Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 25

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Das Tagebuch

35. URBAN 1713, MITTVIERT

Das Fourier ist eine noble Absteige. Nobel jedenfalls für die Verhältnisse des Hafens. Das heißt, dass es dort einigermaßen sauber ist, und bullige Männer in schwarzen Anzügen dafür sorgen, dass handfeste Meinungsverschiedenheiten auf der Promenade ausgetragen werden. Es verfügt zudem über einen durchaus charmanten Billigluxus. Es ist alles vertreten von edlen Kronleuchtern, die so weit oben hängen, dass man sie nicht ohne Weiteres beschädigen, oder als die billigen Imitate, die sie sind, entlarven kann, über schmucke Vorhänge bis hin zum wichtigsten Accessoire: der Bühne. Dort präsentieren sich am Abend Komödianten, Sängerinnen und Tänzerinnen, die, je später es wird, bisweilen skandalös viel Bein oder gar ihr Höschen zeigen.

Werktagmorgen beschloss ich, ins Fourier zu gehen in der Hoffnung, Diane zu treffen. Ich war ihr eine Erklärung schuldig. Während der Vorlesungen dieses Tages beschäftigte ich mich daher überwiegend damit, mir die richtigen Worte zurecht zu legen.

Als ich am Nachmittag Emily mitteilte, was ich vorhatte, zeigte sie Verständnis. „Ich warte hier auf dich“, sagte sie und berührte unwillkürlich den Talisman unter ihrer Bluse. Unsere Veranstaltungen enden werktags immer zur selben Uhrzeit, und sie hatte mich bis vor die Tür meiner Wohnung begleitet.

„Denkst du, du hältst es solange mit ihm aus?“, scherzte ich und nickte zur Tür. Ich sprach natürlich von Ed.

Sie lächelte und verpasste mir einen Knuff. „Schließ schon auf.“

Eine knappe Stunde später betrat ich das Fourier. Ein bulliger Mann im schwarzen Anzug beäugte mich misstrauisch, als wäre ich ein Unruhestifter. Ich ignorierte ihn, schritt den Mittelgang hinab und ließ den Blick auf der Suche nach Diane durch den Saal schweifen. Der Geruch von Politurmittel lag in der Luft. Zu so früher Stunde waren nur wenige Gäste anzutreffen. Die Beine von etwa zwei Dritteln aller Stühle, die verkehrt herum auf den runden Tischen standen, ragten der Saaldecke entgegen wie die Stämme junger Bäume. An einem der freien Tische erblickte ich Diane, unverkennbar durch ihr goldenes Haar. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt und rieb die Tischplatte mit einem Tuch ab und zwar derart energisch, als hegte sie gegen jeden einzelnen Quadratzentimeter eine persönliche Abneigung.

Ich trat näher und räusperte mich leise. „Diane?“ Sie spannte sich an, als sie meine Stimme hörte. Ihre Rechte umfasste das Tuch so krampfhaft, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie wandte sich um und musterte mich mit einer Mischung aus Wut und Unglauben.

„Was willst du jetzt noch?“

Ihre Frage irritierte mich. „Ich will mit dir reden.“ Ich wollte ihr einfach die Wahrheit sagen. Dass mein Verhältnis zu Emily noch ungeklärt gewesen war, als ich beschloss, mich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Dass unsere Liebesnacht während eines Zustandes bar jeder Kontrolle meinerseits stattgefunden hatte. Dass es mir leid täte.

Und das tat es auch.

„Du hast vorhin genug geredet, William David Walker.“ Wie sie mir meinen Namen ins Gesicht spie, hätte sie mich ebenso gut ohrfeigen können.

Ich starrte sie an. „Was meinst du damit?“

„Was meinst du damit“, äffte sie. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du dich wie ein Ochse anhörst, Walker? Wie viel mussten deine Eltern zahlen, damit du an der Universität angenommen wurdest, hä?“

„Ich war vorhin doch gar nicht hier.“

Jetzt war es an ihr zu starren. „Findest du das witzig?“ Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, wandte sie sich an den Mann im schwarzen Anzug. „Gary, kümmere dich doch bitte um den hier“, sagte sie mit ihrer klebrigsten Zuckerstimme.

„Mit dem größten Vergnügen“, knurrte Gary und trat mit knackenden Fingerknochen auf mich zu.

„Diane, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du redest.“ Ich würgte. Gary hatte mich am Schlafittchen gepackt und schnürte mir die Luft ab.

„Raus mit dir, Arschloch“, knurrte er und zerrte mich zum Ausgang. Ich stolperte rückwärts hinter ihm her, während Diane uns mit einer Mischung aus Schadenfreude und Abscheu nachblickte. Ich brachte erst wieder einen Ton hervor, als Gary mich draußen auf der Promenade grob von sich stieß.

Ich hustete. „Gary“, würgte ich hervor, ehe er im Fourier verschwinden konnte. „Mit wem … wem hat sie geredet? Wer war vorhin bei Diane?“

Gary sah mich an. Dieselbe Mischung aus Wut und Unglauben, die ich zuvor bei Diane gesehen hatte, lag nun in seinem Blick. „Willst du mich verarschen? Sie hat mit dir geredet.“

„Aber ich war nicht hier.“

„Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen“, drohte Gary mit zornfunkelnden Augen. „Nicht einmal dein Zwillingsbruder könnte dir so ähnlich sehen. Was soll die Scheiße?“

„Ich …“

„Hör zu, Bursche.“ Gary trat sehr nahe an mich heran. „Ich rate dir, Diane nicht zu unterschätzen. Sie ist in Schwarzwasserhafen aufgewachsen und andere Sitten gewohnt. Sie musste dort einiges durchmachen, aber wenn man glauben darf, was man über sie erzählt, ist sie dort nicht gerade als Heilige bekannt. Wenn ich an die armen Kerle denke, die sich mit ihr angelegt haben, tun sie mir fast leid.“ Sein rotes Gesicht war meinem jetzt so nahe, dass ich die Wärme spüren konnte, die es abstrahlte. Im Flüsterton fuhr er fort. „Offen gestanden glaube ich, dass sie nicht mehr ganz dicht ist hier oben. Wusstest du, dass sie immer ein Messer bei sich trägt? Ich will dir also raten, nicht wieder herzukommen, sonst kann ich für nichts garantieren.“

Ich schluckte schwer und sammelte Mut zu einer Erwiderung. „Ich weiß nicht, wer vorhin mit Diane gesprochen hat“, sagte ich mit stockender Stimme. „Ich war es jedenfalls nicht. Richte ihr bitte aus, dass es mir leidtut. Und dass ich jederzeit bereit bin, über alles zu reden.“ Gary schnaubte und verschwand kopfschüttelnd im Fourier.

Auf dem Heimweg zerbrach ich mir den Kopf darüber, was das alles zu bedeuten hatte. Wer war bei Diane gewesen? Wer sah mir zum Verwechseln ähnlich und kannte mich so gut, dass er mich imitieren konnte? Das war unheimlich! Was hatte der Unbekannte gesagt? Ich dachte an den Hass in Dianes Augen und kam zu dem Schluss, dass es nichts Gutes gewesen sein konnte.

Als ich meine Wohnung betrat, fand ich Emily und Ed in unserer Küche vor. Emily hatte eine entspannte Haltung eingenommen, wohingegen Ed wild gestikulierte.

„Wie kannst du sagen, dass ein Mythos ebenso wahrscheinlich ist wie eine wissenschaftliche Theorie?“, fragte er. „Wie konntest du mit dieser Einstellung überhaupt an der Universität aufgenommen werden?“

„Ich war so umsichtig, es bei der Immatrikulation nicht zu erwähnen“, entgegnete Emily. Sie klang belustigt. „Gegenüber weiblichen Bewerbern haben sie ohnehin Vorurteile.“

Ed schüttelte den Kopf. Dann bemerkte er mich. „Weißt du eigentlich, wen du dir da angelacht hast?“

Ich lächelte und nickte.

„Sie ist verrückt.“

„Ja, aber auf eine liebenswerte Weise.“

„Ihre Sicht der Dinge ist eine Schande für unsere Ideale als Wissenschaftler …“

„Bis gerade eben dachte ich, du kennst dieses Wort nicht einmal“, erwiderte ich.

„Was soll das denn …“

Ich winkte ab. „War doch nur Spaß. Lass gut sein, Ed.“

„Wie lief dein Gespräch mit Diane?“, fragte Emily.

„Es hat nicht wirklich eines gegeben.“

Sie hob die Brauen. „War sie nicht da?“

Ich schüttelte den Kopf und berichtete ausführlich, was geschehen war. Emily und Ed musterten mich sprachlos.

„Irgendjemand gibt sich als du aus und macht dich unbeliebt?“, fragte Ed ungläubig. „Du hast nicht zufällig einen bösen Zwillingsbruder?“ Ich schüttelte den Kopf und warf Emily einen flüchtigen Blick zu. Sie schwieg mit besorgter Miene. Ich wusste genau, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging. Ich hatte mich selbst schon gefragt, ob mein mysteriöser Doppelgänger etwas mit dem Kuss zu tun hatte. Aber das war lächerlich!

„Es gibt nur eine vernünftige Erklärung“, sagte ich, wie um mich selbst zu überzeugen. „Diane und Gary haben sich einen schlechten Scherz erlaubt. Es ist einfach unmöglich, dass es jemanden gibt, der mir bis ins letzte Detail gleicht.“ Emily wirkte nicht überzeugt.

„Warte“, sagte Ed und starrte nachdenklich ins Leere. „Ich habe da so eine Idee. Womöglich bist du eingeschlafen – nein, lass mich ausreden! – Du bist eingeschlafen und geschlafwandelt.“

„Da bin ich doch eher bereit anzunehmen, dass Lotin persönlich das Fourier in meiner Gestalt betreten hat.“

Emily lachte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie flüchtig ihr Mojo berührte. Ed murmelte etwas von wegen, man müsse doch alle Möglichkeiten erwägen, erhob sich und holte drei Flaschen Bier. Wir ließen die Verschlüsse knallen und überlegten bis nach Einbruch der Dunkelheit, was Dianes merkwürdige Reaktion zu bedeuten hatte. Zuletzt erhob Ed sich gähnend von seinem Platz und verkündete, er würde jetzt ins Bett gehen.

Auch Emily und mir juckten die Augen. Ich führte sie nach draußen und begleitete sie bis vor die Tür ihrer Wohnung. Dort umarmten wir uns zum Abschied.

„Vermutlich gibt es für das alles eine ganz vernünftige Erklärung“, sagte Emily, wirkte jedoch von ihren eigenen Worten nicht überzeugt. „Aber nur für den Fall, dass etwas anderes dahinter steckt …“

„Ich werde sicher keine Runen auf meine Tür malen, Emily.“

„Ich wollte bloß sagen, sei auf der Hut“, gab sie leicht pikiert zurück.

Ich lächelte und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Zerbrich dir nicht den Kopf. Alles wird gut, glaub mir. Schlaf jetzt.“ Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss. Ihr Atem stockte und ich musste lächeln. Ich beugte mich zu ihr herab …

„Nicht.“ Sie wich zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Ich kam mir ziemlich blöd vor. „Was ist?“

„Wir … sollten das Übel besser nicht herausfordern“, murmelte sie. Ich starrte sie an. Fürchtete sie immer noch, ich könnte auf merkwürdige Weise sterben, wenn wir uns küssten?

