtete die Schnallen genau. Sie ließen sich über winzige Zylinder öffnen, die durch ein feines Netz aus Kupferrohren miteinander verbunden waren.

Ein lauter Knall ertönte. Ich wirbelte herum. Hinter mir stand Sam. Sie hatte die Eisentür ins Schloss geworfen. Ihre Augen fixierten mich.

„Hat Franco dich beauftragt, mich zu töten?“

Ich antwortete nicht.

„Warum hast du mich vorhin nicht erschossen?“

„Du hast es gewusst?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich habe immer gewusst, wenn du dort warst.“ Ich bin kein Mann vieler Worte, aber in diesem Moment war ich schlicht sprachlos. „Es hat mir gefallen, zu wissen, dass du mich beobachtest.“ Sie ging an mir vorbei und trat vor ein Regal. „Du willst mich doch nicht töten, Godric.“ Sie berührte eines der Kupferrohre.

„Franco will, dass du stirbst“, entgegnete ich. „Wenn ich dich nicht töte, stehe ich als nächster auf seiner Liste und jemand anders wird sich um dich kümmern.“

„Ist diese Technologie nicht faszinierend?“ Über ihren Worten lag ein dunkler Schleier. „Ich habe sie untersucht. In diesen Zylindern stecken kleine Federn, die die Schnallen geschlossen halten. Öffnet man aber dieses Ventil …“ Sie drehte an einem kleinen Rädchen. Sekunden später fuhren die Zylinder ein und die Schnallen öffneten sich. „… drückt ein Schraubenverdichter die Luft in den Kupferrohren zusammen. Mehr noch: Sollte das Schiff eines Tages sinken, füllt das Wasser weitere Rohrleitungen. Der Druck verschließt jede Ritze dieses Raumes. Je tiefer das Schiff sinkt, desto größer der Druck, desto besser versiegelt ist die Bibliothek.“ Sie nahm ein Buch aus dem Regal und blätterte darin. „Dieser Ort ist die Schatzkammer Ravens. Die wenigsten, die ihn kennen, sind schlau genug, den Wert eines Buches zu verstehen. Und jene, die es tun, sind nicht so dumm, den Kapitän zu bestehlen.“ Die Hand, die das Buch hielt, schnellte vor. Sams Angriff traf mich völlig unvorbereitet. In letzter Sekunde zog ich meinen Revolver und schoss das Buch aus der Luft. Sam pflückte weitere Bände aus dem Regal und schleuderte sie nach mir. Ich wehrte sie mit dem Revolver ab, teils mit der bloßen Hand. Sam legte mit dem Fuß einen Hebel am Boden um, und auch die Schnallen, die das Regal hielten, öffneten sich. Das Schiff neigte sich, und das Regal rutschte einige Zentimeter über den Boden. Vereinzelt fielen Bücher heraus. Schnell wie eine Katze verschwand Sam auf der anderen Seite. Ich steckte den leer geschossenen Revolver in meinen Gürtel. Ehe ich ihr folgen konnte, erschütterte ein Schlag das Regal, und das Gestell neigte sich. Bücher prasselten auf mich herab. Ich packte das Gestänge und hob das Regal hoch. Durch eine Lücke in den Buchreihen sah ich, wie Sam die Augen aufriss. Ich warf das Regal auf sie. In letzter Sekunde rollte sie darunter hinweg, und das Möbelstück krachte gegen seinen Bruder und riss ihn aus der Verankerung. Eine Rohrleitung brach zischend. Das zweite Regal kippte.

Sam kam auf die Beine. In der Hand hielt sie eine Pistole. Ich schlug sie ihr aus der Hand. Ehe sie eine weitere Waffe ziehen konnte, drängte ich sie zurück, bis sie mit dem Rücken zur Wand stand, und drückte ihr Chemos Machete an den Hals.

Unsere Blicke trafen sich.

„Du solltest es nicht tun.“

Ich schwieg.

„Raven weiß von deinem Auftrag. Wenn er mich hier findet, wird er wissen, dass du seine Bibliothek zerstört hast. Dann wird er dich töten.“

„Ich glaube nicht, dass Raven es schert.“

Sam lachte. „Du kennst ihn schlecht. Sein Reichtum ist das Einzige, das ihm etwas bedeutet. Er würde seinen eigenen Sohn verkaufen.“

Ich schwieg.

