Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 16
ОглавлениеDas Tagebuch
13. TAUMOND 1713, VIERTABEND
Ich wohne jetzt seit fast einem Viertel hier: Treedsgow, Stadt des Wohlstands und der Naturwissenschaften. Ich habe immer davon geträumt, eines Tages hierherzuziehen. Doch nun vermisse ich meine Heimat. Little Hill. Ich vermisse die hügelige Landschaft, die die kleine Stadt umgibt, die Berge am Horizont, die Kohlearbeiter, sogar das riesige Bergwerk. Ich vermisse das Landhaus meiner Eltern, die lange Flure, mein geräumiges Zimmer, die Bibliothek … Ich vermisse Mutter, meine beiden jüngeren Schwestern, sogar Vater, obwohl wir nicht in Freundschaft auseinandergingen. Und ich vermisse Edwina. Immer noch.
Ich versuche, mich von alldem abzulenken und gehe oft spazieren. Treedsgow hat viel zu bieten: Breite Straßen und alte Bauten. Plätze mit Brunnen und Statuen. Einen Hafen, einen Leuchtturm, einen Bahnhof, unzählige Läden und Bars und natürlich die Universität. Der Winter steht der Stadt gut. Viertmorgennacht kleidete er sie in unschuldiges Weiß. Aus den Schornsteinen steigt Rauch, der sich über die Dächer aus Tonziegeln erhebt und mit dem wintergrauen Himmel verschmilzt. Entlang der Hauptstraßen stehen Gasleuchten. Gasleuchten! Ich habe so etwas nie zuvor gesehen. Nachts bricht sich ihr Licht tausendfach in den Eiskristallen.
Der einzige Makel dieser idyllischen Stadt ist die Nervenheilanstalt Sankt Laplace jenseits des Stadtrandes, fern vom Licht und vom Leben. Sie bietet guten Stoff für Gruselgeschichten.
Übernächstes Viertel beginnt mein Studium an der Treedsgow University. Der Umzug ist getan, nun werde ich den Rest der Stadt erkunden. Mein nächstes Ziel ist der Hafen. Angeblich gibt es dort ein Dampfschiff!
Meinen Mitbewohner habe ich bisher nicht zu Gesicht bekommen. Er ist bei seinen Eltern und kehrt erst nächste Sonnnacht zurück. Unser Nachbar sagte, Edward sei ein einmaliger Mensch.
W. D. Walker
16. TAUMOND 1713, VIERTMORGEN
Gestern kehrte mein Mitbewohner zurück. Sein Name ist Edward Thomas Jones Thomson, Sohn des Barons von Westebbe. Ich nenne ihn Ed. Er ist groß. Ein gelassener Kerl, der oft mit den Schultern zuckt. Seine Eltern wollten, dass er studiert. Wie ich Ed einschätze, hat er nicht viele Widerworte gegeben. Ich vermute, er ist weniger am Studium interessiert als daran, möglichst viele Frauen ins Bett zu kriegen.
„Wenn du Spaß haben willst, geh zum Hafen“, teilte er mir im Vertrauen mit, zehn Minuten nach unserer ersten Begegnung. „Auf der Universität wirst du kein Glück haben. Dort gibt es nur Prüderine und Langeweila. Und die wissen genau, dass sie fliegen, wenn sie nicht brav sind. Nein, wenn du dir nicht die Zähne an steinharten und dabei nicht mal leckeren Nüssen ausbeißen willst, halt dich an mich.“ Ed ist in Ordnung. Was mich betrifft, so bin ich nicht daran interessiert, ein Mädchen kennenzulernen, bloß um ihren Acker zu pflügen, wie Ed es so schön formuliert. Nenn mich romantisch, aber ich mache mir nicht viel aus einer einzigen Liebesnacht. Ich suche nach dem, was ich mit Edwina hatte. Egal was ich tat, wenn ich es mit ihr zusammen tat, trug ich ein Lächeln auf dem Herzen. Und wenn es bloß darum ging, ihr dabei zu helfen, die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen.
Edwina hätte das Zeug gehabt, in Treedsgow zu studieren, wäre sie keine Frau gewesen, noch dazu die Tochter eines Kohlearbeiters. Wir waren fünfzehn, als wir uns zum ersten Mal küssten. Meine Hände zitterten. Edwina lachte. Zufällig berührte ich ihren Oberarm und fühlte ihre Gänsehaut.
Wir warteten nicht lange und teilten unsere erste Liebesnacht. Zwei Jahre lang waren wir ein Paar. Aber unsere Liebe erkrankte. Einmal sagte Edwina, dass wir uns trennen müssten. Denn sie war die Tochter eines Kohlearbeiters, ich der Sohn eines wohlhabenden Mannes. Ich wies es von der Hand. Nichts könne mich davon abhalten, bei ihr zu bleiben.
