Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 18

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Das Tagebuch

22. FRÜHLINGSMOND 1713, RUHENACHT

Zur Feier des Viertendes gingen Ed und ich ins Ampère. Bei einem kalten Bier erzählte ich ihm von der Begegnung mit Emily.

„Eine harte Nuss“, kommentierte Ed.

Ich nickte mit resignierter Miene.

„Es gibt nicht viele Studentinnen. Sie wird ihren Platz an der Universität nicht für ein Schäferstündchen riskieren.“ Er trank einen Schluck. „Trefft ihr euch wieder?“

„Am achtundzwanzigsten“, sagte ich und nahm meinerseits einen Schluck. „In der Bibliothek. Sie wird wissen wollen, wie mir das Buch gefallen hat.“

Ed sog zischend die Luft. „In der Bibliothek?“ Er schüttelte den Kopf. „Sie wird sich langweilen.“

„Sie mag Bücher.“

Ed wirkte nicht überzeugt. „Das ändert doch nichts daran, dass es dort nach Staub riecht.“ Ich war drauf und dran, Ed zu erklären, dass die Luft in der Bibliothek keineswegs nach Staub roch. Sie roch nach altem Papier, würzigem Leder und verborgenem Wissen. Ich schluckte die Worte hinunter. Ed hätte doch nur gelacht und mich einen verträumten Poeten genannt.

„Hör mir gut zu, denn ich sage dir jetzt, wie du sie im Handumdrehen um deinen Finger wickelst.“ Ed legte eine dramatische Pause ein, indem er noch einen Schluck Bier trank. „Geh mit ihr ins Coffee-House Calvin. Warst du schon mal dort?“ Ich nickte. Das Café befindet sich ganz in der Nähe vom Campus und ist ein beliebter Aufenthaltsort der Studenten. „Gut“, fuhr Ed fort. „Dieses Buch mit den Mythen bietet schon mal guten Gesprächsstoff. Hör ihr aufmerksam zu, und wenn sie aufhört zu reden, sprich aus, was dir gerade in den Sinn kommt. Halte Blickkontakt und vergiss nicht, zu lächeln, sonst glaubt sie noch, du wärst aus Sankt Laplace geflohen. Sprich immer so laut, dass sie dich verstehen kann, und wenn sie etwas Kluges oder Witziges sagt, belohnst du sie mit einer beiläufigen Berührung. Ungefähr so …“ Ed gab ein überzeugendes Lachen von sich. Dabei legte er die Hand für die Dauer eines Herzschlages auf meine. Unsere Blicke trafen sich, und er zog die Hand ohne Hast wieder weg.

„Oh, Eddie“, säuselte ich mit gespielt hoher Stimme. „Du bist so ein Schatz. Ich will sofort mit dir in die Kiste.“

Ed prostete mir zu und trank noch einen Schluck Bier. „Du würdest staunen“, sagte er. „Wenn ich möchte, gehe ich in eine der Kneipen der Promenade und komme eine Stunde später mit einem willigen Mädchen wieder heraus.“

„Ich weiß“, entgegnete ich kühl. „Dein Bett quietscht, Ed. Und das sage ich dir nicht zum ersten Mal.“

„Stimmt“, sagte Ed grinsend. „Ich dachte bloß, du freust dich für mich.“

Ich verdrehte die Augen, konnte ein Lächeln aber nicht unterdrücken.

W. D. Walker

29. FRÜHLINGSMOND 1713, LOHNTAG

Die Mythen der norvolkischen Stämme, die vor hunderten von Jahren unser Land bevölkert hatten, waren unterhaltsam. Aber hätte mich vor zwei Tagen jemand gefragt, ob sie auch lehrreich seien, ich hätte diese Frage vehement verneint. Nach dem gestrigen Treffen mit Emily müsste ich meine Antwort allerdings überdenken.

„Du denkst, dass nichts davon wahr ist“, konstatierte sie und sah mich herausfordernd an, nachdem ich ihr gegenüber die Mythen als unterhaltsame Märchen bezeichnet hatte. Sie trug heute keine Brille und hatte ihr braunes Haar mit einer Schleife zusammengebunden. Es kostete mich große Willenskraft, nicht ständig hinzusehen. Sie selbst hatte vermutlich nicht einmal einen Blick in den Spiegel darauf verwendet.

Wir hatten die Bücher zurückgegeben und an einem der Tische im Coffee-House Calvin nahe beim Fenster Platz genommen.

„Glaubst du etwa, dass sie wahr sind?“, fragte ich. „Dass der Götterbildner Tyr die erste Frau in Eis meißelte? Dass er Kinder mit ihr zeugte, die Ea und Stahl hießen und halb Gott und halb Eismensch waren? Glaubst du an böse Geister und daran, dass Stahl sie in die Schattenwelt hinter die Spiegel bannte?“

Zu meiner Beruhigung schüttelte Emily den Kopf. Ich wartete, während sie an ihrem brühend heißen Kaffee nippte.

„Ich glaube nicht, dass sie wahr sind“, sagte sie schließlich und setzte mit einem leisen Klirren ihre Tasse ab. „Ich glaube an nichts, aber ich halte alles für möglich. Ich muss mich damit abfinden, dass ich die Wahrheit nicht kenne. Diese Mythen liefern eine Erklärung für die Existenz. Sie lassen sich nicht beweisen, lassen sich aber auch nicht widerlegen.“

„Es gibt deutlich plausiblere Theorien für die Entstehung des Lebens“, begehrte ich auf.