„Manche denken, er ist gierig. Aber wenn du mich fragst, ist er bloß größenwahnsinnig. Er hofft, sich eines Tages ganz Dustrien kaufen zu können.“ Sam regte sich unter meinem Griff, und ich drückte die Klinge noch fester gegen ihren Hals.

„Dann tu es“, flüsterte sie. „Töte mich. Töte uns beide.“

Ich sah ihr in die Augen. Graublaue Edelsteine. Würden sie ihren Glanz verlieren, wenn ich das Leben dahinter erstickte?

Ich ließ die Machete fallen. Sprachlos sah Sam mich an. Ich nahm ihren Kopf in beide Hände, vergrub meine Linke in ihrem blonden Haar, zog sie heran und küsste sie. Wenn mein Handeln sie überrascht hatte, verbarg sie es gut. Sie erwiderte meinen Kuss so leidenschaftlich wie noch nie eine Frau. Ich ließ von ihrem Mund ab und küsste sie am Hals. Sie lachte leise.

Ich biss sie zärtlich, und sie sog lustvoll die Luft ein.

Wir zogen uns aus und liebten uns inmitten der Bücher. Keine Hure der Welt hatte mich je solche Lust empfinden lassen, und auch Sam musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut zu stöhnen.

„Hast du schon bei vielen Frauen gelegen, Fantasma?“ Wir lagen nah beieinander. Sie zeichnete mit dem Finger die Narben auf meinem Oberkörper nach.

„Bei Huren. Aber nicht bei vielen. Was ist mit dir? Wie viele Männer hattest du schon?“ Sam schwieg. „Ich wette, eine Menge. Es ist mir egal.“

„Du … wo bist du nur hergekommen?“

„Mit wem von den Piraten warst du schon zusammen?“

Sie zögerte. Ihre Stimme war leise, als sie antwortete. „Mit … Mario.“

„Mario? Er ist bestimmt zehn Jahre älter als du.“

„Fünfzehn Jahre.“ Sie zuckte die Achseln. „Er hat mich beschützt, als ich an Bord des Schiffes kam.“

„Wieso ist es vorbei?“

Sie seufzte. „Meinetwegen hätten wir für immer zusammen bleiben können. Aber das Arschloch hatte Angst. Als er zum Boss unserer Bande wurde, wurde ihm die Sache zu heikel.“

„Wie alt bist du, Sam?“

„Vierundzwanzig. Und du?“

„Ich weiß es nicht. Siebzehn? Achtzehn? Vielleicht neunzehn.“

Sam setzte sich auf und sah mich an. Ihr Haar fiel herab und kitzelte meine Brust. „So jung?“ Ich strich ihr durchs Haar und streichelte ihr Gesicht. „Du wirkst älter.“

„Das verdanke ich dem Unterrumpf.“ Ich musterte die Tätowierung auf ihrer Kopfhaut. „Was sind das für Ranken?“

Sam zuckte die Achseln. „Ein Motiv, das mir gefällt. Nichts weiter. Und du? Was sind das für Zeichen auf deinem Rücken?“

„Zeichen?“

Sie starrte mich an und brach in Gelächter aus. „Monatelang habe ich mich gefragt, was sie bedeuten mögen. Und du weißt nicht mal, dass sie dort sind.“ Ich starrte sie an. Wollte sie mich auf den Arm nehmen? „Es sind zwei Schriftzeichen. Runen oder etwas in der Art.“ Sie stand auf. „Komm, Godric. Wir sind schon zu lange hier.“ Wir zogen uns an. „Ich kenne einen Ort, an dem wir vorerst sicher sind. Hier …“ Sie verstummte, weil ich von hinten an sie herantrat und ihren Hals küsste. Vielleicht würde es nicht mehr viele Gelegenheiten geben, dies zu tun. Franco und Raven trachteten uns nach dem Leben.

Sam atmete genussvoll ein und schloss die Augen. „Lass das“, flüsterte sie, unternahm aber nichts. „Hör auf.“ Ich berührte ihre Hüften, und sie kicherte.

„Das kitzelt. Nicht.“ Sie wandte sich um und küsste mich auf den Mund. „Wir müssen los. Hier entlang.“ Sie führte mich aus der Bibliothek in einen Gang. Auf halber Höhe drückte sie gegen die Wand. „Hilf mir mal.“ Ich presste mit den Handflächen dagegen und die Wand gab nach. Sam schob sie auf und offenbarte mir eine verborgene Abzweigung, die nach nur wenigen Schritten in einem Schacht endete.