Doch irgendwann hatte der Druck unerträgliche Ausmaße angenommen. Mein Vater kam immer öfter auf unsere Beziehung zu sprechen: „Sie werden dich nicht auf der Christopher-Adams-Schule annehmen, wenn sich herumspricht, dass du dich mit dieser Dirne triffst. Wie willst du eines Tages in Treedsgow studieren ohne Abschluss?“
„Vielleicht will ich ja gar nicht nach Treedsgow“, erwiderte ich. Das war natürlich Unsinn, war das Studium an der Treedsgow University doch von klein auf mein Traum gewesen.
„Willst du etwa wie der Vater dieser Edwina in einer Kohlemine graben?“
Auch Edwinas Eltern wollten unsere Beziehung nicht gut heißen. Ihr Vater hasste den meinen, weil er Mitglied im Vorstand des Bergbauvereins war. Er nannte mich nie beim Namen, sagte immer nur Der Sohn des Bonzen. Eines Tages beendete Edwina unsere Beziehung. Bis zu meinem Umzug nach Treedsgow blieben wir Freunde. Aber selbst nach meinem Schulabschluss, vier Jahre nach der Trennung, spürte ich ihren Kummer über meinen Fortgang. Es war mehr als nur die Trauer über einen verlorenen Freund. Sie trauerte um eine verlorene Liebe.
W. D. Walker
28. TAUMOND 1713, MITTVIERT
Das Semester hat vor drei Tagen begonnen. Was in meinen Augen an Wunder des technischen Fortschrittes grenzt, ist für die meisten Bürger Treedsgows längst zum Alltag geworden. So wird der Haupteingang der Universität von zwei elektrisch gespeisten Bogenlampen beleuchtet. Dr. Warrick, unser Professor für Grundlagenmechanik, radelt jeden Morgen auf einem Hochrad zum Campus. Er hat es selbst konstruiert, in einer der Werkstätten der Universität bauen lassen und bereits ein Patent dafür angemeldet. Neben Laboren, Werkstätten und einer riesigen Bibliothek gibt es auch eine Rohrpostzentrale, die gut ein dutzend Häuser der wichtigsten Bürger Treedsgows miteinander vernetzt.
Die Zukunft beginnt hier.
Nach den Veranstaltungen dieses Tages besuchte ich die Bibliothek. Es gibt dort Enzyklopädien und Lexiken, aber auch Romane und lyrische Werke. Ich lieh mir eine Gedichtsammlung von Anthony Robert Gray aus.
W. D. Walker
8. FRÜHLINGSMOND 1713, WERKTAG
Ist es möglich, dass ich schon seit zwei Vierteln in Treedsgow studiere? Es gibt viel zu tun, und die Zeit vergeht ungesehen …
Vor zwei Tagen war Frühlingsanfang. Gray bringt diese Jahreszeit in seinen Gedichten oft mit der Liebe in Verbindung. Ich horche in mich hinein und empfinde nur Sehnsucht.
Und Mutlosigkeit.
Wo ist sie, die ich suche? Hier in Treedsgow? Irgendwo in Dustrien? Gibt es sie überhaupt?
W. D. Walker
18. FRÜHLINGSMOND 1713, STAHLTAG
Es ist Abend.
Vor wenigen Stunden begegnete mir Emily End und schlug mich zum Narren.
(Ich vergaß zu atmen. Emily End? Meine Schwester Emily? Sie lebte? In Treedsgow? 18. Frühlingsmond 1713 … Wie lange war das her?)
Sie ist es, nach der ich gesucht habe. Daran besteht kein Zweifel!
Jedoch … darf ich wahrhaftig hoffen? Sie ist eine der wenigen Frauen, die in Treedsgow studieren. Sie würde nie – nie! – ihr Studium für mich riskieren.
Emily.
Dieser gewöhnliche Name war mir nie exotischer erschienen. Egal wie, ich kann ihn nicht aussprechen, ohne zu lächeln. Wenngleich es ein wehmütiges Lächeln ist.
Em-mi-ly. Wieder. Ein Lächeln.
Als ich vor vier Stunden meine Wohnung betrat, war ich allein. Ed besuchte eine Veranstaltung. Ich ging in die Küche. Als ich nach dem Brotmesser griff, verging mir der Appetit. Ich blickte mich um. Es war still, und ich fühlte mich beengt. Ich ging in mein Zimmer und fing an, einen Brief zu schreiben. Schon nach wenigen Zeilen legte ich den Füllfederhalter nieder. Die Luft erschien mir fremd und staubig. Mir war heiß und ich wurde zunehmend unruhig.
Mein Blick schweifte durch den Raum auf der Suche nach einem Grund, die Wohnung für wenigstens eine, besser zwei Stunden zu verlassen. Ich wollte mir selbst nicht eingestehen, dass ich Heimweh hatte. Ich entdeckte die Gedichtsammlung von Anthony Robert Gray auf meinem Schreibtisch und schnappte danach wie ein Schiffbrüchiger nach dem rettenden Seil. Das Rückgabedatum war erst für den achtundzwanzigsten ausgezählt. Egal. Ich stand auf und zog mir Schuhe und Jacke an.
Wenig später stieg ich die Stufen zum Podium der Bibliothek empor. Ich ging langsam, da ich unterwegs Grays Sammlung aufgeschlagen und mich in seinen Gedichten verloren hatte. Ich erreichte die Tür und tastete nach der Klinke. Zu spät sah ich den Bücherturm, der mir entgegen kam. Ich stolperte, während Bücher zu beiden Seiten des Turms auf den Boden klatschten.