„Keine dieser Theorien lässt sich endgültig beweisen“, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort und bekundete damit mehr Schneid, als ich ihr zugetraut hätte. „Aber jede Theorie wird irgendwann widerlegt. Du kannst an die Mythen der Norvolken glauben oder an wissenschaftliche Theorien, wenn dir das lieber ist. Aber der Wahrheit kommst du nicht näher, egal wie du dich zuletzt entscheidest.“ Ich schwieg einen Augenblick, während ich über ihre Worte nachdachte. Dann nickte ich anerkennend.

„Ich stimme dir zwar nicht zu“, sagte ich. „Aber ich stimme dir auch nicht nicht zu.“

Sie lächelte. „Freut mich, dass wir uns nicht uneinig sind.“

Beim Abschied fragte ich beiläufig, ob sie schon einmal das Hafenviertel von Treedsgow gesehen habe.

Sie verneinte. „Ich hörte, dass dort ein Dampfschiff ankert.“

„Als ich zuletzt dort war, war es noch da“, sagte ich. „Wir könnten hingehen und es uns zusammen ansehen.“

Emily blickte zerstreut ins Leere. Ich schluckte schwer, während die gelassene Maske, die meine Unsicherheit verbarg, zu rutschen drohte. Lieber hätte ich Dr. Carter, unserem Professor in Physik, einen Kuss auf die runzeligen Lippen gedrückt, als ihr Zögern eine Sekunde länger ertragen zu müssen. Unstete Gedanken jagten durch meinen Kopf. Sollte ich etwas sagen? War doch nur ein Scherz. Ich gehe jetzt. Vielleicht trifft man sich ja mal wieder. Oder auf eine Antwort warten? Ich stellte mir vor, wie ich aufsprang, ihr meinen Stuhl in den Weg warf und fortrannte.

„Das würde mich sehr freuen“, sagte sie, und eine so große Last fiel mir vom Herzen, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn ich vom Boden abgehoben hätte.

Emily sah aus dem Fenster. Ihr Blick war geistesabwesend, wenngleich nicht in die Ferne gerichtet … eher so, als sähe sie etwas in der Spiegelung des Fensterglases.

W. D. Walker

31. FRÜHLINGSMOND 1713, RUHENACHT

Soeben kehrte ich von meinem jüngsten Treffen mit Emily zurück.

Ich holte sie an diesem Nachmittag vor ihrer Wohnungstür ab. Als sie die Tür öffnete, wurde ich von ihrem Anblick regelrecht überfahren. Sie trug anders als bei unseren ersten beiden Begegnungen weder Rock noch Bluse, wie es für Studentinnen üblich ist, sondern ein hochgeschlossenes, weißes Kleid. Außerdem eine Mantille um die Schultern und einen großen Sommerhut aus Stroh.

Ich schenkte ihr ein Lächeln und bot ihr den Arm dar. Sie hakte sich ein, ohne zu zögern, und wir spazierten hinunter ins Hafenviertel.

„Ist das ein Glücksbringer?“, fragte ich mit Blick auf einen winzigen Stoffbeutel, der an einer Lederschlaufe um ihren Hals hing. Emily blickte überrascht an sich hinab und ließ den Beutel kurzerhand unter dem Stoff ihres Kleides verschwinden.

„Es ist ein Mojo“, erklärte sie widerwillig. „Ein Talisman origonischen Ursprungs.“

Ich lachte. „Ein Talisman? Mit magischen Kräften?“

In Erwartung, ein klares Nein zu hören, wirkte ihr Schweigen lang, beinahe verlegen. Glaubte sie etwa tatsächlich an die übersinnlichen Kräfte von Talismanen?

„Es hat natürlich keine Zauberkräfte“, sagte sie. „Ich finde es bloß hübsch. Und es riecht gut.“

Es war ein schöner Tag. Sonnig, wenn auch stürmisch. Das Meer warf große Wellen gegen die Kaimauer, und die Segel vieler kleiner Boote knatterten im Wind.

Das Dampfschiff war noch da. Emily betrachtete staunend den großen Schornstein und die Schaufelräder am Rumpf. Schwarze Lettern verkündeten den Namen des Gefährts: Royal Mordred. Obwohl ich den Dampfer bereits gesehen hatte, erfüllte sein Anblick mich wieder mit Ehrfurcht. Ich bewahrte eine gelassene Miene, als wäre ich durch nichts auf dieser Welt zu beeindrucken.

„Ich würde gern einmal auf der Royal Mordred fahren“, schwärmte Emily. „Du nicht auch?“ Der Wind hatte ihr den Strohhut in den Nacken geweht. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz befreit und deutete wie ein Hinweispfeil unablässig wedelnd auf das Mal über ihrer Augenbraue. Irrte ich oder sah sie heute noch bezaubernder aus als sonst?

Eine große Welle brach an der Kaimauer. Gischt spritzte auf, und Emily wich erschrocken zurück.

Ich lachte.

„Es ist doch nur Wasser“, sagte ich und stellte mich vor sie, wie um das Wasser abzufangen.

Sie errötete. „Hab mich erschrocken“, murmelte sie und wich meinem Blick aus.

Immer noch schmunzelnd deutete ich auf ein Café und bot an, ihr eine Cola zu spendieren.

Insgesamt kann von einer gelungenen Verabredung die Rede sein. Wir tranken Cola und spazierten die Promenade entlang. Wir redeten über die norvolkischen Mythen, über das Studentenleben in Treedsgow, über uns.

Emily sagte, dass sie alle halbe Jahre den Konzerten der Treedsgower Philharmoniker lauschte.