„Gute Nacht“, murmelte sie, öffnete die Tür und floh regelrecht in die Wohnung. Ich verharrte eine geschlagene Minute im dunklen Treppenhaus. Schließlich wandte ich mich kopfschüttelnd um und stieg die Treppen hinunter. Konnte Emily so verrückt sein? Oder war es ihr unangenehm, wenn ich sie küsste? Ich war mir nicht sicher, was schlimmer gewesen wäre. Vermutlich Letzteres.

Draußen auf der Straße verharrte ich unschlüssig. Mir war nicht danach, jetzt nach Hause zu gehen. Überhaupt war mir nicht nach Gehen zumute. Ich musste mich setzen. Nachdenken. Ich grüble zu viel, aber ungedacht spuken die Gedanken durch meinen Kopf, lästige Alben, die mich nicht schlafen lassen.

In einer dunklen Gasse entdeckte ich einen Stapel alter Holzkisten. Ich ließ mich auf einer davon nieder und lehnte mich an die kühle Hauswand. Nach einer Weile klärte sich mein Kopf. Ich schloss die Augen und ließ zu, dass ich müde wurde.

Eine Tür fiel ins Schloss unter der zaghaften Berührung jemandes, der nicht gehört werden wollte. Ich zuckte zusammen. Tatsächlich war ich kurz eingeschlafen. Ich wandte den Kopf und sah Emily. Sie ließ den Blick schweifen. In der Hand hielt sie einen Stoffbeutel. Sie wandte sich nach rechts, folgte dem Verlauf der Straße und bog in eine Gasse ein. Unschlüssig blickte ich ihr nach. Sollte ich ihr nachlaufen? Nach kurzem Zögern erhob ich mich. Eine gefühlte halbe Stunde folgte ich ihr in sicherem Abstand, wartete stets, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden war, huschte notfalls von Versteck zu Versteck. Erst zuletzt wurde mir klar, welches Ziel sie hatte: den Friedhof von Treedsgow. Ich war nie dort gewesen und mir wäre nicht im Traum eingefallen, dort mitten in der Nacht hinzugehen. Ein Eisengitter umgibt diesen Ort, um die Toten fernzuhalten. Bäume warfen im Mondlicht tanzende Schatten über die Gräber. Ihr Laub erzitterte unter der Berührung einer nächtlichen Brise. Grabsteine in allen erdenklichen Größen und Formen wuchsen gleich Pilzen aus dem Boden. Gräber unterschiedlicher Größe reihten sich aneinander und verliehen dem Boden das Aussehen eines bunten Flickenteppichs.

Eines musste ich Emily lassen: Sie hatte Mut.

Das schmiedeeiserne Tor knarrte, als sie es öffnete. Sie zog es hinter sich zu, und ich fluchte stumm. Wenn ich sie nicht aus den Augen verlieren wollte, musste ich ihr durch dieses verräterisch ächzende Tor folgen. Also aufgeben und umkehren? Nein. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und holte Luft. Es gab nur eine Möglichkeit, es leise zu öffnen …

Ich stieß das Tor auf. Es quietschte, jedoch kaum lauter als der Ruf eines Nachtvogels. Ich tauchte ins Dunkel der Bäume ein, duckte mich hinter eine Reihe von plumpen Grabsteinen und ließ den Blick schweifen. Der Geruch von feuchter Erde lag in der Luft. Die Schwärze der Nacht drückte auf meine Augäpfel. Hier wuchsen mächtige Eschen, Ulmen und Ahorne, deren Baumkronen sich zu einem dichten Blätterdach verschlossen. Nur an wenigen Stellen zeichnete das Mondlicht silberne Flecken auf die Gräber, gespenstig und schön zugleich. Soeben löste sich Emilys Silhouette aus der Schattenfront, die eine dieser Lichtungen umgab, und verschmolz auf der anderen Seite wieder mit der Finsternis. Ich eilte ihr nach. Mäuse und anderes Kleintier flohen vor meinen Schritten. Ich versuchte, auf keines der Gräber zu treten, aber das war unmöglich.

Emilys Weg endete auf einer weiteren Lichtung. Ein mächtiger Grabstein erhob sich im Zentrum. Er stand schräg, als wäre er im Boden eingesunken, und wäre wohl als ganz gewöhnlicher Felsbrocken durchgegangen, wäre da nicht die verwitterte Inschrift gewesen, die halb von Efeu und Moos verdeckt wurde.

Emily ließ sich vor dem Grabstein auf die Knie sinken. Das Gras wuchs so hoch, dass es sie fast überragte. Sie griff in den Stoffbeutel und brachte mehrere Dinge zum Vorschein: Ein Teelicht, eine Schachtel Zündhölzer, ein silbernes Messer. Schließlich stülpte sie den Beutel um, und ein Haufen schneeweißer Steine ergoss sich ins Gras. Sie fing an, ein Bild zu legen. Ich konnte nicht sehen, was es war. Als sie damit fertig war, holte sie ein Zündholz hervor und zog es über ihre Schuhsohle, woraufhin es fauchend zum Leben erwachte. Sie entzündete das Teelicht und stellte es in die Mitte ihres Steinbildes. Anschließend hob sie das Messer. Der Stahl blitzte im Mondlicht. Sie streifte den Ärmel ihrer Bluse zurück und schnitt sich, ohne zu zögern, ins Fleisch. Ich unterdrückte ein Keuchen. Dunkles Blut lief über ihren Unterarm und tropfte von der Spitze des Ellbogens auf das Grab. Emily verharrte reglos mit ungerührter Miene. Schließlich griff sie nach einer Mullbinde, die zwischen den noch verbliebenden Steinen lag. Sie verband sorgfältig ihren Arm, verstaute Messer, Zündholzschachtel und alle übrigen Steine im Beutel und wartete. Und wartete. War sie eingeschlafen? Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen.

Dann, nach einer weiteren gefühlten Stunde, rührte sie sich: Sie beugte sich vor, eine Statue, die zum Leben erwachte, und blies das Teelicht aus.

„Hast du wirklich geglaubt, ich wüsste es nicht?“, fragte sie laut. Mein Herzschlag setzte aus. Ihre Stimme klang verändert, dunkler, bedrohlicher. Wie lange wusste sie schon, dass ich hier war?

Ihr Kopf ruckte nach rechts. „Du weißt sehr wohl, wovon ich rede. Ich hätte dir niemals vertrauen dürfen.“

Ich holte tief Luft und sammelte all meinen Mut zu einer Antwort.

Emily lachte freudlos. „Willst du mir weiß machen, er stecke dahinter?“

Die Worte blieben mir im Hals stecken. Redete sie wirklich mit mir?

„Ich weiß noch nicht. Fürs erste bleibst du dort drin.“ Offensichtlich war noch jemand hier, den nur sie hören konnte. Ich schluckte meine Antwort hinunter und duckte mich tiefer in die Schatten.

„Wenn du bereit bist, mir die Wahrheit zu sagen. Ich komme in einigen Tagen wieder. Überlege dir bis dahin gut, was du mir zu erzählen hast.“ Emily war verrückt. Völlig verrückt! Sie erhob sich, wandte sich um und verließ die Lichtung.

Ich wartete eine lange Zeit, ehe ich mich aus meinem Versteck wagte. Jetzt erkannte ich, welches Bild sie mit den Steinen gelegt hatte: Einen fünfzackigen Stern, ein Pentagramm. Der Docht des Teelichts glühte noch. Obwohl es Windstill war, hörte ich die Bäume flüstern. Die Luft um mich herum war wie elektrisiert. Mein Instinkt flehte, diesen Ort zu verlassen. Im Licht des Mondes sah ich dunkle Flecke auf dem Gras. Emilys Blut. Aber war es das Mondlicht? Oder kam das Leuchten aus den weißen Steinen? Ich beugte mich herab und nahm einen aus dem Pentagramm. In dem Moment, da ich dies tat, brach die Spannung um mich herum zusammen. Das Leuchten der Steine erstarb, bevor ich mich davon überzeugen konnte, ob es überhaupt da gewesen war, und das Flüstern der Bäume verstummte. Mir war, als hörte ich Gelächter, rachsinnig, irre und aus so weiter Ferne, dass ich es mir ebenso gut hätte einbilden können. Es lief mir eiskalt den Rücken hinab und dennoch verspürte ich große Erleichterung. Ich legte den Stein zurück in die Lücke des Pentagramms, aber die Atmosphäre blieb entspannt. Ein mulmiges Gefühl ergriff von mir Besitz. Mir war, als hätte ich etwas aus seinem Käfig befreit. Etwas Böses.

Ich betrachtete die Inschrift auf dem Grabstein. Es waren vier Zeilen in Runenschrift. Ich wandte mich um und verließ die Lichtung. Ich wollte den Friedhof so schnell wie möglich verlassen. Wollte nur noch in mein Bett. Auch wenn an Schlaf nicht zu denken war, so konnte ich dort wenigstens in aller Ruhe nachdenken.

Am nächsten Morgen suchte Emily mich im Lehrgebäude für elektronische Technik auf. Ich sah sie, während ich im Strom der Studenten von einem Hörsaal zum nächsten trieb. Sie grüßte mich förmlich und bat mich steif um ein Gespräch unter vier Augen.

„Ich hab etwas für dich“, flüsterte sie so leise, dass nur ich es hörte. Sie bedeutete mir, zu folgen, und ging voraus zurück in den leeren Hörsaal. Auf ein Zeichen von ihr schloss ich die Tür hinter uns. Sie hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und trug ein geheimnisvolles Funkeln im Blick.

„Ich muss dich warnen“, sagte sie. „Du wirst vielleicht nicht gerade begeistert sein.“

Ich hob nur die Brauen.

„Nachdem du mir gestern von deiner Begegnung mit Diane erzählt hattest, fand ich einfach keinen Schlaf …“

Was du nicht sagst.

„Emily“, warnte ich. „Du hast doch nicht etwa …“

Bevor ich den Satz beenden konnte, streckte Emily ihren rechten Arm aus. Ich stöhnte. Auf ihrer offenen Handfläche lag ein Mojo.

„Du erwartest doch nicht, dass ich das trage“, sagte ich. Allein bei dem Gedanken, was Ed dazu sagen würde, verging mir die Lust.

„Tu es für mich“, flehte Emily. „Wenn du es unter deinem Hemd trägst, sieht es doch keiner.“ Ich musterte sie. Nichts an ihrem Äußeren ließ auf den Irrsinn schließen, der hinter ihrer Stirn wohnte – ließ darauf schließen, dass sie sich nachts auf Friedhöfen herumtrieb, fremde Gräber mit ihrem Blut wässerte und mit sich selbst redete. Im Gegenteil, sie wirkte unschuldig und aufgeweckt. Konnte jemand verrückt sein und wissen, dass er es war? War es dann überhaupt schlimm? Schließlich war sie nicht gefährlich.

Ich seufzte ergeben.

„Also schön“, sagte ich und nahm das Mojo. Dabei streifte ich ihren Arm. Sie zuckte zurück.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich.

„Alles bestens. Ich habe mich gestern an einer scharfen Kante meiner Kommode geschnitten. Nichts Ernsthaftes.“ Wie die Lüge über ihre Lippen kam – ohne nachdenken zu müssen, ohne rot zu werden.

Oh, Emily. Wohin soll das nur führen?