„Bitte entschuldige!“, rief das Mädchen, das die Bücher getragen hatte. „Hab dich nicht gesehen.“ Der Klang ihrer Stimme machte mich stutzig. Vielleicht lag es auch bloß daran, wie sie sich artikulierte, eine beiläufige Art, jedes Wort in Gesang zu kleiden.
„Nicht doch“, sagte ich und beeilte mich, ihr beim Aufsammeln zu helfen. „Ich habe geträumt.“ Ich warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Mein erster Gedanke war, dass sie nicht besonders hübsch war, eher durchschnittlich wie eine typische Studentin. Sie trug eine Brille. Ihre geröteten Wangen und das zerzauste Haar verliehen ihrer Erscheinung eine ungekünstelte Note.
Im Nachhinein denke ich, dass ihr Charakter ihre wahre Schönheit ausmacht. Sie hat eine spitze Nase, einen kleinen Mund und über der linken Braue trägt sie ein entrückendes Mal. Sie ist weder besonders schön noch hässlich. Umso stärker scheint die Schönheit ihres Wesens durch ihr unscheinbares Äußeres. Ed hätte das nicht verstanden.
Ich griff nach einem Buch. Ich erwartete eine wissenschaftliche Lektüre, etwas wie Lehrbuch der Physik oder Evolutionsbiologie. Ich konnte Ed in meinem Kopf fragen hören: Ist sie eine Prüderine? Oder eine Langeweila? Ich drehte das Buch um und las Norvolkische Mythologie.
Ich stutzte.
„Du interessierst dich für Mythen?“ Sie nickte, während sie ihre Bücher wieder zu einem Turm stapelte. „Ich habe dieses Buch bestimmt ein dutzend Mal gelesen“, sagte sie. „Es ist mir ein tragbares Stück Heimat.“ Sie schenkte mir ein flüchtiges Lächeln.
„Kommt mir bekannt vor.“ Ich wollte ihr die Gedichtsammlung von Gray zeigen. Doch das Buch – ich hatte es nur kurz auf den Boden gelegt – war verschwunden. „Hast du mein Buch genommen?“
„Welches?“
„Dort.“ Ich zog es aus ihrem Bücherturm und zeigte ihr den Einband. Die Augen des Mädchens weiteten sich.
„Oh. Ich dachte, es wäre von mir. Ich wollte es mir ausleihen, aber jetzt erinnere ich mich, dass das einzige Exemplar schon vergeben war.“ Sie musterte mich milde interessiert. „Du liest Gray?“
Ich zuckte die Achseln. „Er schreibt gute Gedichte.“
„So ein Zufall. Ich liebe die Gedichte von Gray.“
„Ach ja?“
Sie nickte, überlegte kurz und sprach:
„Worte, die im All verrauchen
Verse in den Raum geführt
Strophen, die durch Zeiten tauchen
Ein Wort von mir, das dir gehört.“
Es war eine Strophe des ersten Gedichtes in der Sammlung von Gray.
„Ich habe nach genau diesem Buch gesucht“, fuhr sie fort.
„Du kannst es haben“, sagte ich und hielt es ihr hin. „Ich wollte es gerade zurückbringen, aber die Frist endet …“ Der Rest des Satzes ging mir verloren. Die Worte fielen von dem sinnbildlichen Tablett, auf dem sie herangetragen wurden, und verteilten sich auf dem Boden. Schlagartig war mir klar geworden, dass ich Emily mochte. Sie faszinierte mich. Unvernünftig, kannte ich sie doch gerade mal seit wenigen Minuten. Aber mein Herz war noch nie für seine Vernunft bekannt gewesen.
Emily sah mich erwartungsvoll an, während die Stille sich ausbreitete wie der endlose Ozean. Ich räusperte mich.
„… endet erst am achtundzwanzigsten.“
„Vielleicht komme ich besser morgen wieder und leih es mir dann selbst aus“, sagte Emily. Ein unterschwelliges Lachen begleitete ihre Worte. „Ich werde ohnehin lange Arme haben, wenn ich zu Hause bin.“
„Ich gebe es dir im Austausch hierfür …“, schlug ich vor und hielt das Buch mit dem Titel Norvolkische Mythologie hoch.
„Abgemacht …“ Emily bückte sich nach dem Bücherturm.
„… und helfe dir, die Bücher heimzutragen, wenn du magst.“
Wieder lächelte sie ihr kleines Lächeln, das mir bereits so vertraut erschien wie die Berge um Little Hill.
Wir unterhielten uns ausgelassen auf dem Weg zu ihrer Wohnung; erzählten uns, welche Gedichte von Grey wir am liebsten mochten und zitierten seine Verse. Ich wusste nicht und weiß auch noch immer nicht, was ich mir von meiner neuen Freundschaft erhoffen darf. Aber eines ist klar: Ich habe ihr Buch: ein Versprechen, dass ich sie wiedersehen werde.
W. D. Walker