„Ich würde dich gerne einmal begleiten“, sagte ich.

Emily schwieg. Ihre Miene war nicht abweisend, eher abwesend genau wie vor zwei Tagen im Coffee-House Calvin. Was beschäftigte sie? Fühlte sie sich womöglich bedrängt?

Schließlich deutete sie auf eine Bank mit Blick auf das Meer und schlug vor, sich zu setzen. Das dunkle Wasser war an diesem Abschnitt der Küste zurückgewichen, und hinter der Kaimauer lag ein breiter Sandstrand. Schweigend lauschten wir dem Rauschen der Wellen. Die Sonne versank hinterm Horizont. Es war keine peinliche Stille, wie Ed sie fürchtete, eher eine stillschweigende Übereinkunft, den Zauber des Augenblicks nicht durch sinnlose Worte zu verscheuchen.

Nach einer Weile lehnte Emily ihren Kopf an meine Schulter. Ich rührte mich nicht, als wäre sie ein Vogel, den ich nicht erschrecken wollte. Die Sonne war schon fast im Meer versunken und unzählige Sterne glitzerten am Himmel. Eine kühle Brise trug uns den Salzgeruch zu, und Emily schlang fröstelnd die Arme um den Leib. Ohne nachzudenken, legte ich ihr den Arm um die Schultern und wartete mit klopfendem Herzen auf Widerspruch. Aber Emily schwieg und rührte sich nicht.

„Kennst du die Sternenbilder der Norvolken?“, fragte ich leise, als nur noch ein orangeroter Streifen über dem Meer an den vergangenen Tag erinnerte, und die Straßenlaternen entlang der Promenade aufflammten.

„Nicht alle, aber einige“, flüsterte Emily, legte den Kopf in den Nacken und deutete himmelwärts. „Die Hemisphäre lässt sich in drei Abschnitte unterteilen. Blickst du in Lotrichtung nach oben, siehst du Stahl.“ Ich folgte ihrem Blick. „Wenn du die Sterne richtig verbindest, bilden sie seine Silhouette, wie er die Hand nach dem Mond ausstreckt.“ Ihre Stimme lächelte. „Du erinnerst dich, dass der Mond der Sage nach das silberne Schloss von Tyr, dem Götterbildner, ist? Dass er es zum Gefängnis seiner Tochter Ea machte, weil sie ihren Sohn ins Leben zurückholte?“

„Du meinst Lotin?“

Bei der Erwähnung des Namens zuckte Emily zusammen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ihre Hand zum Talisman fuhr.

Sie fasste sich schnell. „Stahl vermisst seine Schwester“, fuhr sie fort, als wäre nichts gewesen. „Die Sternenbilder zwischen den Linien auf der Höhe von dreißig und sechzig Grad zum Horizont sind die Kinder von Ea und werden deshalb auch die zweite Generation genannt. Zwölf mal Zwölf Bilder sind es. Dort sind Einar, Alfgard und Oddleif. Von null bis dreißig Grad ist entsprechend die dritte Generation …“

Ich lauschte verträumt dem Klang ihrer Stimme. Ich hätte mit ihr die ganze Nacht verbringen können, nein, die Ewigkeit auf dieser harten Holzbank mit Blick auf das inzwischen spiegelglatte Meer, in dem sich der Sternenhimmel von Treedsgow zeigte, ihr Kopf an meiner Schulter.

„Mir ist kalt“, murmelte Emily irgendwann. Wir verließen den Hafen. Vor ihrer Wohnung verabschiedete ich sie mit einem Kuss auf die Hand.

W. D. Walker

34. FRÜHLINGSMOND 1713, WERKTAG

Vor drei Tagen habe ich Emily das letzte Mal gesehen. Sie studiert Astronomie. Sie besucht andere Vorlesungen als ich. Sie hält sich in Gebäuden auf wie dem Hemisphärion oder dem astronomischen Observatorium und ist allenfalls in gemeinschaftlich genutzten Räumen wie der Mensa oder der Bibliothek anzutreffen. Es ist also eher dem Zufall überlassen, ob ich ihr auf dem Campus begegne.

Ich habe einen Brief geschrieben. Ich möchte sie wiedersehen! Es kostet mich meine gesamte Willenskraft, um ihn nicht sofort unter ihrer Wohnungstür durchzuschieben. Sie soll nicht wissen, wie sehr ich mich nach ihrer spitzen Nase und jenem Mal über ihrer linken Braue sehne.

Allein zu wissen, dass es sie gibt, beflügelt mich. Ich wache morgens auf, bevor mein Wecker schellt. Ich erledige meine täglichen Aufgaben stets gut gelaunt, bisweilen sogar mit einem Lied auf den Lippen. Nichts kann mich verstimmen. Nichts!

W. D. Walker

36. FRÜHLINGSMOND 1713, MITTVIERT

Soeben schob ich den Brief unter Emilys Tür durch. Ich habe bei einem der anderen Hausbewohner geschellt, um ins Treppenhaus zu gelangen. Nun heißt es: warten.

W. D. Walker

5. URBAN 1713, VIERTMORGEN

Emily lässt sich Zeit. Warum? Ist sie zu beschäftigt? Gibt es so viele Dinge, die ihr wichtiger sind? Diese Frage klingt selbst in meinen Ohren narzisstisch, aber wenn ich unser letztes Treffen Revue passieren lasse, glaube ich, dass sie mich mag. Warum also lässt sie mich warten?