W. D. Walker

30. FEENMOND 1713, RUHENACHT

Mehr als drei Viertel sind vergangen seit meiner letzten Begegnung mit Diane. Ich war mir inzwischen sicher, dass ihre absurde Behauptung ihre eigene Art war, mich fernzuhalten. Kindisch, aber zumindest schien sie es dabei zu belassen. So dachte ich.

Bis Emily und ich gestern eine verstörende Botschaft erhielten.

Gemeinsam spazierten wir nach unseren Vorlesungen zur Hafengegend. Wir teilen eine Vorliebe für die schmutzige und zugleich romantische Atmosphäre dieses Viertels. Die Promenade bietet einen einzigartigen Anblick, besonders wenn nach Sonnenuntergang die Gasleuchten entzündet werden. Dann locken sie Schwärme von Motten an und spiegeln sich an windstillen Tagen in der Meeroberfläche. Der Geruch von Salz und Schnaps liegt in der Luft. Musik dringt aus den Lokalen, traurige Seemannslieder begleitet vom Akkordeon oder fröhlich vorgetragene Stücke auf einer Mandoline. Die Boote und Schiffe knarren und glucksen, und ihre Fahnen und Segel knattern im Wind. Die kühle Seeluft streicht einem übers Gesicht, dringt unter die Kleidung und macht Lust, sich in die Wärme eines Lokals zu flüchten.

Emily und ich betrachteten in den vergangenen Vierteln oft die Sonnenuntergänge. An warmen Tagen breiteten wir eine Decke auf dem Sandstrand aus. Einmal, während einer windigen Sonnnacht, ließen wir einen Drachen steigen. Wir sammelten Muscheln, Fossilien und vom Meersalz geschliffene Scherben. Ich zeigte Emily, wie man flache Steine über das Wasser hüpfen lässt, und sie versuchte mir beizubringen, einen Kranz aus Grashalmen zu flechten. Es war eine schöne Zeit. Besonders kurzweilig waren solche Tage, an denen ein Schiff mit frischen Waren aus Übersee angelegt hatte. Dann war der Markt überfüllt mit Schmuckstücken aus Origon, kostbaren orientalischen Gewürzen und exotischen Speisen. Nach Sonnenuntergang traf man, wenn man die richtigen Lokale betrat, die Seemänner, wie sie umringt von Zuhörerscharen ein Garn von fremden Kulturen und den Abenteuern auf See spannen, solange man ihnen etwas zu trinken spendierte.

Wir langweilen uns nie. Selbst an regnerischen Sonnnachtnachmittagen nicht. Wir haben einander viel zu bieten. Emily ist in ihrem Wesen wie eine Seiltänzerin. Sie balanciert auf einem Faden, mal tänzerisch, mal verträumt, aber nie unsicher. Sie bewahrt stets das Gleichgewicht. Sie ist offen und anregend, hört zu und erzählt. Mal ist sie tiefgründig, mal unbekümmert. Sie lacht über einfache Dinge, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Katze zum Beispiel, die sich auf einer Fensterbank räkelt und herunterfällt, oder ihr eigenes Haar, das sie an der Nase kitzelt. Ein Lächeln legt sich über ihre Augen, ihre kleinen Lippen öffnen sich und zeigen ihre makellos weißen Schneidezähne, ehe sie leise kichert.

Ich bin diesem Lachen verfallen.

Ebenso gut kann man, wenn sie willens ist, niveauvolle Gespräche mit ihr führen. Sie versteht schnell und bringt eigene Gedanken ein, die manchmal zu derart komplexen Gebilden heranwachsen, dass ich staunen muss.

Umgekehrt fühlt Emily sich wohl in meiner Nähe. Sie weiß, ich respektiere ihren Glauben an okkulte Dinge, auch wenn ich ihn nicht teile. Mir gefällt ihre Einstellung. Die meisten Wissenschaftler begreifen nicht, dass ihr unerschütterlicher Glaube an ihr Studium ihnen wie eine massive Backsteinmauer den Weg zu neuen Erkenntnissen versperrt. Emily ist anders. Sie hat begriffen, dass wir letztendlich immer nur glauben, aber niemals wissen.

Ich muss zugeben, dass der Glaube an Magie und Fabelwesen mich manchmal fasziniert. Wir leben in einer Zeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Unser Planet ist vollständig kartographiert, und ich fürchte den Tag, da es nichts mehr gibt, das wir nicht erklären können. Ist es da närrisch, von verborgenen Orten zu träumen? Magischen Orten wie schwimmenden Inseln oder verwunschenen Tälern?

Emily weiß, dass ich sie ernst nehme; wenn sie mir ihre Träume schildert, die sie für gute oder schlechte Omen hält, oder wenn sie mir vom Kauf eines Schmuckstückes abrät, weil es eine böse Aura umgibt. Bevor ich sie kennenlernte, hätte ich solche Worte wohl belächelt. Aber Emily lehrte mich, dass ich den Glauben eines Menschen nicht teilen muss, um ihn zu respektieren. Ich denke immer seltener an ihren Ausflug zum Friedhof. Was geschah, wirkt auf mich wie ein seltsamer Traum. Ich frage mich manchmal, ob sie verrückt ist, und komme zu dem Schluss, dass es mir gleich ist. Ich würde sie nicht anders wollen. Bin ich dumm? Oder bloß verliebt? Vermutlich beides …

Obwohl wir mittlerweile vertraut miteinander sind, weiß ich doch wenig über ihre Herkunft. Ihre Mutter starb bei der Geburt ihres jüngeren Bruders, ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Wer also hatte sie großgezogen? Wie bezahlte sie ihre Studiengebühren? Und was war aus ihrem kleinen Bruder geworden? Emily wich mir nicht aus, als ich ihr diese Fragen stellte. Sie sagte deutlich, dass sie nicht darüber reden wolle. Noch nicht. Es liegt nahe, dass sie eine schwere Zeit durchlebt hat, aber ich komme nicht umhin, zu bemerken, dass ihre geheimnisvolle Vergangenheit sie noch anziehender macht. Ich weiß nicht mehr, ob sie wirklich schön ist, oder ob ihre innere Schönheit mich blendet. Aber spielt das eine Rolle?

Am gestrigen Abend wartete das Meer uns mit einer besonderen Attraktion auf. Emily und ich spazierten wie schon so manches Mal die Promenade entlang. Angefangen beim Frachtschiffhafen mit dem Dampfschiff machten wir einen großen Bogen um das Fourier, vorbei am Marktplatz, vorbei am Fischereihafen und erreichten zuletzt Kap Peek mit dem Leuchtturm an seiner Spitze, dem Freund der Seefahrer, der der tückischen See schon so manches Mal ein Schnippchen geschlagen hatte. Auf dem Rückweg erinnerte nur noch ein oranger Lichtstreif an den vergangenen Tag. Die Gasleuchten entlang der Promenade brannten und zeichneten facettenreiche Schatten auf den Boden.

„Sieh mal“, raunte Emily, als wir auf Höhe des Marktplatzes angelangt waren, und deutete voraus. „Jemand hat einen Ballon an dieser Straßenlaterne festgemacht.“

Ich verengte die Augen zu Schlitzen. Tatsächlich schien es auf die Entfernung so, wie Emily sagte. Ein rundes Objekt schwebte über der Leuchte in der Luft und war mit Seilen oder etwas Ähnlichem daran verankert. Darunter hatte sich eine Menschenmenge versammelt.

Während wir näher kamen, offenbarte sich uns, worum es sich tatsächlich handelte. Noch nie in meinem Leben durfte ich Zeuge eines vergleichbaren Anblicks werden. Einige Meter über der Leuchte schwebte ein Geschöpf, das einer riesigen Qualle ähnelte. Eine Riesenpilzmedusa. Der ‚Fruchtkörper‘, wie man den pilzähnlichen Leib dieser Geschöpfe nennt, maß etwa einen Meter im Durchmesser. Das Tier hatte die Tentakel um den Lichtmast der Gasleuchte geschlungen und wiegte rhythmisch auf und ab. Gerade, als wir uns der staunenden Menge anschlossen, fing die Medusa zu leuchten an. Türkise Sterne erstrahlten auf der Oberfläche des Tiers wie leuchtende Punkte auf einem Fliegenpilz, feine Äderchen durchzogen den durchsichtigen Leib und der Saum des Fruchtkörpers leuchtete wie flüssiges Mondlicht. Die Menge stöhnte.

„Dies, verehrte Damen und Herren, ist eine Riesenpilzmedusa, oder wie wir Wissenschaftler diese Geschöpfe nennen: Aurelia Maxima.“ Ein Mann mit Brille und gepflegtem Vollbart stellte sich auf eine Sitzbank unterhalb der Medusa und erhob sich somit über die Köpfe aller anderen. In seinem Mund steckte eine Pfeife. Tiefe Falten in den Augenwinkeln zeugten von einem freundlichen Gemüt.

Die Menge verstummte und wartete gespannt auf weitere Informationen. Der Mann ließ sich Zeit. Rauchstrahlen stoben ihm aus der Nase und quollen ihm zwischen den Lippen hervor, ehe er die Pfeife herausnahm.

„Dieses Exemplar ist noch sehr jung“, sagte er und deutete mit dem Stiel der Pfeife nach oben. „Ausgewachsene Tiere haben im Durchschnitt einen Durchmesser von drei Metern. Das größte Exemplar, dessen Umfang je gemessen wurde, maß im Durchmesser über viereinhalb Meter.“ Ein Raunen ging durch die Menge. „Riesenpilzmedusen ernähren sich ausschließlich von Wasser, Luft und Sonnenlicht.“

„Also betreiben sie Photosynthese?“, fragte jemand aus der Menge.

Der Mann lächelte. „Hören Sie das? Studenten sind unter uns.“ Einige lachten. „Nein, Riesenpilzmedusen können kein eigenes Chlorophyll synthetisieren. Sie leben in Symbiose mit Algen. Die Algen befinden sich von Geburt an in ihrem Leib. Die Medusen versorgen sie mit Wasser und allen nötigen Nährstoffen. Wie Sie vielleicht sehen, verehrte Damen und Herren, hängen einige Tentakel des Medusajungen noch immer im Wasser.“ Erst jetzt, da der Biologe es sagte, bemerkte ich die Schnüre. Im schwindenden Tageslicht waren sie kaum zu sehen. „Riesenpilzmedusen transpirieren Wasser über ihre Oberfläche. Dadurch entsteht ein sogenannter Transpirationssog, der frisches Wasser über feine Leitungen in den Tentakeln nachzieht. Die Algen im Innern der Tiere werden bestens versorgt und müssen dazu bloß einen kleinen Teil ihrer erwirtschafteten Energie an die Medusen abgeben.“

„Warum hält dieses Vieh sich an der Leuchte fest?“, fragte jemand aus der Menge, der Ausdrucksweise nach zu schließen kein Student.

„Nun, wie es scheint, wurde dieses Junge von seiner Herde getrennt, vielleicht während des Sturms vor drei Vierteln. Jungtiere halten sich von Zeit zu Zeit an den Tentakeln ihrer Eltern fest. Offensichtlich hält dieses hier die Straßenlaterne für einen biolumineszierenden Artgenossen.“ Verhaltenes Lachen ging durch die Reihen der Staunenden.