„Ich gehe nicht in den Unterrumpf.“ Meine Stimme war ruhig.

„Dieser Schacht führt nicht in den Unterrumpf.“ Sam verriegelte die Geheimtür hinter uns. „Geh schon.“ Wir stiegen die Leiter hinab und gelangten in einen dunklen Raum. Ein Bett stand hier, außerdem mehrere Kisten.

„Wo sind wir hier?“

„Es ist ein isolierter Raum im Rumpf des Schiffes. Also streng genommen sind wir im Unterrumpf. Reg dich nicht auf“, fügte sie hinzu, als sie meinen Blick bemerkte. „Hier droht uns keine Gefahr.“

„Darum geht es nicht“, knurrte ich. „Ich werde nervös, wenn ich den Himmel nicht sehe.“

„Dort ist ein Bullauge.“ Sam musterte mich mitleidig. „Die Zeit dort unten muss furchtbar gewesen sein.“

„Ich mag es nicht, wenn ich längere Zeit die Sonne nicht sehe“, erwiderte ich gereizt. „Das ist alles. Was tun wir als nächstes?“

„Wir warten auf die kleine Negrita.“

Während wir warteten, lernte ich mehr über Sam als während der ganzen Zeit, die ich sie kannte. Ich erfuhr, dass sie von ihrem Vater verprügelt worden war, und deshalb von zu Hause geflohen war. Sie erzählte mir von den Männern, bei denen sie gelegen hatte, und den Feinden, die sie getötet hatte.

„Ich kenne den Namen eines jeden, den ich ermordet habe“, sagte sie. „Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann bete ich dafür, dass sie mir verzeihen.“ Diese gefühlvolle Seite an ihr überraschte mich. „Du darfst niemandem davon erzählen. Wenn die anderen erfahren, wie ich wirklich bin, halten sie mich für schwach.“

Es gab auch Momente, während derer wir überhaupt nicht sprachen. Wir standen bloß da und hielten einander in den Armen, blickten aus dem Fenster und hingen unseren Gedanken nach. Es schien, als sei eine unsichtbare Barriere zwischen uns gebrochen. All die Jahre hatte sich eine gegenseitige Sehnsucht dahinter angestaut und endlich – endlich! – konnten wir unser Verlangen stillen. Wir küssten uns, liebten uns. Danach betrachtete sie mein Gesicht, minutenlang, als wollte sie sich jedes Detail einprägen. Und immer wieder wanderte ihr Blick zu meinen Augen. Ein Leuchten belebte jene graublauen Edelsteine, die ihre Iriden waren.

„Du bist anders, Godric. Anders als jeder Mann, den ich je gekannt habe. Du bist ruhig. So unerschütterlich. Du bist stark.“ Sie streichelte mir über den Bizeps. „Als du dieses Regal hochgehoben hast, dachte ich, ich sehe nicht richtig. Du bist jung und hast doch mehr erlebt als die meisten. Ich möchte nicht länger auf diesem Schiff bleiben. Ich möchte nur noch mit dir zusammen sein, re agapi, egal wo. Wir werden von hier verschwinden und ein neues Leben anfangen.“

Teena kam nach etwa vierundzwanzig Stunden. Sie trat durch eine Tür, die unverkennbar in den Unterrumpf führte. Ich hörte die Schreie eines Süchtigen. Schnelle Schritte, die in den Untiefen verhallten. Roch die unverwechselbare Mischung aus Rost und Blut …

Die Tür fiel hinter Teena ins Schloss. Sie trug eine Gasleuchte bei sich. Ihre Augen leuchteten.

„Oben ist die Hölle los“, berichtete sie. „Raven tobt. In seiner Bibliothek wurde randaliert. Ich nehme an, das wart ihr?“ Sam lachte.

Teena musterte mich. „Franco ist misstrauisch. Ihm ist nicht entgangen, dass du und Sam verschwunden sind. Ihr solltet euch besser nicht blicken lassen.“

„Wie weit sind wir vom Land entfernt?“

Teena zögerte. „Weit …“

„Können wir …?“

Die kleine schwarze Frau schüttelte den Kopf.

