Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 19

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Im Verwunschenen Tal

Erntezeit. Es herrschte tiefste Nacht. Die Luft war feucht und schmeckte nach Baumharz. Ein weicher Nadelteppich dämpfte die Schritte des Marionettenmannes. Er folgte dem Verlauf einer steilen Felswand, die dem Tannenwald Einhalt gebot wie eine vorgehaltene Hand. Bald gelangte er zu einer dreimannhohen Öffnung, die den Fels wie ein gezackter Blitz spaltete. Ein Windstoß sang klagend in der Finsternis.

Das Versteck der Bestie.

Der Marionettenmann betrat die Höhle. Dunkelheit umfing ihn. Ein warmer Luftzug schlug ihm entgegen und brachte einen Geruch mit sich, der an feuchtes Stroh und alte Socken erinnerte. Der Marionettenmann rümpfte die Nase. Das Licht seiner Laterne flackerte und ließ Schatten über die Höhlenwände tanzen. Ein Alb in wilder Vorfreude. Allmählich konnte er Rumoren hören, das aus den Tiefen stieg und mit jedem Schritt, den er tat, deutlicher wurde.

Jemand schnarchte. Markerschütternd.

Als er sich in unmittelbarer Nähe der Lärmquelle befand, streckte der Marionettenmann eine Hand aus und streifte im Gehen mit den Fingerspitzen über die raue Felswand. Nach wenigen Schritten ertastete er eine Spalte, die den Zutritt zu einem kleineren Tunnel darstellte. Er stellte seine Laterne davor ab und ging weiter. Der Gang beschrieb eine Biegung und mündete in einer Höhle, die im dämmrigen Licht eines fast verloschenen Feuers schwamm. Der Raum war riesig, wirkte jedoch beengt, wenn man die Gestalt betrachtete, die dort auf dem Boden schlief.

Das Wesen erinnerte entfernt an einen Menschen, war jedoch dreimal so groß und sah einfach verboten wild aus. Es hatte unförmige Gliedmaßen und eine Haut von bläulichem Grau wie der Fels, der seine Heimat war. Sein Schnarchen ließ den Boden vibrieren, die Luft war warm und feucht und geschwängert von einem bestialischen Gestank, den der Marionettenmann fast schmecken konnte. Der Gigant hatte eines seiner Beine von sich gestreckt, der Tunnelmündung entgegen.

Wie überaus zuvorkommend.

Die behaarten Zehen der Bestie erinnerten an Kartoffelknollen. Der Marionettenmann löste eine Kneifzange von seinem Gürtel und schlich näher. Neben dem gewaltigen Fuß ließ er sich auf ein Knie herab und unterzog die Gliedmaße einer Untersuchung. Er zählte sechs Zehen. Der kleinste Zeh, immer noch größer als jedweder menschliche Zeh, war kaum mehr als ein fleischiger Knubbel und hatte nicht einmal einen Nagel. Der große Zeh hingegen war am Gelenk schon sehr dünn und sah aus, als würde er bald abfallen. Der Marionettenmann hob die Kneifzange und setzte sie dort an. Er atmete tief ein …

Das Schnarchen des Giganten endete abrupt in einem Grunzen. Der Marionettenmann schluckte. Den Blick unverwandt auf den Zeh gerichtet betete er zu Tyr, dass das Geräusch wieder einsetzen möge. Aber das tat es nicht! Langsam hob er den Kopf und sah, dass die Augen des Giganten offen standen. Knochen vergangener Mahlzeiten steckten in seinem verfilzten Bart. Seine Augen starrten dumpf unter seinen Überaugenwülsten hervor.

Er sah ihn geradewegs an!

Die Bestie blinzelte.

Der Marionettenmann starrte zurück, unfähig, sich zu rühren.

Der Gigant blinzelte erneut. Grunzte. Dann fielen ihm die Augen zu, und das Schnarchen setzte wieder ein.