Wir bewunderten noch lange das Medusajunge, bis es sich schließlich von der Straßenlaterne löste und mit dem Wind aufs offene Meer hinaustrieb. Während Emily und ich Arm in Arm beobachteten, wie sein leuchtender Leib schrumpfte, gab es jäh ein langgezogenes Klagen von sich, das an das Heulen eines einsamen Wolfes erinnerte. Nur war es dunkler und viel lauter. Der Ton verlor sich in der Ferne. Ich hoffte innig, dass der Ruf dieses verlorenen Geschöpfes irgendwo auf die Ohren seiner Herde traf.

„Danke, William“, sagte Emily, als wir spät nachts im Treppenhaus vor ihrer Wohnungstür standen.

„Wofür?“

„Für diese unvergessliche Nacht.“

Ich wollte sagen, dass es nicht mein Verdienst sei, diesem Medusajungen begegnet zu sein, da kam Emily ganz nahe an mich heran. Ich hielt den Atem an. Seit sie mich vor drei Vierteln zurückgewiesen hatte, hatten wir uns nicht mehr geküsst. Inzwischen verzehrte ich mich danach, ihre Lippen auf meinen zu fühlen. Trotzdem fasste ich sie an den Schultern und hielt sie mit sanfter Gewalt zurück. Sie hob die Brauen.

„Was ist mit, wir wollen das Übel nicht herausfordern?“, fragte ich.

„Vergiss das“, sagte sie. „Ich will dich küssen.“

„Warte mal“, sagte ich und hielt sie weiterhin zurück. „Wieso ist es jetzt in Ordnung?“

Sie blies die Wangen auf. „Das würdest du nicht verstehen“, murmelte sie und wich meinem Blick aus.

„Versuch es doch einfach.“

Aber Emily schwieg, die Augen auf einen Punkt hinter mir geheftet.

„Emily?“ Ich folgte ihrem Blick und dann sah ich es.

Im Holz der Tür steckte ein Messer. Dianes Messer. Mir wurde kalt. Wie vom Anblick der Waffe hypnotisiert starrte ich auf den Griff. Warum hatte Diane das getan? Wollte sie uns Angst machen? Uns drohen? Wartete sie vielleicht in Emilys Wohnung? Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken hinab.

Dann bemerkte ich etwas Merkwürdiges. Ich sah genauer hin, und eine schwarze Substanz, die dem Griff der Waffe anhaftete, offenbarte sich mir. Wie Teer oder Pech sah sie aus. Vor meinen Augen löste sie sich in Rauch auf und war binnen Sekunden verschwunden. Ich packte den Griff und zerrte daran. Die Klinge rührte sich kaum. Blanke Wut hatte sie tief ins Holz getrieben. Ich zog fester und befreite sie mit einem Ruck. Die silberne Klinge glitzerte im schwachen Licht, das durch die Fenster des Treppenhauses hereinfiel. Eiskristalle überzogen die Oberfläche des Stahls, als hätte der Dolch eine Nacht lang in frostiger Kälte gelegen. Genau wie die schwarze Substanz zuvor taute das Eis in kürzester Zeit und hinterließ nicht einmal Wasser. Ich sah zu Emily, um mich zu versichern, dass mich die Sinne nicht täuschten. Aber Emilys Aufmerksamkeit galt etwas Anderem. Ich folgte ihrem Blick. In eckigen Großbuchstaben hatte jemand – zweifellos Diane – ein einzelnes Wort ins Holz der Tür geschnitzt:

HURE

W. D. Walker

31. FEENMOND 1713, SONNNACHT

Emily hatte Angst. Ich musste immerzu daran denken, was Gary über Diane erzählt hatte. Dass sie aus Schwarzwasserhafen kam und nicht mehr ganz dicht im Kopf sei. Offenbar hatte er damit nicht Unrecht.

Auf der anderen Seite machte ihr Verhalten mich wütend. Ich hatte mich ihr gegenüber nicht ganz richtig benommen, ja, aber sie hätte mich wenigstens anhören können. Stattdessen erfand sie irgendeine aberwitzige Geschichte, ließ viertellang nichts von sich hören und rammte dann ihr Messer in Emilys Tür. Was bezweckte sie damit? Wollte sie uns einschüchtern? Uns drohen?

„Sie benimmt sich unvernünftig“, sagte ich wütend zu Ed.

„Reg dich ab und trink ein Bier“, meinte er bloß. Ich hatte Emily angeboten, bei uns zu übernachten. Sie hatte sich kaum getraut, ihre Wohnung zu betreten aus Angst, Diane könne dort auf sie warten. Ihr Schloss hatte keine Einbruchspuren aufgewiesen, soweit sich das im Dunkeln beurteilen ließ, also wagte ich einen Vorstoß. Dianes Messer in der Rechten verlieh mir zusätzlichen Mut. Während ich jeden Raum einzeln inspizierte und sogar in die Küchenschränke schaute, blieb Emily unentwegt in meiner Nähe. Erst als wir sicher waren, dass niemand da war, sammelte sie hastig alles Nötige für eine Übernachtung ein, und wir verließen die Wohnung.

Ed war an diesem Abend noch wach und glücklicherweise nicht aus. Ihn in unserer Nähe zu wissen, gab mir ein gutes Gefühl, nicht zuletzt deshalb, weil er groß und kräftig gebaut ist.

Ich öffnete den Bügelverschluss der Flasche, hob sie energisch an die Lippen und verschluckte mich prompt. Ich hustete und hatte das Gefühl, Schaum käme mir gleich zu beiden Nasenlöchern heraus.

„Ich stelle sie morgen zur Rede“, keuchte ich und tupfte den Hals meiner Flasche ab.

„Alleine? Hast du sie noch alle? Sie ist verrückt. Melde den Vorfall dem Konstabler.“

Ich schüttelte den Kopf. „Sie würde es abstreiten“, sagte ich. „Ich könnte nicht beweisen, dass das Messer ihr gehört.“

„Vielleicht ist es ja auch gar nicht von ihr“, gab Emily zu bedenken.

Ich schüttelte den Kopf. „Es ist ihr Messer.“

„Woher weißt du das?“

„Ich … hab es schon einmal bei ihr gesehen.“

„Also gut“, sagte Ed widerwillig. „Statten wir ihr morgen einen Besuch ab.“

Ich hob die Brauen. „Du kommst mit?“

Ed grinste. „Ja, glaubst du, ich lasse es mir entgehen, wenn mein Mitbewohner von einem Mädchen verprügelt wird?“ Emily lachte. Ich boxte Ed freundschaftlich gegen die Schulter und trank noch einen Schluck Bier. Ich war immer noch wütend und besorgt, aber ich fühlte mich besser.

Ed trank ebenfalls. Dann fiel sein Blick auf einen Punkt unterhalb meines Kinns. Er runzelte die Stirn. „Was trägst du da eigentlich um den Hals?“

Ich verschluckte mich beinahe wieder. Mist! Bis jetzt hatte ich das Mojo vor Ed verbergen können. „Nichts Besonderes“, sagte ich und erhob mich. „Es ist schon spät. Wir sollten versuchen, zu schlafen.“

„Moment mal, Freundchen.“ Auch Ed erhob sich und versperrte mir den Weg. „Zeig das mal her.“ Widerwillig holte ich das Mojo unter meinem Hemd hervor. Ed betrachtete es einige Sekunden lang schweigend und sah dann mit hochgezogenen Brauen abwechselnd von mir zu Emily.

„Was ist das?“, insistierte er, als niemand eine Erklärung von sich gab.

„Ach das“, sagte ich, während ich fieberhaft nach einer Ausrede suchte. Ich schalt mich selbst einen Dummkopf, weil ich mir nicht längst eine zurechtgelegt hatte. „Das ist …“

„Ein Mojo“, sagte Emily unbekümmert. Ich funkelte sie an.

„Ein … Motscho?“, wiederholte Ed ratlos.

Emily nickte. „Ein origonischer Talisman. Er bringt Glück und schützt vor bösen Geistern und …“

„Du kannst aufhören, Emily.“ Ich knirschte mit den Zähnen. „Ed kann uns gar nicht für noch verrückter halten.“ Ed sah aus, als würde er gleich laut loslachen.

„Und … und was ist da drin?“

„Ooch, nur ein paar Kräuter, ein Kupferkorn …“

„Wie gesagt, Emily, du kannst aufhören“, sagte ich überdeutlich. Ed brach in Gelächter aus. „Mo-mo – motscho!“, rief er mit hochrotem Gesicht und schüttelte sich regelrecht vor Lachen. „Motscho!“

„Wirklich sehr komisch, Ed“, sagte Emily trocken, aber Ed lachte bloß noch heftiger.

„Dann kann ich morgen ja hierbleiben“, sagte er und wischte sich die Augen. „Dein Motscho wird dich schon vor Diane beschützen.“

„Es heißt Mojo“, berichtigte ich ihn. Ich bereute meine Worte sofort, waren sie doch Öl im Feuer von Eds Belustigung. Immer noch lachend verließ er den Raum. Wenig später gingen auch Emily und ich zu Bett.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte ich, bevor ich ihr das Wohnzimmer überließ. „Ich glaube nicht, dass Diane einem von uns wehtun würde.“ In Wahrheit wusste ich es nicht. Diane war schwer einzuschätzen.

Aber Emily machte auf mich nicht den Eindruck, als fürchte sie sich wegen Diane. „Bestimmt nicht“, sagte sie, doch ihr Blick war in die Ferne gerichtet, und ich fragte mich, welchen Unsinn sie wohl in diesem Moment aus den Fäden der Ereignisse spann.

Sie sah mir in die Augen. „Nimm dich in Acht, William.“ Sie klang besorgt. „Wenn sie wusste, dass du ihr Messer wiedererkennst, wollte sie dich vielleicht ködern.“ Ich schluckte. Daran hatte ich noch nicht gedacht.

Am Nachmittag des nächsten Tages machten Ed und ich uns auf den Weg zum Hafen. Ed machte einen entspannten Eindruck, und das Ereignis der vergangenen Nacht verlor etwas von seinem Schrecken. Kaum hatten wir das Fourier betreten, versperrte Gary uns den Weg.

„Soll das ein Scherz sein, Gary?“, fragte Ed. „Wie oft haben wir zusammen einen draufgemacht? Und jetzt willst du mich nicht mehr reinlassen?“

„Du kannst rein“, knurrte Gary. „Aber der da …“ Er wies kopfnickend in meine Richtung. „… bleibt draußen.“

„Will ist in Ordnung.“

„Da kennst du ihn aber schlecht.“ Gary sah mich zornfunkelnd an. „Es enttäuscht mich, dass du mit ihm befreundet bist. Ist dir klar, wie gestört er ist?“

„Wovon redest du?“

„Frag ihn doch selbst.“

Ed und ich sahen einander an. Mein ratloser Blick genügte.

„Ich rede davon, dass du sie regelmäßig aufsuchst und irgendwelche Psychospielchen mit ihr treibst“, rief Gary und Spucketröpfchen flogen mir ins Gesicht.

„Aber ich war nicht …“

„Fang nicht wieder damit an“, sagte Gary und deutete auf mich. Eine gefährlich große Ader pochte auf seiner Stirn.

„Schluss damit, Gary“, sagte Ed scharf. „Ich kenne Will gut genug, um zu wissen, dass er sowas nie tun würde. Er ist total harmlos. Meine Fresse, er liest Gedichte und schreibt Tagebuch. Denkst du wirklich, er wäre zu Psychospielchen fähig?“ Ein Teil der Wut wich aus Garys Gesicht und machte einem nachdenklichen Ausdruck Platz. „Will hat sie seit drei Vierteln nicht gesehen“, fuhr Ed fort, „und dann steckte gestern ihr Messer in der Tür unserer Freundin.“

Um Eds Worte zu untermauern, holte ich Dianes Messer hervor und reichte es mit dem Griff voran an Gary weiter. Der Wachhund musterte es aufmerksam.