Vielleicht sucht sie nur die richtigen Worte …

W. D. Walker

(Auf die nächste Seite war ein Brief eingeklebt. Emilys Antwort. Ich strich über die Zeilen, die sie verfasst hatte, meine Schwester, die ich für tot gehalten hatte. Eine Erinnerung fand mich. Daran, wie neidisch ich auf Emilys saubere Handschrift gewesen war. Ich hatte versucht, die Schnörkel, die sie an jedes ‚L‘hängte, zu imitieren, und es ihr gegenüber heftig abgestritten. Die Schnörkel machte sie immer noch.)

7. URBAN 1713, STAHLTAG

Lieber William.

Ich kann einem weiteren Treffen nicht zustimmen. Die Leute reden. Ich möchte meinen Platz an der Universität nicht verlieren. Ich hoffe, du verstehst das.

Alles Liebe

Emily

Mein Kopf ist leer, und ich bin müde.

Als Edwina und ich uns trennten, wurde es finster um mich herum. Eine Zeit lang war ich gefühlsblind, aber ich gewöhnte mich an die Dunkelheit, sah wieder Formen, wenn auch keine Farben.

Ich übte mich in Geduld.

Dann öffnete sich eine Tür, und Emily trat in mein Leben. Goldenes Licht begleitete sie wie eine Aura, und ich sah, wie viel schöner alles sein konnte. Sie reichte mir einen Kelch, ließ mich von neu erwachter Liebe kosten, nur einen winzigen Schluck …

Bloß um mir alles im nächsten Augenblick zu nehmen. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und ich stehe wieder im Dunkeln. Das goldene Licht hat sich in meine Netzhaut gebrannt, ein verblassender Abglanz des Glücks, der mich höhnisch daran erinnert, wie schön das Leben sein könnte. Ihre Nase, das Mal über ihrer Augenbraue – nicht für mich.

Ich jammere nicht. Ich grüble nur.

Hatte ich mich so sehr in Emily getäuscht? Hatte ich ihre Signale falsch gedeutet? Sie hatte es geschehen lassen, dass ich sie flüchtig berührte, hatte mir bisweilen sogar Komplimente gemacht. Sie hatte bei unserem letzten Treffen ihren Kopf an meine Schulter geschmiegt – eine rührende Geste.

Aber mir scheint, ich messe solchen Dingen eine zu große Bedeutung bei.

Ich denke manchmal, Emily hätte vorsichtiger sein müssen, wo ihr doch von vornherein klar gewesen war, dass sie ihren Platz an der Universität riskierte. Vielleicht war es nur ein Vorwand, um mich nicht wiedersehen zu müssen. Vielleicht hatte sie sich erst nach unserem letzten Treffen dazu entschieden, mir eine Abfuhr zu erteilen. Wie muss der Mann sein, für den sie ihr Studium riskieren würde? Gewiss maskuliner als ich. Weniger an Büchern interessiert und mehr an Abenteuern. Breit gebaut, markante Züge, dominant.

Vielleicht mag sie mich ja, kann mich aber nicht lieben.

Ed klopfte mir tröstend auf die Schulter und versprach mir, sich mit mir am Viertende zu betrinken.

W. D. Walker

10. UBRAN 1713, LOHNTAG

Es fällt mir leicht, mich auf die Worte unserer Professoren zu konzentrieren. Während die meisten Studenten sehnsüchtig aus dem Fenster blicken, gilt meine Aufmerksamkeit nur der Tafel. Draußen lacht die Sonne und schert sich einen Dreck darum, wer empfänglich ist für ihre gute Laune.

Ich lasse nicht zu, dass meine Gedanken abschweifen. Ich versuche mich von Emily abzulenken, doch das Schicksal treibt ein hämisches Spiel mit mir.

Wie zu Beginn des Semesters betrat ich heute nach den Veranstaltungen des Tages die Bibliothek, um mich für ein bis zwei Stunden zwischen den Seiten eines Buches zu verlieren. Emily schien dort nur auf mich zu warten. Mit einem turmhohen Bücherstapel in den Armen wie bei unserer ersten Begegnung, als wollte sie sich über mich lustig machen.

Ich verbarg meinen Kummer hinter einem flüchtigen Lächeln. Emily erwiderte das Lächeln, doch es wirkte fehl am Platz. Ich ersparte uns eine gezwungene Konversation und tauchte zwischen den Regalreihen ab.

Es schmerzte, sie zu grüßen, als wäre sie bloß eine flüchtige Bekanntschaft. Dabei konnte nach zweieinhalb Treffen mit einer bislang völlig fremden Person doch von nichts anderem die Rede sein. Es wird das Beste sein, Abstand zu ihr zu halten.

W. D. Walker

12. URBAN 1713, RUHENACHT

Ich erwachte an diesem Morgen mit pochendem Kopf. Ich hatte vergessen, vorm Zubettgehen die Vorhänge zu schließen. Helles Sonnenlicht bohrte sich durch meine Lider. Ich blinzelte. Stöhnend setzte ich mich auf, und Wellen der Übelkeit überrollten mich. Ich stieg aus dem Bett und stürzte zum Abort. Nachdem ich mich übergeben hatte, versuchte ich mich an den gestrigen Abend zu erinnern.

Ed und ich waren ins Ampère gegangen, wo wir zwei unserer Kommilitonen getroffen hatten: Malcolm und Clive, die während der Physikvorlesung neben mir sitzen. Die beiden haben ihren Studienschwerpunkt auf Chemie gelegt und kennen die tollsten Geschichten über misslungene Experimente.