Der Marionettenmann atmete aus, zog die Kneifzange zurück und wartete eine gefühlte Stunde, bis seine Hände endlich aufhörten zu zittern, und er einen zweiten Versuch wagte. Dieses Mal öffnete er das Maul der Zange bis zum Anschlag. Er holte erneut tief Luft und drückte die Griffe mit aller Kraft zusammen.

Die rasiermesserscharfen Schneiden trennten die Zehenknolle sauber ab. Der Gigant fuhr brüllend aus dem Schlaf. Der Marionettenmann sammelte den Zeh mit fahrigen Händen auf und rannte zurück in den Hauptgang. Dies war einer jener seltenen Momente, da er dankbar war für seine grotesk langen Beine. Hinter ihm erschütterten die schweren Schritte der Bestie den Fels, rhythmisch wie Trommelschläge.

Bumm. Bumm. Bumm.

Kleine Steine hüpften über den Boden. Die Erschütterungen durchfuhren den Leib des Marionettenmannes, und jeder zweite, nein, jeder vierte Schlag seines Herzens beförderte es hinauf in seine Kehle, während das Monster rasend schnell aufholte.

Lauf, Marionettenmann. Lauf!

Nur noch wenige Schritte trennten ihn von dem rettenden Spalt, der vom Licht der Laterne markiert wurde, seine Lungen brannten, seine Beinmuskulatur schrie, er kämpfte gegen das Verlangen, einen Blick über die Schulter zu werfen. Lauf! Da war die Laterne. Er packte den Griff und hechtete in den Spalt. Keine Sekunde zu früh! Der Gigant krachte mit vollem Gewicht davor. Der Fels erzitterte, Steinbrocken lösten sich von der Decke. Der Marionettenmann hastete weiter, fort von der Hand des Monsters, das den Arm nun bis zur Schulter in den Felsspalt steckte. Erst, als er vier Tunnelbiegungen hinter sich hatte, blieb er stehen.

Erschöpft lehnte er sich an die Tunnelwand. Seine dürren Beine zitterten, sein Herz pumpte, sein Gesicht war schweißüberströmt. Doch er lächelte. Er streckte die Hand aus und betrachtete die blutige Zehenknolle auf der offenen Handfläche.

Auf der ganzen Welt gab es vielleicht noch eine Hand voll von diesen Wesen. Riesen hatten die Menschen sie einst genannt. Sie lebten an verborgenen Orten wie dem Gebirge, das das Verwunschene Tal umgab. Die meisten ihrer Art waren vor einigen Jahrhunderten, als die Menschen noch um ihre Existenz gewusst hatten, aus Angst vor ihrer Größe gejagt worden. Vor noch längerer Zeit, als die Norvolken Dustrien bevölkert hatten und das Wissen um die Alchemie noch gegenwärtig gewesen war, hatte man sie wegen ihrer Zehen getötet. Welch eine Vergeudung. Die Zehen dieser Geschöpfe wuchsen nach. Der Marionettenmann hatte dem Riesen schon ein rundes dutzend Mal eine seiner Knollen abgeknapst. Und in etwa einem Monat würde er wieder herkommen. Der Riese, kaum intelligenter als ein Tier, würde ihn bis dahin längst vergessen haben.

Der Marionettenmann trat den Heimweg an. Die Ernte war getan, und er hatte sich eine Auszeit verdient. Er freute sich auf die Geborgenheit seiner Hütte, auf die Gesellschaft der Schrumpfköpfe, eine warme Mahlzeit und darauf, einen Blick in den Spiegel zu werfen.

Leider hatte Emilys neue Freundschaft eine ermüdende Wendung genommen. Sie hatte diesen William vor einigen Tagen abserviert. Nicht, weil sie ihn nicht mochte, nein, sondern weil sie wohl ahnte, wie die Geschichte sonst endete. Sie wusste also von dem Fluch. Wusste vermutlich auch, wer dafür verantwortlich war. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ins Verwunschene Tal zurückkehrte, wenn sie nicht länger leiden wollte.

Und wie sie litt.

Sie aß wenig, sprach wenig, blieb die meiste Zeit in ihrer Wohnung, verpasste Vorlesungen und Seminare und fand nicht einmal mehr die Kraft zu lesen. Bald hätte der Marionettenmann die Tränen zurück. Bis dahin sollte er alle Vorbereitungen getroffen haben.