„Das ist ihr Messer“, murmelte er.

„Wir müssen mit ihr reden, bevor sie irgendwas Dummes anstellt“, sagte Ed.

„Sie ist beim Leuchtturm“, sagte Gary widerwillig. „Geht zu ihr und schafft diesen Streit aus der Welt. Aber …“ Er zögerte. „Seid vorsichtig. Diane ist manchmal … etwas sonderlich. Verdammt, ich weiß, was ihr jetzt denkt. Das macht sie nicht unglaubwürdig! Ich will damit nur sagen, dass sie ihre Kämpfe in aller Regel nicht mit Worten austrägt … versteht ihr?“

„Ed“, sagte ich, nachdem wir das Fourier verlassen hatten und der Promenade in Richtung Leuchtturm folgten. „Hältst du es für möglich, dass ich bei Diane war, ohne es zu wissen?“

Ed runzelte die Stirn. „Ich habe selbst darüber nachgedacht, ob du geschlafwandelt sein könntest. Erinnerst du dich? Damals habt ihr euch über mich lustig gemacht. Jetzt verstehe ich auch warum. Deine Worte klingen lächerlich.“

„Ich meine nicht, dass ich geschlafwandelt bin“, sagte ich kleinlaut. „Aber … hast du mal von den schizophrenen Menschen gehört, die es in Sankt Laplace geben soll?“

„Du fürchtest, du hast eine zweite Persönlichkeit?“, fragte Ed. Ihm war anzuhören, wie skeptisch er war. „Ich glaube, das hätte ich bemerkt. Gibt es denn Zeitabschnitte, an die du dich nicht mehr erinnern kannst?“

„Nein. Eigentlich nicht.“

„Wenn du mich fragst, ist eher Diane ein Fall für die Klapsmühle“, fuhr Ed fort. „Du hast Gary gehört. Und schließlich hat sie ein Messer in Emilys Tür gerammt. Nein, ich glaube, sie ist eifersüchtig.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Trotzdem wüsste ich zu gern, wie es dir gelungen ist, sie ins Bett zu kriegen. Weißt du, wie oft ich mir an ihr die Zähne ausgebissen habe?“

Ich nickte. „Du hast es mir ja nun oft genug erzählt.“

Als ich Ed zum ersten Mal ihren Namen genannt hatte, hatte er geglaubt, ich erlaube mir einen Scherz. Diane war die Perle des Fourier. Die Frauen beneideten sie um ihre Schönheit, die Männer buhlten um ihre Aufmerksamkeit. Ihre Stimme brachte Eisberge zum Schmelzen und selbst abgebrühte Seemänner um den Verstand. In jener Nacht, als ich Diane kennenlernte, hatte Ed kurz das Lokal verlassen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt mit dem Kopf auf der Tischplatte geschlafen. Als er nach unbestimmter Zeit zurückgekehrt war, war ich verschwunden gewesen. Und Diane ebenfalls. Ed hatte sich nichts dabei gedacht.

Als wir Kap Peek erreichten, neigte der Tag sich dem Abend zu. Es war stürmisch und das Rauschen der Wellen, die sich an den Klippen brachen, füllte unsere Ohren.

„Was kann ich euch Gutes tun, Jungs?“, fragte der Leuchtturmwärter, ein alter Mann mit grauem Stoppelbart.

„Wir suchen eine junge Frau“, sagte ich. „Sie ist etwa in unserem Alter, blonde Haare, ziemlich hübsch.“

„Aber doch nicht hier.“ Der Alte zeigte ein schelmisches Grinsen. „Jungs, als ich in eurem Alter war, hab ich auch von hübschen Blondinen geträumt, aber auf einem Leuchtturm danach zu suchen, auf die Idee bin ich nie gekommen, nein. Und ich halte den Einfall, ehrlich gesagt, für beschissen.“

Ed wandte sich ab und sagte so leise, dass nur ich es hören konnte: „Er gefällt mir.“

„Wir suchen nicht nach irgendeiner Blondine“, sagte ich, „sondern eine … Freundin.“

„Da muss ich dich leider enttäuschen, mein Jung. Sie ist nicht hier.“

„Sind Sie sich sicher?“

Der Alte nickte. „Hier kommt keiner rein, wenn ich ihm nicht die Tür öffne. Und abgesehen von euch beiden hatte ich heute keinen Besuch. Aber ihr dürft gerne raufgehen und euch selbst davon überzeugen.“

Ed zuckte die Achseln. „Wenn wir schon mal hier sind …“ Minuten später gelangten wir – etwas kurzatmig – an der Spitze des Turms wieder ins Freie. Der Ausblick war fantastisch. Der Leuchtturm stand am Rande der Klippen von Kap Peek. Somit befanden wir uns über dreihundert Meter über dem Meeresspiegel. Der Wind pfiff uns um die Ohren und türmte wie ein verspieltes Kind mit der Kraft einer Naturgewalt weit unter uns das Wasser zu meterhohen Wellen auf, um sie an den Felsklippen zu zerschmettern.

„Schau mal.“ Ich folgte Eds Blick. Das Geländer war derart verrostet, dass es aussah, als könne man es mit bloßen Händen zu Staub zerreiben.

Wir gingen einmal um das Lampenhaus herum. Auf der anderen Seite war es windstill. Auch hier bot sich uns ein fantastischer Ausblick. Vor uns erstreckte sich der westliche Stadtrand von Treedsgow, daneben goldene Felder und grüne Weiden. Etwas abseits lag der Bahnhof. Alle Viertel wieder hielt dort ein Zug und brachte Güter aus anderen Teilen des Landes. Die Schienen schlängelten sich durch das Land, soweit das Auge sehen konnte. Stolz kündeten sie von der unaufhaltsam fortschreitenden Mobilität und weckten Träume von fernen Gegenden, die längst nicht mehr so fern waren, wie man glaubte.

Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit mit Emily hierherzukommen.

„Wir versuchen es nächstes Viertende nochmal im Fourier“, rief Ed wieder auf der anderen Seite des Lampenhauses. Ich nickte und zuckte mit den Achseln. Ed öffnete die Tür in den Turm, aber ich bedeutete ihm, kurz zu warten. Einmal wollte ich über den Rand der Klippe spähen. Ich umklammerte das Geländer, das sich trotz seines Zustands einigermaßen stabil anfühlte, und genoss das ziehende Gefühl in der Magengegend, das mir die schwindelerregende Höhe bescherte.

Hinter mir ertönte ein dumpfer Schlag. Ich ahnte das Geräusch mehr, als dass ich es hörte. Ich wandte mich um. Da lag Ed mit nach innen gekehrten Augen am Boden. Über ihm stand Diane, in der Hand ein Messer. Eine riesige Beule wuchs auf Eds Schläfe.

„Diane, was tust du?“, rief ich.

„Was tust du“, äffte sie mich nach. Ein irrer Glanz lag in ihrem Blick. „Ich wusste, du würdest kommen, William David Walker.“

Ich starrte auf das Messer. Die Klinge war gebogen und glänzte. „Willst du mich töten?“, hörte ich mich mit schwacher Stimme fragen. Der Wind riss meine Worte fort. Diane konnte mich nicht verstanden haben, aber die Antwort lag auf der Hand.

„Ich habe dich gewarnt, Walker“, rief sie mit schriller Stimme und deutete mit der Spitze des Messers auf mich. „Mehr als einmal habe ich dich gewarnt.“ Zu meiner Überraschung sah ich Tränen in ihren Augen glitzern.

„Ich weiß nicht, wovon du redest!“

Diane trat vor und schlug mir ins Gesicht. Ich stolperte rückwärts, bis ich das Geländer im Rücken spürte. Warmes Blut spritzte aus meiner Nase, Tränen raubten mir die Sicht.

„Hör endlich auf, das zu sagen!“, schrie Diane.

Ich wischte mir das Blut von der Oberlippe und funkelte sie an. „Wenn du wenigstens mit dir reden lassen würdest“, schrie ich zurück. „Ich habe viertellang nichts von dir gehört …“

Wieder schnellte Dianes Faust vor. Dieses Mal war ich vorbereitet. Ich stieß ihren Arm beiseite und fasste sie am Handgelenk. Diane reagierte darauf, indem sie mir zwischen die Beine trat. Dumpfer Schmerz explodierte in meinem Unterleib. Stöhnend fasste ich mir in den Schritt und stützte mich am Geländer ab.

„Ich habe schon mit vielen Arschlöchern zu tun gehabt“, rief Diane gegen den Wind. „Aber du, Walker, du bist einfach nur gestört. Auf eine Weise der Schlimmste von allen, die mir je begegnet sind.“

„Warum?“, presste ich unter Schmerzen hervor.

Diane ignorierte die Frage. „Du und deine kleine Schlampe, ihr werdet bereuen, dass ihr mich nicht einfach in Frieden lassen konntet.“

„Emily?“

Beim Klang des Namens verzog Diane das Gesicht. „Sie ist gleich nach dir dran.“

„Nein.“ Der Schmerz war vergessen. Ich richtete mich auf und sah gerade noch Dianes Faust ein weiteres Mal auf mein Gesicht zufliegen, ehe sie mit Wucht auf mein Auge krachte. Grelle Lichter blitzten auf, und ich musste mich erneut am Geländer abstützen. Das rostige Eisen ächzte.

„Ich stelle dir frei zu springen, Walker“, sagte Diane. Ihre Stimme klang fern. „Hörst du mich? Es wäre deutlich angenehmer für dich.“

Blinde Wut packte mich. Ich rappelte mich langsam auf und warf einen Blick in den Abgrund, um Diane glauben zu machen, ihr Angebot abzuwägen. Die tosenden Wassermassen erinnerten mich an ein Gehege voller Ungeheuer. Wellen, die fauchend und mit schnappenden Kiefern hochsprangen …

Ich blickte auf und sah Diane ins Gesicht.

Ein letzter Versuch. „Bitte …“

„Spring!“

Ich warf mich auf sie. Diane hob ihr Messer. Zu langsam. Ich packte sie am Handgelenk, drückte die Waffe nach unten und drängte sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand des Lampenhauses stieß. Sie knurrte und riss ihr Knie hoch. Es krachte schmerzhaft gegen meinen Oberschenkel, verfehlte aber zum Glück meine Genitalien. In blinder Panik griff ich in ihr blondes Haar und zerrte daran. Sie schrie und verpasste mir einen weiteren Hieb ins Gesicht. Ihre Fingernägel hinterließen blutige Striemen auf meiner Haut und verfehlten nur knapp mein geschwollenes Auge. Ich ließ von ihren Haaren ab, bekam auch ihr anderes Handgelenk zu fassen und presste es gegen die Wand des Lampenhauses. Diane mochte in Schwarzwasserhafen aufgewachsen sein und mehr Erfahrung im Kampf haben als ich, aber ich war stärker. Keuchend stemmte sie sich gegen meinen Griff an. Sie versuchte noch einmal, mir ihr Knie ins Gemächt zu rammen. Ich drehte mich weg und fing den Angriff mit meinem Oberschenkel ab.