Ich sah abwechselnd von Teena zu Sam. „Was?“

„Teena hat weit unten im Rumpf Sprengstoff gelagert“, erklärte Sam. „Sobald wir uns in Küstennähe befinden, zünden wir den Vorrat. Das sollte ausreichend Verwirrung stiften, um von hier zu verschwinden.“ Sam wies auf die Kisten umher. „Ich habe hier einige Vorräte gelagert. Es ist nicht viel …“

„Das macht nichts. Hunger ist ein alter Freund von mir.“

„So siehst du aus.“ Sam musterte mich mit einem Blick, der eindeutig nicht missfallend war.

Die folgenden Tage zählten zu den schönsten meines Lebens. Der kleine Raum hatte uns nicht viel zu bieten, wir einander dafür umso mehr. Ich wurde nicht müde, sie anzusehen. Ihren Worten zu lauschen. Sie erzählte viel – von ihrem Vater, den sie gehasst hatte, und von ihrer Flucht. Davon, wie sie an Bord des Schiffes gelangt war, und wie glücklich und geborgen sie sich an Marios Seite gefühlt hatte. Wie eine Welt für sie zusammengebrochen war, als er sie verlassen hatte. Und sie erzählte von mir.

„Ich habe mich immer gefragt, was die Runen auf deinem Rücken zu bedeuten haben. Du hast wirklich keine Ahnung?“

Ich schüttelte den Kopf. „Hatte ich die Runen damals schon, bei unserem ersten Kampf?“

„Ich erinnere mich nicht.“ Sam blickte kurz ins Leere. „Wenn, dann sind sie mir nicht aufgefallen.“

Eines Tages war es so weit.

„Land in Sicht“, meldete Teena. Sam blickte zu dem Bullauge. „Die Küste ist auf der anderen Seite. Ich habe es vom Batteriedeck aus gesehen.“ Seit Sam und ich uns in Ravens Bibliothek begegnet waren, war Teena in den Unterrumpf abgetaucht. Als Sam ihr angeboten hatte, bei uns zu bleiben, hatte sie abgelehnt.

„Ich komme bestens mit den Süchtigen zurecht, danke. Außerdem will ich doch nicht … eure knapp bemessenen Vorräte aufbrauchen“, hatte sie mit blitzenden Augen hinzugefügt.

„Dann ist es Zeit, die Bombe zu zünden. Wir warten auf den Knall.“

„Da gibt es noch eine Sache“, sagte ich. Seit ich das Versteck betreten hatte, hatte mich das Gefühl nicht losgelassen, etwas vergessen zu haben. Wie ein Traum, an den man sich nicht mehr erinnerte. Zunächst hatte ich es ignoriert. In meinen Gedanken war nur Platz für Sam gewesen. Doch dann hatte ich mich gefragt, was es sein konnte, das da so hartnäckig in meinem Hinterkopf verweilte.

Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Teena und Sam sahen mich fragend an. „In meiner Kajüte ist ein Buch. Ich brauche es.“

„Ein Buch?“, fragte Sam ungläubig.

„Es ist wichtig.“ Etwas sagte mir, dass es so war. Allein der mysteriöse Umstand, wie ich in seinen Besitz gekommen war.

„Das schaffe ich“, sagte Teena. „Welche ist deine Kajüte? Nummer vierzehn?“

„Eine vorher.“

Teena verschwand. Nach weniger als einer Stunde kehrte sie mit dem Tagebuch zurück.

„Mach die Zündung lang genug“, schärfte Sam ihr ein.

„Macht euch um mich keine Sorgen. In weniger als einer Stunde ist es so weit. Wartet hier. Wir werden das Bullauge einschlagen, sobald die Bombe hochgegangen ist. So erreichen wir eines der Sicherheitsboote.“ Sie verschwand erneut.

Sam wandte sich mir zu. „Nur noch wenige Augenblicke trennen uns von der Freiheit, re agapi.“ Sie küsste mich. Küsste mich zum letzten Mal.

Eine Stunde verstrich. Sam blickte auf ihre Taschenuhr und kaute auf der Unterlippe. Eine weitere Stunde verstrich, ohne dass ein Knall ertönte.