Wir tranken Bier und lauschten ihren Berichten. Sogar ich lächelte, als ich hörte, dass einst die Hose von Dr. Evans Feuer gefangen hatte, und er gezwungen gewesen war, sie vor aller Augen auszuziehen und aus dem Fenster zu werfen.

Als wir das Ampère um Mitternacht verließen, war ich betrunken. Ich weiß noch, dass wir beschlossen, runter zum Hafen zu gehen. Aber zuvor stellten wir uns in einer Reihe auf und pinkelten Eds Namen an eine Hauswand. Dabei muss ich mein Erinnerungsvermögen zusammen mit mehreren Litern Bier ausgeschieden haben. Alles Weitere liegt hinter einem Dunstschleier aus Bierschwaden, Gelächter und einer vagen schlüpfrigen Empfindung verborgen.

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Lippen und holte eine mit Wasser gefüllte Glaskaraffe aus der Küche. Ich spülte den Mund aus und trank mit gierigen Schlucken direkt aus der Karaffe.

Als ich in mein Zimmer zurückwankte, fest entschlossen, den ganzen Tag im Bett zu verbringen, fest entschlossen, nie wieder Alkohol zu trinken, lief ich sinnbildlich vor eine Wand.

In meinem Bett lag ein Mädchen.

Eine Dosis Aufputschmittel für Pferde hätte mich nicht wacher machen können. Und trotzdem war ich wie gelähmt. Ich stand eine gefühlte Stunde einfach da und starrte sie an. Sie war hübsch, dabei nahezu unbekleidet. Ihr Kopf ruhte auf einer Mähne goldenen Haares, und einer ihrer nackten Füße ragte unter der Bettdecke hervor.

Erinnerungsfetzen wirbelten durch meinen Kopf. Erinnerungen an stürmische Küsse, keuchenden Atem und fahrige Hände. Es wunderte mich, dass ich überhaupt eine Schlafanzughose trug.

Bevor ich das Zimmer verlassen konnte, bevor ich Ed aufsuchen, ihn wachrütteln und anrufen konnte, alles wieder in Ordnung zu bringen, ihn zumindest fragen konnte, wer da in meinem Bett lag, öffnete das Mädchen die Augen. Es blinzelte das Sonnenlicht aus den langen Wimpern und setzte sich auf, wobei es die Bettdecke an die Brust drückte. Sie ließ den Blick schweifen mit einer Miene, als käme sie aus einer anderen Welt. Ihre Augen blieben zuletzt an mir hängen und weiteten sich vor Schreck.

„Oh nein“, murmelte sie mit vom Schlaf brüchiger Stimme. Nicht gerade schmeichelhaft. Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen und fasste sich an die Stirn. Und dann hörte ich sie tatsächlich sagen: „Nicht schon wieder.“

Beinahe stolperte mir ein Lachen über die Lippen. Ich würgte es ab, konnte ein Lächeln in der Stimme jedoch nicht unterdrücken.

„Ich wünschte, ich könnte dasselbe behaupten.“

Sie reagierte nicht, und die Situation verlor schnell an Amüsement. Sie war offenbar unglücklich. Ich nagte an meiner Unterlippe, während ich überlegte, wie ich ihr am besten gestand, dass ich mich an fast nichts erinnern konnte – ihren Namen eingeschlossen.

Ich holte tief Luft. „Nur für den Fall, dass du dich an genauso wenig erinnerst wie ich: Mein Name ist William.“

Ich wartete in der Hoffnung, dass sie meinen Wink verstanden hatte. Aber entweder verstand sie nicht, oder sie wollte nicht verstehen.

Das Mädchen setzte sich schweigend auf. Ihr Blick ruhte eine Weile auf mir, schweifte dann erneut durchs Zimmer und blieb zuletzt an dem Schreibtisch hängen. „Bist du Student?“

Ich nickte. „Ich studiere elektronische Technik. Und du? Du kommst aus dem Hafen, nicht wahr?“

Sie musterte mich mit einer Mischung aus Tadel und Belustigung. „Du solltest deine Zunge nur noch zum Küssen benutzen, William David Walker, und nicht mehr zum Sprechen. Was bist du nur für ein Mensch, der ein Mädchen gleich am nächsten Morgen fragt, wie sie heißt und woher sie kommt? Ich muss jetzt gehen.“ Unbekleidet, von einem hauchdünnen Unterkleid aus weißem Leinen abgesehen, verließ sie das Bett und fing an, ihre Kleidungsstücke einzusammeln.

„Hast du eine Uhr?“, fragte sie, während sie unter dem Bett nach ihrem Schlüpfer angelte. Ich riss den Blick von ihrem hochgereckten Hinterteil los, ging zum Nachttisch und schob einen ihrer Strümpfe vom Wecker.

„Kurz nach acht.“

„Oh, gut“, sagte das Mädchen. Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und streckte nacheinander die langen Beine aus, um ihre Strümpfe bis zu den Waden hochzuziehen. Ihre Bewegungen flossen, ein wahrhaft anmutiger Anblick, wie die samtenen Schritte eines Panthers auf der Pirsch. Ihre nackte Haut erstrahlte im goldenen Licht der Sonne, sodass man die Muskeln und Sehnen ihrer schlanken Beine arbeiten sehen konnte. Sie muss Tänzerin sein, überlegte ich, eine Ballerina. Sie verursachte keinen Laut, wenn sie lief, und hinterließ keine Spuren im Schnee, konnte auf einer Straße aus Mondlicht über Wasser gehen, oder auf dem Haar einer Elfe balancieren.