„Es reicht, Diane.“

Sie stieß den Kopf vor. Ihre Stirn krachte schmerzhaft gegen meinen Unterkiefer und für einen Moment verließ mich jegliche Kraft. Sie befreite sich aus meinem Griff und schob mich von sich. Sie hob das Messer und setzte mir nach. In Todesangst wich ich zurück, stolperte über Ed und stürzte. Mein Ungeschick rettete mir das Leben. Dianes Angriff ging ins Leere. Unsanft prallte ich mit dem Rücken gegen das Geländer. Es knarrte, und ein metallenes Pling kündete vom letzten Atemzug einer Schraube. Das Geländer neigte sich bedrohlich. Auch Diane stolperte. Das Messer flog ihr aus den Händen und verschwand wirbelnd im Abgrund. Mit vorgestreckten Armen bekam sie den Handlauf des Geländers zu fassen und belastete es mit der gesamten Energie ihres Angriffs.

Etwas knackte.

Der Wind hielt den Atem an.

Ein weiteres, metallisches Pling, und plötzlich hing mein Oberkörper halb über dem Nichts.

Mit einer schnellen Drehung wälzte ich mich fort vom Abgrund. Aus den Augenwinkeln sah ich Diane mit den Armen rudern. Ich wandte den Kopf. Sie wankte, kippte … fiel. Ich sah sie zunächst sehr langsam stürzen. Sah ihr Gesicht, das zu einer Maske des Entsetzens erstarrt war. Unsere Blicke trafen sich. Hilfesuchend spreizte sie die Finger ihrer vorgestreckten Hand, als es längst zu spät war.

Sie fiel immer schneller. Über den Rand der Klippe hinaus, hunderte Meter tief, fiel und fiel, bis sie zuletzt mit der kinetischen Energie einer Kanonenkugel auf der aufgepeitschten See zerschmettert wurde.

Auf halber Höhe fing sie an zu schreien. Ein schriller Laut, der über meine Trommelfelle schrammte und mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich konnte den Blick nicht abwenden, konnte den Griff nicht vom Rand der Plattform lösen, um mir die Ohren zuzuhalten.

Der Wind stimmte wieder sein Gebrüll an, lauter und zorniger denn je.

Als Diane längst nicht mehr zu sehen, geschweige denn zu hören war, lag ich immer noch da, unfähig mich zu rühren. Die Zeit stand still, während die furchtbare Wahrheit sich in mein Hirn bohrte. Diane war tot. Tot! Verrückt oder nicht, sie war in die Tiefe gestürzt und würde nie wieder ein Wort sprechen. Nie wieder lächeln, nie wieder singen. Wie hatte es soweit kommen können?

Hinter mir stöhnte Ed. „Is‘ mir schlecht“, murmelte er beinahe unhörbar durch den Wind und setzte sich mit der Hand an der Schläfe auf. Er sah mich an und erstarrte in der Bewegung. Mir wurde bewusst, wie schrecklich ich aussehen musste; blutverschmierte Nase, geschwollenes Auge, Schrammen quer über das Gesicht. „Was ist passiert?“

W. D. Walker

1. ÄHRENGOLD 1713, RUHENACHT

Diane ist vor einem Monat gestorben. Erst jetzt scheine ich aus diesem Albtraum zu erwachen …

Ich erinnere mich, wie ich Ed berichtete, was geschehen war. Er war fassungslos. Er hatte Diane schon lange gekannt, hatte viele ihrer Auftritte gesehen, hatte mit ihr geflirtet und gescherzt.

Wir stiegen die Wendeltreppe des Leuchtturms herab. Ed musste regelmäßig rasten, weil er von Schwindel und Übelkeit überwältigt wurde. Unten erwartete uns der Leuchtturmwärter.

„Was ist passiert?“, fragte er. „Ich habe jemanden schreien gehört.“ Er sah mein entstelltes Gesicht und seine Augen weiteten sich.

„Keine Zeit für Erklärungen“, sagte ich barsch. „Wir müssen zum Konstabler. Sofort.“

Auf der Wache lauschte Konstabler Lovelace unseren Worten mit regloser Miene, während sein Assistent alles auf einer Schreibmaschine protokollierte. Ed berichtete bis zu dem Punkt, da er das Bewusstsein verloren hatte. Dann sah er zu mir. Ich holte tief Luft und schilderte ausführlich den Kampf. Anschließend stellte Lovelace einige Fragen und erklärte uns nüchtern, dass wir unter Mordverdacht stünden. Ein Detektiv werde sich der Sache annehmen.

Als wir die Tür zum Treppenhaus unserer Wohnung öffneten, stieß Emily zu uns.

„Du wolltest doch in der Wohnung warten“, sagte Ed. „Wo bist du gewesen?“

„Spazieren.“

Ich musterte Emily scharf. War sie wieder beim Friedhof gewesen? Emily bemerkte mein Gesicht und schlug sich die Hand vor den Mund. Ich fürchtete, die Geschichte nun ein drittes Mal erzählen zu müssen, da sprang Ed für mich ein.

„Lass uns reingehen“, sagte er. „Drinnen werde ich dir alles erzählen.“

Emily war schockiert, als sie vom Tod Dianes erfuhr. Erst als sie meine Hand berührte, bemerkte ich, dass sie mich ansah. Schon seit geraumer Zeit starrte ich auf den Hals meiner Bierflasche, ohne wirklich etwas zu sehen.

„Wie geht es dir?“

Ich ruckte mit dem Kopf. „Ich … muss immerzu daran denken, was ich hätte tun können, um sie zu retten.“

„Du darfst dich nicht für ihren Tod verantwortlich machen. Hörst du?“

Ich begegnete ihrem Blick mit düsterer Miene. Du weißt nicht, wovon du redest, hätte ich beinahe gesagt. Ich schluckte die Worte hinunter. Natürlich wusste sie das.

Am nächsten Morgen besuchte uns der Detektiv. Er hatte viele Fragen, auch an Emily. Wir zeigten ihm Emilys Tür und verwiesen ihn an Gary und den Leuchtturmwärter. Ein paar Tage später erhielten wir einen schriftlichen Bescheid, dass jeglicher Verdacht von uns abgewendet sei. Was der Detektiv herausgefunden hatte, blieb ein Geheimnis. Vermutlich hatte Dianes Herkunft eine entscheidende Rolle gespielt. Sie war Gesindel aus Schwarzwasserhafen ohne Angehörige, die Vergeltung verlangten – ein Schandfleck auf dem Antlitz unserer ja so vornehmen Stadt. Ich hätte erleichtert sein sollen, aber es machte mich wütend.

Doch auch wenn der Detektiv von unserer Unschuld überzeugt war, so waren es viele Menschen nicht. Niemand wagte es, uns offen darauf anzusprechen, aber wir spürten die Blicke unserer Kommilitonen und Professoren, besonders ich, da mir die Spuren des Kampfes sogar noch heute ins Gesicht geschrieben stehen. Das Starren der Menschen war wie Salz in meinen Wunden, ihr Tuscheln wie Säure. An manchen Tagen fragte ich mich, ob Diane nicht tatsächlich durch meine Hand gestorben war. Je weiter das Geschehen in die Vergangenheit rückte, desto unschärfer wurden meine Erinnerungen. Ist Diane gestolpert? Oder habe ich ihr ein Bein gestellt? An solchen Tagen war ich froh, das Ereignis in meinem Tagebuch festgehalten zu haben. Die vertinteten Worte rücken anders als meine Erinnerungen nicht in die Ferne und lassen keinen Spielraum für Spekulationen.

Hier steht, was war.

Heute, über einen Monat später, hat sich der Wirbel um Dianes Tod gelegt. Ich verdanke Emily viel. Sie riet mir dazu, darüber zu reden, und es half. Die Menschen begriffen, dass Dianes Schicksal eine Tragödie war und kein Mord. Ich stellte Diane nie als den Menschen hin, der versucht hatte, mich kaltblütig abzustechen. Sie hatte teuer genug bezahlt. Nein, die Schuld war nicht bei Diane zu finden, nicht bei mir oder sonst wem. Die Situation war unglücklichen Umständen entwachsen, und die Schuld ein Dämon, der sich nährte vom Hass seiner Gläubiger.

Jedes Mal, da ich über Dianes Tod redete, fühlte ich mich niedergeschlagen, aber es zahlte sich aus. Man glaubte mir, empfand sogar Mitleid. Ich rief mir das Erlebnis immer wieder in Erinnerung und das war gut. So akzeptierte ich es als Teil meiner selbst.

Lange Zeit nach Dianes Tod, wenn ich die Augen schloss, sah ich ihr Gesicht – in ihrem Blick die Erkenntnis, dass sie dem Tod entgegenraste – und wenn es sehr still war, hörte ich ihren verblassenden Schrei, der sich in mein Gehör gebrannt zu haben schien, wie helles Licht sich einem in die Netzhaut brennt. Auf Emilys Anraten ging ich vor genau einem Viertel zum Leuchtturm. Ich stellte mich an das rundherum neue Geländer und verlor meinen Blick in der See. Schon jetzt überzog brauner Rostschimmel die Oberfläche des schmiedeeisernen Geländers. Ich legte meine Hände darauf, verweilte, bis meine Finger taub waren vor Kälte, und dachte lange nach.

Als ich den Leuchtturm verließ, schien ich Dianes Tod endgültig hinter mir zu lassen. Ich konnte sie immer noch sehen, doch die Erinnerungen drängten sich mir nicht auf, und ich empfand weder Trauer noch Grauen, wenn ich an ihren Tod dachte. Nur Akzeptanz. So gelang es mir, trotz aller Umstände die Prüfungen dieses Semesters mit einem guten Gefühl hinter mich zu bringen. Ich freue mich über die Ferien, die mit der Nacht des ersten Ährengolds eingeleitet wurden.

Ich habe Mirrorisnacht als Kind immer gemocht – vor allem wegen der Kupferkorne – aber nachdem ich erlebte, wie es in Treedsgow gefeiert wird, scheint mir, die Einwohner von Little Hill haben keinen Sinn für Extravaganz. Treedsgow ist stolz, den Ruf einer rational denkenden Stadt zu haben. Eine Geburtsstätte der Wissenschaften und Erfindungen. Aber am Abend vor Mirrorisnacht, ausgerechnet einem heidnischen Feiertag, pfeift es auf seinen guten Ruf. Mit geradezu kindlichem Vergnügen befolgen die Einwohner die Traditionen: Sie hängen Spiegel in ihre Fenster, tragen Masken von Katzen und Wölfen und beleben die nächtliche Stadt. Ein Kostümfest auf offener Straße. Die Kinder verbergen ihre Gesichter hinter Albenfratzen, lauern einem an Straßenecken auf und hoffen, dass man ihnen Kupferkorne hinwirft. Knallkörper zerreißen die nächtliche Stille. Ein auf angenehme Weise beißender Schwefelgeruch schwängert die Luft. Münzen klingeln auf dem Straßenpflaster und lachende Kinder jagen ihnen nach. Überall begegnet man kuriosen Gestalten und man wünscht einander eine gute Jagd. Die Rituale dieses Feiertags führen auf die norvolkische Mythologie zurück.