„Etwas stimmt nicht“, sagte Sam. „Wir gehen sie suchen.“ Sie öffnete die Tür zum Unterrumpf. Dann sah sie meinen Blick. „Oh …“

Ich bemerkte nicht einmal, wie sie mich musterte. Starrte bloß in die Dunkelheit. Bildete ich es mir ein oder hörte ich die Schreie der Süchtigen? Das stählerne Knarren, das stetige Tropfen, das Brüllen des Pelzes in den Tiefen …

„Godric?“ Sams Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. „Was ist dein Problem? Bist du nicht der Perlkönig? Wirst du nicht spielend mit den Süchtigen fertig?“

„Nun ja …“ Es waren nicht die Süchtigen, die ich fürchtete, nicht den Tod. Ich fürchtete mich vor mir selbst. Vor dem, was der Unterrumpf aus mir machte.

„Godric … du musst nicht gehen.“

Ich räusperte mich. „Schon gut. Ich schaffe das.“ Ich betrat den Gang. Schon nach wenigen Schritten wurde mir schwindelig. Die Wände legten stählerne Arme um mich. Der Geruch von Rost und Blut füllte meinen Kopf. Eine Erinnerung fand mich. Olli, wie er vor mir lag, in der Mitte durchgeschnitten, seine Eingeweide auf dem Boden verteilt. Der Schweiß brach mir aus. Irgendwo vor mir, wo sich der Gang im Dunkeln verlor, sah ich die Umrisse eines Mannes mit Zylinder. Die Knie gaben unter mir nach. Ich suchte Halt an der Wand und glitt langsam an ihr herab. Der Rumpf knarrte wie der Magen eines Monsters. Ich biss die Zähne zusammen. Ballte die Hände zu Fäusten.

Töten oder getötet werden.

In meinem Kopf hörte ich Hungers selbstgefällige Stimme: Ich wusste, dass du zurückkommen würdest. Ich knurrte.

„Godric?“ Sam legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich wirbelte herum, packte sie an der Gurgel und drückte zu. Ich hob sie hoch, fletschte die Zähne. Mein hasserfüllter Blick traf ihre weit aufgerissenen Augen, während ich sie vor mir hertrug, den Gang zurück. Erst als das Sonnenlicht ihre Augen traf, wurde ich wieder ich selbst. Ich setzte sie auf dem Boden ab und wich zurück, entsetzt über das, was ich getan hatte. Ich stieß mit dem Rücken gegen die Wand und sank an ihr herab. Starrte auf meine Hände, als könnte ich nicht glauben, dass es meine eigenen waren.

„Es … es tut mir leid.“

„Schon gut“, flüsterte Sam und rieb sich die Kehle. „Ich gehe allein.“ Schon hatte sie den Gang betreten. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

„Warte.“ Ich sprang auf die Beine, obwohl ich am ganzen Leib zitterte. Eilte ihr nach und packte die Klinke. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Sam musste sie von der anderen Seite verriegelt haben.

„Sam!“ Ich hämmerte gegen die Tür. Wie sehr wünschte ich mir schwarzes Perl herbei, das mir die Kraft gab, die Eisentür aufzubiegen. „SAAAM!“ Nach etwa zehn Minuten gab ich auf.

Ich kehrte zum Bett zurück und ließ mich darauf nieder. Grausame Bilder fanden einen Weg in meine Gedanken. Sam, abgestochen von einem Süchtigen. Überwältigt von Francos oder Ravens Männern. Ich raufte mir die Haare. Mein Blick schweifte durch den Raum auf der Suche nach etwas, das mich ablenken konnte, und fand das Tagebuch. Ich schlug es auf und las:

Ich wohne jetzt seit fast einem Viertel hier: Treedsgow, …

Ich warf es fort und erhob mich. Ging auf und ab, trat eine Kiste durch den Raum und mehrmals gegen die Eisentür, bis mir der große Zeh schmerzte. Zuletzt ließ ich mich wieder auf dem Bett nieder. Ich konnte nichts tun außer hoffen, dass Sam heil zu mir zurückkehrte.

Sie ist stark, sagte ich mir. Hab Geduld. Sie wird es schaffen.

Ich nahm das Tagebuch wieder zur Hand und strich über den ledernen Einband. Nun, da mein Herzschlag sich ein wenig beruhigt hatte, verspürte ich Neugier. Wieder dachte ich daran, wie ich in seinen Besitz gekommen war. Wollte jemand, dass ich es las? Ich dachte an die Worte des Mannes in meinem Traum. Die Zwölfte Stunde schlägt, Godric End. Es bleibt nicht viel Zeit. War es bloß irgendein Traum gewesen? Oder eine Botschaft?

Zum zweiten Mal öffnete ich das Tagebuch und fing an zu lesen.

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild

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