Sie hob den Kopf und sah, dass ich sie beobachtete. Unter Aufbietung all meiner Willenskraft riss ich den Blick von ihr los und fokussierte das Tintenfass auf dem Schreibtisch. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen stahl.

„Wo hab ich bloß …“, murmelte sie, sobald sie vollständig eingekleidet war, und drehte sich einmal um sich selbst.

Ich ließ den Blick schweifen und bemerkte eine Lederschlaufe, die von einem Kerzenleuchter an der Wand hing. Daran befestigt war eine Scheide, in der ein Messer mit gefährlich gebogener Klinge steckte. Es sah aus wie die Sorte von Waffe, mit der man jemandem die Kehle von einem Ohr bis zum anderen aufschnitt.

„Suchst du das hier?“, fragte ich und nahm es mit spitzen Fingern von der Wand. Die Miene des Mädchens hellte sich auf.

„Du hast es gefunden“, sagte sie lächelnd und hielt mir die offene Handfläche hin.

Ich zögerte, musterte sie scharf. „Warum trägst du das mit dir rum?“

„Hast du etwa Angst?“, fragte sie und hob spöttisch eine Braue.

Ich schwieg und wartete auf eine Erklärung.

Sie verdrehte die Augen. „Der Hafen ist eine gefährliche Gegend für ein hübsches Mädchen. Besonders nachts. Weißt du das nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ihr Akademiker wisst offenbar nur noch, was in euren Büchern vor sich geht. Jetzt gib mir schon das Messer.“

Ich musterte sie ein letztes Mal, bevor ich ihr die Waffe reichte. Sie stellte ihren linken Fuß auf das Bett und band sich die Schlaufe um den Oberschenkel. Dabei hob sie den Rock auf eine Weise an, die skandalös gewesen wäre, wäre die vergangene Nacht nicht bereits ein einziger Skandal gewesen. Zuletzt schlüpfte sie in ihre Schuhe. Dann trat sie vor mich, strich ihre Kleidung glatt und räusperte sich verlegen.

„Du bist eigentlich ganz nett, William David Walker“, sagte sie. „Vielleicht sehen wir uns wieder.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich auf die Lippen. Ihr Mund kam meinem Ohr sehr nahe, und sie flüsterte: „Machst du das von gestern Nacht eigentlich mit jeder Frau? Oder nur mit denen, die du magst?“

Ich riss die Augen auf und blieb ihr eine Antwort schuldig. Sie lachte. „Zu schade, dass du dich an nichts erinnerst.“ Sie streichelte flüchtig meinen nackten Bauch, als sie sich abwandte und mein Zimmer verließ. Sekunden später hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ich stellte mich ans Fenster und wartete, bis sie auf der Straße war. Mit gemischten Gefühlen blickte ich ihr nach, während sie ihr wirres Haar durch ein Stück Schnur bändigte.

Ich dachte an Emily.

W. D. Walker

23. URBAN 1713, VIERTMORGEN

Lohntag bemerkte ich einen Aushang am Labor für Elektromechanik. Dr. Hunt suche studentische Hilfskräfte für ein Entgelt von einem Groschen pro Viertel, hieß es auf dem Papier. Wer interessiert sei, solle sich bei Hunt im Büro melden.

Das war die Gelegenheit, um die Erinnerung an Emily und neuerdings auch an das Mädchen aus dem Hafen zu vertreiben.

So kam es, dass ich heute Nachmittag mit zwei weiteren Kommilitonen im Labor für elektronische Technik arbeitete. Wir assistierten Hunt bei Experimenten, sorgten für Ordnung im Labor und übernahmen solche Aufgaben, die ungefährlich und einfach waren.

Soeben beauftragte Hunt mich, einen Gleichstrom-Elektromotor auseinanderzunehmen, als die Klingel der Rohrpoststation läutete. Hunt nahm die Büchse aus der Fassung, holte den hastig zusammengefalteten Brief heraus und überflog die Nachricht. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, soweit sein üppiger Bart dies erkennen ließ.

„Meine Frau hat sich ein Bein gebrochen“, rief er schon im Hinausgehen. „Um fünf dürft ihr Feierabend machen.“ Und weg war er. Ich hob die Brauen und wechselte Blicke mit meinen Kommilitonen Oliver und Scott. Es ist Studenten untersagt, sich ohne Aufsicht im Labor aufzuhalten.

Ich zuckte die Achseln und griff nach einem Schraubendreher.

„Kennst du die?“, fragte Oliver nach einer Weile und schob die Brille hoch, die ihm ständig von der Nase rutschte. Ich folgte seinem Blick aus dem Fenster. Der Schraubendreher glitt mir aus den Fingern. Dort stand das Mädchen aus dem Hafen. Ihr goldenes Haar brannte im Licht der nachmittäglichen Sonne. Sie winkte und tauchte seitlich im Rahmen ab. Olivers, Scotts und meine Blicke trafen sich und richteten sich dann auf die Tür. Sekunden später flog sie auf.

„Hallo“, sagte das Mädchen und schenkte Oliver und Scott ein bezauberndes Lächeln, bevor sie ihren Blick auf mich richtete.

„Hallo“, sagte Oliver, lächelte dümmlich und wurde knallrot. Scott klemmte bloß die Hände unter die Achseln. Ihm schien es regelrecht die Sprache verschlagen zu haben. Man hätte meinen können, die beiden sähen zum ersten Mal ein Mädchen.