Mit großem Eifer erklärte Emily: „An Mirrorisnacht feiern wir den Tag, an dem Tyr die Welt von den Bösen Geistern befreite. Wir helfen ihm, sie zu verjagen. Deshalb hängen wir Spiegel in unsere Fenster. Sie sind Portale zur anderen Seite. Damit sie nur in eine Richtung funktionieren, verkleiden wir sie mit Girlanden. Wir erschrecken die Geister, indem wir Masken von Tieren tragen und Licht und Lärm machen, und sie fliehen in die Spiegel und gehen uns somit geradewegs in die Falle.“

„Und warum werfen wir den Kindern Kupferkorne hin?“

„Es heißt, Böse Geister seien bestechlich. Wir bezahlen die Kinder, die sich als Alben verkleiden, damit sie uns nichts tun.“

Ed bestimmte, den Feiertag im Ampére zu beginnen. Er lud Malcolm und Clive ein, jene Chemiestudenten, die bei einem abendlichen Bier stets für gute Unterhaltung sorgten, und vereinbarte mit ihnen, schon um vier Uhr nachmittags dort zu sein. Die Lokale seien stets überfüllt an Mirrorisnacht, erklärte er, und er wolle einen guten Platz sichern. Später, wenn es auf Mitternacht zuging, wollte er ins Hafenviertel, um sich das Feuerwerk anzusehen und die Feier im Bernoulli fortzusetzen. Ein guter Plan. Als Ed ins Ampére aufbrach, blieb ich in unserer Wohnung und wartete auf Emily. Sie arbeitete während der Ferien und würde erst am Abend heimkehren. Als sie schließlich kam, trug sie bereits ihr Kostüm: Eine Katzenmaske, die zur Hälfte ihr Gesicht verdeckte und nur Löcher für die Augen ließ.

„Du siehst hübsch aus“, sagte ich, zog mir selbst eine Wolfsmaske über das Gesicht und bot ihr meinen Arm dar. „Hübsch, aber unheimlich. Du wirst den Bösen Geistern das Gruseln lehren.“

„Bestimmt“, sagte Emily, ohne zu lächeln, und hakte sich bei mir ein.

„Alles in Ordnung?“

„Ja, wieso?“

Ich verengte die Augen. „Du wirkst so … ernst.“

Sie zögerte. „Versprich mir, nicht durchzudrehen“, sagte sie. Das Herz wurde mir schwer. Ich schwieg, und zögerlich fuhr Emily fort: „William, ich … ich glaube, ich habe vorhin Diane gesehen.“ Ihre Worte jagten mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Ich blieb stehen und sah sie an. Emily senkte verlegen den Blick.

„Diane ist tot“, sagte ich.

„Ich weiß“, flüsterte Emily.

„Wie kannst du dann glauben, sie gesehen zu haben?“

„Ich habe sie erkannt“, murmelte Emily und wich meinem Blick aus. „Sie hatte goldblondes Haar und … sehr blasse Haut.“

Ich verfiel in kurzes Schweigen. „Denkst du etwa, sie sei von den Toten auferstanden?“

Emily machte eine verzweifelte, undefinierbare Geste, eine Mischung aus Kopfnicken und Schulterzucken.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Emily, ich bin immer offen, was deinen Hang zu Übersinnlichem angeht, aber hältst du es nicht für möglich, dass du dich dieses eine Mal irrst?“

Sie schwieg.

„Trug diese Person mit dem goldenen Haar eine Maske?“, fragte ich.

„Ja“, gestand sie widerwillig.

„Ist es da nicht wahrscheinlicher, dass du dich getäuscht hast, als dass Diane wahrhaftig zurückgekehrt ist?“

Sie seufzte. „Womöglich.“ Sie trat nah an mich heran und nahm meine Hände in ihre. „Es tut mir leid. Ich weiß, du fängst gerade an, sie zu vergessen.“

„Nein. Ich werde sie nie vergessen. Aber ich kann ihren Tod akzeptieren und das verdanke ich dir.“ Emily hob den Blick und sah wohl erst jetzt, dass ich lächelte. „Nun lass uns gehen und etwas Spaß haben.“

Im Ampére sahen wir Ed, Malcolm und Clive, außerdem auch Oliver und Scott an einem der besten Tische nahe beim Tresen. Es war ein lustiger Abend. Wir tranken, lachten und erzählten. Wir verließen die Gaststätte zeitig und machten uns auf den Weg zum Hafen. Unterwegs lauerten uns die Alben auf. Eine besonders schlimme Truppe wartete am Ende einer Gasse, die zur Promenade führte. Die Biester hatten sich mit faulen Eiern bewaffnet. Ich reagierte, bevor irgendjemand – damit meine ich Clive, der schon ziemlich betrunken war – die Situation eskalieren ließ. In weiser Voraussicht war ich einige Stunden zuvor bei der Bank gewesen und hatte drei Groschen gegen einen Haufen Kupferkorne eingetauscht. Ich griff in die Tasche und warf sie den Kindern vor die Füße, und während sie auf dem Boden herumrutschten und sich die Hosen an den Knien zerrissen, hasteten wir vorbei.

Auf der Promenade herrschte dichtes Gedränge. An einen Platz in den vordersten Reihen war nicht zu denken.

„Wir könnten runter zum Strand“, schlug ich vor.

„Ihr könnt gehen“, meinte Ed. „Ich suche die anderen. Wir treffen uns im Bernoulli.“

Auch am Strand waren viele Menschen. Dennoch herrschte hier längst kein so dichtes Gedränge wie auf der Promenade. Es war eine zauberhafte Nacht. Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Zu tausenden blinkten die Sterne darin. Gemurmelte Gespräche schwebten über den Köpfen der Menge. Die Luft war wie elektrisiert vor gespannter Erwartung. Emily und ich zogen uns in die Schatten unter einem weitläufigen Steg zurück, über dem die Promenade an diesem Abschnitt verlief. Dort waren wir allein. Bald zischten die ersten Feuerwerkskörper empor und malten grelle Farbkleckse in den Himmel, zogen Kreisel, pfiffen, zischten und knallten. Zuletzt feuerte eine Batterie einen nicht enden wollenden Strom goldener Lichtbälle aufs Meer hinaus. Nur unsere Begegnung mit der Riesenpilzmedusa von vor vier Vierteln kam diesem Anblick gleich. Ich erinnerte mich, wie Emily versucht hatte, mich danach zu küssen, und plötzlich tat es mir leid, dass ich sie zurückgewiesen hatte. Ich sah sie an. Und sie mich. Und ich wusste, dass jetzt der Moment war, alle Widrigkeiten zu begraben. Ich kehrte dem Feuerwerk den Rücken und strich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht. Sie war so schön. Ich beugte mich zu ihr herab.

„William …“

Ich erstarrte. Etwas daran, wie sie meinen Namen sagte, lies die Luft aus meinem Herzen entweichen wie aus einem aufgestochenen Ballon. Sie klang nicht etwa begehrend, vielmehr widerwillig. Mein Körper versteifte.

„Was ist?“

„Wir … sollten das nicht tun“, murmelte sie.

War das zu fassen? „Niemand erkennt uns“, sagte ich, obwohl ich zu wissen glaubte, dass sie andere Gründe hatte.

Sie schwieg und starrte verlegen zu Boden. Fehlte ihr der Mut, mir den wahren Grund zu nennen? War das dieselbe Emily, die nachts auf Friedhöfen umherstreifte und sich mit einem Messer den Arm aufschlitzte? „Ist es, weil du glaubst, Diane gesehen zu haben?“, fragte ich. Ich konnte nicht verhindern, dass ich brüsk klang.

Sie nickte widerwillig.

„Findest du nicht, dass du dich ein bisschen zu sehr von diesen Mythen beeinflussen lässt?“

„Du hast gesagt, du könntest meinen Glauben respektieren“, entgegnete sie bitter.

„Und du sagtest, du würdest sie für möglich halten, und nicht mit einer Hingabe daran glauben, die an Fanatismus grenzt.“

„Ich sorge mich um dich, William“, sagte Emily den Tränen nahe. „Ich habe den Tod dreier Menschen zu verantworten, weil ich …“ Sie stockte und fuhr mit gesenkter Stimme fort. „… weil ich sie geküsst habe.“

„Nein. Nein, Emily. So interpretierst du es. Es war sicher schrecklich, diese Menschen zu verlieren. Aber allmählich glaube ich, du verlierst den Verstand.“ Ich bereute die Worte, kaum dass ich sie gesprochen hatte. Tränen quollen aus Emilys Augen.

Jäh setzte tosender Applaus ein. Das Ende des Feuerwerks war eingetreten, ohne dass wir es bemerkt hatten. Bevor ich mich für das, was ich gesagt hatte, entschuldigen konnte, machte Emily auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. Ich rief ihren Namen. Lief ihr nach, als sie nicht reagierte. Aber ehe ich sie einholte, wurde sie eins mit dem Gewirr dunkler Menschenleiber. Ich suchte bestimmt eine Stunde lang nach ihr. Wohin ich auch blickte, sah ich ehemals bunte Masken, die die Nacht grau färbten. Schließlich ging ich heim. Mir war nicht mehr nach Feiern zumute.

Als ich Stunden später einschlief, träumte ich einen seltsamen Traum. Ich stand am Strand unter der Promenade und sah das Feuerwerk. Es war unheimlich still. Ich war allein. Zwar war da die Menschenmenge, doch war ich weit abseits von ihr und sah sie nur als Ansammlung gesichtsloser Schatten. Aber da war noch jemand. Eine dunkle Gestalt saß mit dem Rücken gegen einen Holzpfosten gelehnt.

„Kannst du bis dreizehn zählen, William David Walker?“, fragte die Gestalt. Sie hatte eine angenehm rauchige Frauenstimme.

In diesem Moment zischte ein Feuerwerkskörper aus der Menge, die wie ein Hexenkessel zu brodeln begann. Der Lärm drang nur gedämpft zu mir durch, als steckte Watte in meinen Ohren. Das Geschoss stieg hoch hinauf und explodierte in einer grellen Explosion.

Eins.

Für die Dauer eines Augenblicks sah ich das Gesicht der Gestalt. Es war Diane. Sie erhob sich und schlenderte zu mir.

„Kannst du die Zeichen sehen?“

Wieder explodierte ein Feuerwerkskörper.

Zwei.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Dianes rechte Gesichtshälfte von Bewuchs befallen war. Seepocken bedeckten ihre Wange, Algen verklebten ihr Haar, und an ihrem schlanken Hals haftete ein Seestern.

„Die dunklen Stunden kommen, die letzten Wächter gehen.“ Das war nicht ihre Stimme.

Drei. Vier.

Diane streckte eine Hand aus und streichelte meine Wange.

„Die zwölfte Stunde schlägt in diesem Augenblick.“ Ihre Worte waren nur noch ein Flüstern.

Fünf. Sechs.

„Kannst du die dreizehn dunklen Zeichen sehen?“

Sieben. Acht.

„Der Gott der Würmer kommt zurück.“

Dianes Augen blitzten im Licht der Feuerwerkskörper, obwohl ihr Gesicht im Schatten lag.

Neun. Zehn.

„Ich habe dich geliebt, William.“ Bei diesen Worten klang sie wieder wie sie selbst. „Ehrlich.“

Elf.

„Kannst du bis dreizehn zählen?“

Zwölf.

„Kannst du?“

W. D. Walker

1. ÄHRENGOLD 1713, VIERTABEND

Etwas Schreckliches ist geschehen.

Ich erwachte früh. Ich wäre gerne sofort zu Emilys Wohnung gegangen, aber ich sagte mir, dass es das Beste sei, sie ausschlafen zu lassen.