Stille umfing den Marionettenmann, als er seine Hütte betrat. Der vertraute Geruch nach altem Leder und Kräutern hieß ihn willkommen. Leises Schnarchen und Murmeln säuselte durch die Dunkelheit. Die Schrumpfköpfe schliefen.

Der Marionettenmann machte Licht und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Das Glas zeigte einen Schwarm Riesenpilzmedusen, der über dem Meer schwebte, wechselte jedoch nach wenigen Sekunden das Bild, sodass eine Meute von Kindern zu sehen war, die einen dreibeinigen Hund jagte. Belanglosigkeiten. Wenn nichts geschah, das für den Marionettenmann von Interesse war, zeigte der Spiegel oftmals willkürlich Ereignisse an willkürlichen Orten.

Er wandte sich ab und fing an, eine Mahlzeit zuzubereiten. Er stellte einen gusseisernen Kessel auf die Herdstelle und entzündete ein Feuer. Er häutete und schnitt Zwiebeln, schälte und schnippelte Kartoffeln und Gemüse und warf alles in den Topf, dass es zischte. Anschließend würzte er die Mahlzeit mit Paprika und zur Feier der erfolgreichen Ernte mit einer Prise gemahlener Feenwürmchen. Zuletzt füllte er den Kessel mit Wasser aus der Regentonne und salzte und kostete und verfeinerte abwechselnd den Eintopf, während er vor sich hinköchelte. Vorfreudig leckte er sich die Lippen. Er füllte seinen Teller und balancierte ihn zum Tisch. Sein Magen flehte knurrend, er möge sich beeilen. Dampf stieg von seiner Mahlzeit auf und umschmeichelte seine Hakennase. Er tauchte den Löffel in den Eintopf, führte ihn zum Mund. Das Wasser sammelte sich unter seiner Zunge. Er blies über den Happen, um die Hitze zu vertreiben, öffnete die Lippen, warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel …

Er ließ den Löffel sinken. Sein Mund stand noch immer offen, als er sich erhob und vor das Glas trat, in dem der Hafen von Treedsgow zu sehen war.

Die Nacht war stürmisch. Große Wellen brachen an der Kaimauer und Regenschauer gingen auf die Erde nieder wie am jüngsten Tag. Der Marionettenmann hörte zwar keinen Donner, aber er sah Blitze, die den Himmel spalteten und dunkle Wolkentürme beleuchteten.

Beim nächsten Wetterleuchten bemerkte er Emily, die sich der Kaimauer näherte. Ihr weißes Kleid war durchsichtig und klebte auf ihrer Haut, ihr Haar hing in nassen Strähnen herab. Nahe beim Leib trug sie einen schweren Stein, um den sie mehrfach ein Seil gewickelt hatte. Das andere Ende des Seils hatte sie zu einer Schlaufe verknotet und um ihren Knöchel geschlungen.

Vor der Kaimauer blieb sie stehen. Ein Blitz flammte auf, und erstmalig sah der Marionettenmann ihr Gesicht. Sie war bleich. Verhärmt mit dunklen Ringen unter den Augen. Das Regenwasser lief ihr in Strömen über das Antlitz. Es floss ihr aus den Augenwinkeln, als weinte sie. Doch ihr Blick, ihr Gesicht war leer.

Minutenlang nahm Emily den Anblick der aufgewühlte See in sich auf. Dann erzitterten ihre Hände. Der Stein entglitt ihren Fingern und jagte senkrecht ins Wasser – ein verspielter Hund, der sein Herrchen hinter sich herzog. Die Wellen schnappten zu wie die Kiefer eines Seeungeheuers.

Der Marionettenmann wartete mit angehaltenem Atem. Aber Emily tauchte nicht wieder auf. Er konnte nicht fassen, was sie getan hatte, doch die Erkenntnis bahnte sich unerbittlich einen Weg in sein Bewusstsein.

Emily war tot.

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild

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