„Du bist nicht befugt, dieses Labor zu betreten“, sagte ich. Sie überhörte die Worte, ging an der Werkbank entlang und betrachtete die Einzelteile des Gleichstrom-Motors. „Ich finde es ja so interessant, was ihr hier alles habt“, sagte sie fröhlich. „Was passiert, wenn ich hier dran ziehe?“

„Nicht!“, riefen Oliver, Scott und ich wie aus einem Munde.

Sie lächelte und zog die Hand von dem Hebel zurück. Ich trat zu ihr und fasste sie mit beiden Händen an den Oberarmen.

„Du musst jetzt wirklich gehen“, sagte ich und bugsierte sie zum Ausgang. „Wenn Hunt dich hier sieht, bekommen wir richtig Ärger.“

„Weil ich ein Mädchen bin?“, fragte sie und schob die Unterlippe vor.

„Weil du nicht unterwiesen bist“, berichtigte ich sie. „Ein Labor ist ein gefährlicher Ort.“

„Ich möchte mit dir reden.“ Sie befreite sich aus meinen Händen und stellte sich mir in den Weg.

„Ich habe gleich Feierabend“, sagte ich. „Kennst du das Coffee-House Calvin?“ Sie nickte. „Wir treffen uns dort.“

„Einverstanden. Bis dann.“ Sie winkte Oliver und Scott zum Abschied, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss auf den Mundwinkel.

„Bis dann“, murmelte Scott, als sie weg war.

„Wo hast du die denn kennengelernt?“, fragte Oliver begeistert.

„Tja“, sagte ich und kratzte mich am Hinterkopf. „Weiß ich leider auch nicht mehr. Muss wohl irgendwo am Hafen gewesen sein.“ Oliver schien nicht so recht zu wissen, ob ich scherzte.

Eine viertel Stunde später verließ ich das Labor und überquerte auf kürzestem Wege zum Coffee-House Calvin den Universitätscampus. Als ich das Café betrat, war das Mädchen noch nicht dort. Ich ließ mich an einem Tisch nieder und bestellte eine Cola. Jemand tippte mir an die Schulter. Ich drehte mich um, überrascht, weil ich nicht gesehen hatte, wie das Mädchen das Café betreten hatte, und blickte noch überraschter drein, als ich erkannte, dass nicht das Mädchen vom Hafen mich angetippt hatte, sondern Emily. Mir sank der Mut.

„Emily. Was machst du hier?“

„Darf ich mich setzen?“, flüsterte sie.

„Natürlich.“ Ich warf einen flüchtigen Blick zum Eingang. Emily hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht an mir interessiert war. Trotzdem überkam mich ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, sie könne von mir und dem Mädchen erfahren, dessen Namen ich nicht einmal kannte.

„Wie geht es dir?“, fragte ich beiläufig.

„Gut“, sagte Emily leise, ohne mir in die Augen zu sehen. Ich musterte sie. Sie hatte ihr Haar wie schon einmal mit einer blauen Schleife zusammengebunden, doch es wirkte wie eine lustlose Geste. Sie war blass, und unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab.

„Hast du schlecht geschlafen?“, fragte ich besorgt.

Emily antwortete nicht. Sie schien um Worte zu ringen, während ihre Rechte über den Stoff ihrer Bluse tastete, dort, wo sich undeutlich das Mojo abzeichnete.

„Ich muss mit dir reden“, sagte sie und blickte mir erstmals in die Augen. „Über den Brief …“

Das Herz wurde mir schwer. „Da gibt es nichts zu bereden“, sagte ich müde und wich nun meinerseits ihrem Blick aus. „Ich verstehe das. Du musst nichts rechtfertigen.“

„Ich muss etwas richtigstellen“, beeilte sie sich zu sagen, als fürchtete sie, der Mut könne sie verlassen. Ihr Blick fixierte nun einen Punkt über meiner rechten Schulter.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Richtigstellen?“, wiederholte ich. Doch Emily schwieg. Ich folgte ihrem Blick und erst da bemerkte ich, dass das Mädchen aus dem Hafen hinter mir stand.

„Hallo, William“, sagte sie mit zuckrigem Lächeln. „Du hast nicht gesagt, dass noch jemand hier sein würde.“ Sie musterte Emily abschätzig.

Ich erwog kurz, den Kopf gegen die Tischplatte zu hämmern, besann mich aber eines Besseren. „Das ist …“, setzte ich an.

„Emily, nehme ich an“, fuhr das Mädchen mir dazwischen und lächelte dünn. Eine Gänsehaut überkam mich. Wie viel hatte ich ihr erzählt, als ich betrunken gewesen war? „Ich bin Diane. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Diane. So hieß sie also.

„Ebenso“, sagte Emily. Sie warf mir einen fragenden Blick zu. In dem Schweigen, das nun folgte, lag eine Spannung wie zwischen zwei unterschiedlich geladenen Polen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ein Lichtbogen von Diane zu Emily übergesprungen wäre.

Emily erhob sich. „Dann bis irgendwann, William“, sagte sie und klang müde.

„Wir reden später“, sagte ich, doch Emily winkte ab.

„Ist nicht so wichtig.“ Sie warf Diane einen flüchtigen Blick zu. „Wiedersehen, Diane.“

„Wiedersehen“, sagte Diane und blickte Emily nach, bis sie das Café verlassen hatte.

„Was wollte die denn?“, fragte sie und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber.

„Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Es scheint ihr nicht gut zu gehen.“ Ich erwog, ihr zu folgen, fing Dianes Blick auf und wusste, dass ich mich gedulden musste. „Ich werde später nach ihr sehen.“ Diane schwieg, rang vermutlich den Impuls nieder, es zu kommentieren.

„Wie geht es dir?“, fragte ich, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

Jetzt lächelte sie wieder, fast wie auf Kommando, und ergriff meine Hand, die neben dem Colaglas lag. „Ich habe dich vermisst.“

Ich rang mir ein Lächeln ab und erwiderte ihren Händedruck. „Dabei kennst du mich kaum“, sagte ich. Sie wurde rot, hielt meinem Blick jedoch stand.

„Im Gegensatz zu dir erinnere ich mich an unsere erste Begegnung“, sagte sie, zog ihre Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß, wer du bist, William David Walker. Weißt du auch, wer ich bin?“

„Nein“, räumte ich ein. „Bitte entschuldige, aber meine Erinnerung hat mich im Stich gelassen.“ Leider hatte auch Ed mir nicht weiterhelfen können.

„Ich bin enttäuscht von dir“, sagte Diane und schob schmollend die Unterlippe vor. „Bin ich so langweilig, dass ich keinen bleibenden Eindruck in deinem Gedächtnis hinterlassen habe?“ Die ehrliche Antwort wäre ein klares Ja, ohne jeden Zweifel! gewesen. Diane ist eine Schönheit, darin besteht kein Zweifel. Ihre Haut ist ebenmäßig, ihr Gesicht wohl proportioniert. Sie hat eine schlanke Figur, wohlgeformte Brüste und eine wahrhaft grazile Art, sich zu bewegen. Ich habe mich in den Tagen nach meiner durchzechten Nacht oft gefragt, wie jemand wie sie sich in mein Bett verirren konnte. Aber so schön sie auch sein mag, es fehlt ihr an Profil, um sich in mein Gedächtnis einzuprägen. Ihr fehlt die spitze Nase, das kleine Lächeln und das Mal über der linken Braue. Zugegeben, ich kenne sie kaum, und dass sie ein Messer bei sich trug, macht sie auf gewisse Weise interessant, wenn auch nicht gerade attraktiv.

„Nimm es nicht persönlich“, sagte ich. „Es gibt Mächte, denen kein Gedächtnis gewachsen ist.“

„Du meinst Whisky?“ Ich nickte und erntete ein Lachen. „Also gut. Ich verzeihe dir. Schließlich warst du sehr nett zu mir.“ Sie schenkte mir einen vielsagenden Blick. „Was hieltest du davon, diesen Viertabend ins Fourier zu kommen? Dort kannst du mehr über mich erfahren.“

„Was ist im Fourier?“

Sie schlug gekonnt die Augen auf und lächelte geheimnisvoll. „Lass dich überraschen.“ Sie stand auf. „Ich rate dir, dort zu sein.“ Die Drohung war als Scherz gemeint, doch ich runzelte verärgert die Stirn. Diane hatte zuweilen eine unangenehm besitzergreifende Art.

Sie wandte sich um, nicht ohne ihr Haar im Licht der Abendsonne aufleuchten zu lassen. Ich sah ihr nachdenklich hinterher, bis sie das Café verlassen hatte. Diane ist nicht die Sorte von Frau, für die ich mich interessiere. Aber Emily hat mich gelehrt, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Und was weiß ich schon über Diane, außer vielleicht, dass sie von eifersüchtiger Natur ist? Ihre Schönheit hatte Oliver und Scott regelrecht den Atem geraubt. Ich könnte mich glücklich schätzen.

Nur was hatte Emily mit richtigstellen gemeint?

Sie will dir eine zweite Chance geben, tönte eine ziemlich naive Stimme aus meiner Brust. So ein Unsinn! Ich rief mir die Zeilen ihres Briefes ins Gedächtnis, was nicht schwer war, weil ich ihn unzählige Male gelesen habe. Vielleicht wollte sie mich wiedersehen, bloß um unsere Freundschaft zu erhalten … Aber dann war Diane aufgetaucht, und Emilys Anliegen war unausgesprochen geblieben.

Emily hatte niedergeschlagen gewirkt. Wieso? Konnte Diane der Grund sein? Meine Beziehung zu ihr hätte ihr nur recht sein müssen, jedenfalls wenn sie tatsächlich nicht an mir interessiert war.

Es sei denn …

Sie verzehrt sich nach dir, rief mein Herz und hüpfte vor Aufregung. Ich hätte mir das nutzlose Ding am liebsten aus der Brust gerissen und durch den Raum geschleudert, um endlich in Ruhe nachdenken zu können.

Ich rief mir Emilys Erscheinung in Erinnerung. Blass, kraftlos …

Etwas stimmt nicht mit ihr … Vielleicht braucht sie Hilfe. Nur warum soll sie sich ausgerechnet an mich wenden? Gewiss gibt es da noch andere.

Und was, wenn nicht?

Kann es sein, dass Emily einsam ist? Dass sie sich an mich wandte, weil es sonst niemanden gibt? Sie hat etwaige Freunde oder Verwandte nie erwähnt. Vielleicht braucht sie meine Hilfe, doch hat sie beim Anblick Dianes den Mut verloren. Macht es da Sinn, dass sie etwas richtigstellen wollte? Etwas, das sie mir in ihrem Brief geschrieben hat?

Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen …

Ich leerte die Cola und winkte einem Kellner. Was auch immer Emily zu mir geführt hatte, ich wollte es herausfinden.

Als ich eine halbe Stunde später an ihrer Wohnung läutete, öffnete niemand. Ich verfluchte mich stumm. Warum war ich ihr im Café nicht stehenden Fußes gefolgt?

Ich werde es morgen wieder versuchen.

W. D. Walker

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild

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