Wäre ich doch bloß gegangen.

Ich öffnete das Fenster und ließ die kühle Morgenluft herein. Die Straßen Treedsgows lagen leer und friedlich da. Ich konnte gebackenes Brot riechen. Ich ließ mich am Schreibtisch nieder und schlug zum ersten Mal seit Langem mein Tagebuch auf. Durch die Wand hörte ich dumpf Eds Schnarchen. Er war erst vor wenigen Stunden heimgekehrt – ich war nicht umhingekommen, es zu bemerken, hatte er sich doch den Zeh gestoßen und laut geflucht – und würde wohl noch bis zum Nachmittag schlafen. Eine Weile blätterte ich durch die Seiten und schnappte Bruchstücke meiner Vergangenheit auf.

Heute lernte ich Emily End kennen … Ist das ein Glücksbringer? … halte es für das Beste, voneinander Abstand zu halten … In meinem Bett lag ein Mädchen … Bleib bei mir … Ich stelle dir frei zu springen, Walker …

Schließlich griff ich zum Füllfederhalter, tunkte ihn ins Tintenfass und schrieb über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Meine Gedanken liefen in einem Trichter zusammen. Zuletzt fühlte sich mein Kopf wunderbar leicht an. Ich legte den Füllfederhalter nieder. Ich wusste genau, was zu tun war. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, Emily gewiss schon wach. Ich zog mich an und verließ das Haus.

Wenig später betätigte ich die Seilzugklingel zu Emilys Wohnung. Niemand öffnete. Da bemerkte ich, dass die Tür zum Treppenhaus nur angelehnt war. Ich dachte mir nichts dabei. Schließlich hatten in der vergangenen Nacht viele Menschen getrunken, gewiss auch der ein oder andere Bewohner dieses Hauses. Da konnte es vorkommen, dass jemand vergaß, die Tür zu schließen.

Ich stieg die Treppen hinauf in den dritten Stock. Emilys Tür war längst wieder glatt. Der Hausbesitzer hatte einen Schreiner herbestellt und Dianes Botschaft entfernen lassen. Ich klopfte.

Ihre Tür schwang auf.

Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Ich legte eine Hand an das Holz und übte leichten Druck aus.

„Emily?“

Stille. Beinahe vollkommen. War da ein schwaches Atmen?

„Emily?“, fragte ich lauter.

„Hilfe.“ Das war ihre Stimme! Leise und kraftlos. Ich stieß die Tür auf, betrat das Esswohnzimmer und rutschte auf einer Blutschliere aus, ein rotglänzendes Lächeln auf den Bodenfliesen. Ich strauchelte und wich zurück. Noch mehr Blut bedeckte den Boden, klebte auch an den Möbeln und der Wand. Ein Stuhl war umgekippt. Was war hier geschehen? Wo war Emily?

Ich durchquerte den Raum, darauf bedacht, nicht in das Blut zu treten. Trotzdem hinterließen meine Schuhsohlen rote Abdrücke.

„William.“ Schwach, zittrig.

Da war sie: Sie lehnte zusammengesunken an der Wand. Rote Handschuhe aus Blut, die ihr bis über die Ellbogen reichten, überzogen ihre Unterarme. Ihr weißes Nachthemd war rotverschmiert. Vor ihr lag ein Messer. Zentimeterlange Schnittwunden klafften in ihren Armen. Wie viel Blut hatte sie verloren? Zwei Liter? Drei? Sie blickte auf. Blanke Angst lag in ihren aufgerissenen Augen. Ich hastete zu ihr und geriet kurz ins Schliddern. Behutsam fasste ich sie an den schmalen Schultern. Ihre Haut war eiskalt.

„Hast du hier irgendwo Verbände?“, fragte ich. Ich war überrascht, wie ruhig meine Stimme klang. Emily öffnete den Mund, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Ich hastete zu ihren Küchenschränken. Ich riss Schubläden und Schränke auf, schaute auch in der Kommode ihres Esswohnzimmers nach. Nichts. Unaufhörlich rann das Leben aus den Schnitten an Emilys Armen.

Kurzentschlossen zog ich mein Hemd aus, nahm das Messer und schnitt den Stoff in Streifen. Ich kniete mich neben sie, bettete einen ihrer Arme auf meine Oberschenkel und wickelte die Stoffstreifen fest darum. Emily reagierte nicht. Entweder war sie ohnmächtig …

… oder tot.

Ich verband ihre Unterarme. Erst dann wagte ich, ihren Puls zu fühlen. Da war er, schwach, aber da. Ich stand auf, rannte aus der Wohnung und hämmerte gegen die Tür gegenüber. „Einen Arzt!“, schrie ich. „Holt einen Arzt. Aufmachen. Macht auf!“

„Was soll dieser Lärm?“ Die Stimme kam aus dem Stockwerk tiefer im Treppenhaus. Ich ließ von der Tür ab und sprang die Stufen hinab. Auf halbem Wege kam mir ein Mann entgegen – derselbe Mann, den ich vor einigen Vierteln um eine gute Stunde Schlaf gebracht hatte, weil ich versucht hatte, in Emilys Wohnung zu gelangen.

„Emily“, keuchte ich. „Sie verblutet. Wir brauchen einen Arzt. Schnell!“ Der Mann sah meine blutverschmierten Arme. Er riss die Augen auf. Ohne ein Wort wandte er sich um und hastete die Treppen hinab. Ich kehrte in Emilys Wohnung zurück an ihre Seite.

„Halte durch“, murmelte ich. „Bitte, halte durch.“ Wer hatte das getan?

Die Minuten verrannen, und drückende Stille umfing mich. Wann kam Hilfe? War der Mann überhaupt los, um welche zu holen? Oder hatte er das Blut gesehen und war einfach davongerannt? Ich betrachtete Emilys Gesicht. Sie war leichenblass, ihre Haut eiskalt. Durfte ich sie allein lassen? Alles in mir sträubte sich dagegen. Als fürchtete ich, der Tod warte nur auf die Gelegenheit, mit ihr allein zu sein. Mir graute vor der Vorstellung, hierher zurückzukehren und sie tot vorzufinden. Doch es gab nichts mehr, das ich für sie tun konnte. Wenn keine Hilfe kam, würde sie sterben.

Da ertönten hastige Schritte im Treppenhaus. Ich rannte zur Tür und riss sie auf.

„Hierher“, rief ich. Zwei Männer mit Koffern erschienen am Treppenabsatz. Einer von ihnen, ein kleiner Mann mit dichtem Bart und Glatze, atmete pfeifend.

„Sie liegt dort. Beeilung.“ Die Ärzte hasteten wortlos an mir vorbei in Emilys Wohnung, legten ihre Koffer auf den Tisch und klappten sie auf. Sie warfen weiße Kittel über und fingen an, Emily zu untersuchen. Minutenlang herrschte Schweigen, während die Ärzte arbeiteten und Atem schöpften. Kritisch musterten sie meine provisorischen Verbände.

Der Kleinere hielt mit fragendem Blick eine Schere hoch.

Der andere schüttelte den Kopf und hob Einhalt gebietend die Hand.

„Puls schwach“, meinte der Kleinere daraufhin. „Wir müssen sie ins Hospital bringen.“ Sie erhoben sich, traten vor ihre Koffer und fingen an, eine Trage aufzubauen.

Erneut ertönten Schritte im Treppenhaus. Die Tür schwang auf, und zwei Männer betraten die Wohnung: Konstabler Lovelace und der Detektiv, den man auf Dianes Fall angesetzt hatte. Lovelace Augen fixierten kurz mich, sprangen zu Emily, dann wieder zu mir.

„Habe ich Ihnen zu viel versprochen, Harper?“, fragte er, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Ich sagte doch, das dürfte interessant werden.“ Harper antwortete nicht, sondern musterte die Wohnung mit professioneller Miene.

„Was wollen Sie hier?“, fragte ich.

„Wir wurden informiert, dass hier ein Mord geschehen sei“, sagte Lovelace. „Es überrascht mich nicht, Sie hier zu treffen, Mr. Walker.“

Ich sah abwechselnd von Lovelace zu Harper. „Was meinen Sie?“

„Sie sind jetzt zum zweiten Mal in einen Mord verwickelt“, sagte Lovelace mit gefühlskalter Miene. „Das macht Sie zum Hauptverdächtigen in beiden Fällen. Harper, legen Sie ihm Handschellen an.“

„Verzeihen Sie“, mischte sich einer der Ärzte ein. Sie hatten die Trage aufgebaut und Emily darauf verlagert. „Aber hätte dieser junge Mann nicht eingegriffen, wäre sie jetzt tot.“

„Das mildert nicht die Tat.“

„Wie dem auch sei“, sagte der Arzt. „Wir müssen sie ins Hospital bringen. Sie braucht eine Bluttransfusion oder sie stirbt.“

„Eine Transfusion?“, wiederholte ich. Nur jeder zweite überlebt das.

„Wir haben keine Wahl. Bedauerlich, aber so ist es nun mal.“ Die Ärzte gingen in die Hocke und hoben die Trage hoch.

„Ich bin zu alt für sowas“, hörte ich den kleinen Mann keuchen, als er und sein Kollege Emily hinaus trugen. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

„Worauf warten Sie, Harper?“, sagte Lovelace schneidend. „Legen Sie ihm Handschellen an.“

„Mr. Lovelace …“

„Ich habe nichts getan“, rief ich. „Ich habe sie hier so vorgefunden.“

„Du musst zum Zeitpunkt der Tat hier gewesen sein“, sagte Lovelace. „Sie wäre verblutet, wenn du später gekommen wärst.“

„Ich …“ Ich stockte. Er hatte Recht. Der Täter musste ganz in der Nähe gewesen sein, als ich Emily gefunden hatte. Womöglich war er hinter meinem Rücken zur Tür hinausgeschlichen, während ich Emily versorgt hatte. Oder …

„Sie hat es sich selbst angetan“, murmelte ich.

„Mr. Lovelace …“

Der Konstabler hob Schweigen gebietend die Hand. „Was sagst du da? Sie soll es sich selbst angetan haben?“ Ich erwiderte seinen Blick. Seine Miene war glatt wie ein Spiegel – eine Augenbraue ausgenommen, eine gehisste Flagge des Spotts, die unter der Krempe seiner Melone zu verschwinden drohte. Sollte ich ihm erzählen, was ich gesehen hatte, als ich Emily zum Friedhof gefolgt war? Lovelace war drauf und dran, mich in Haft zu nehmen.

„Ich habe sie bei etwas beobachtet“, sagte ich leise und begann zu erzählen. Als ich endete, hatte sich Lovelaces zweite Augenbraue zu der ersten gesellt.

„Wollen Sie mir weismachen, dieses Mädchen habe den Verstand verloren, Mr. Walker?“

„Mr. Lovelace“, sagte Harper, dieses Mal mit unterschwelliger Schärfe in der Stimme.

„Bei Gott, was wollen Sie, Harper?“

„Das sollten Sie sich ansehen.“

Lovelace folgte dem Fingerzeig des Detektivs und stutzte. Erst jetzt bemerkte er den Kreis aus Runen auf Emilys Tür. Seine sonst beherrschte Miene verrutschte. „Was zum …“

„Die Schriftzeichen befinden sich auch auf der Fensterbank“, sagte Harper. „Und sehen Sie dort.“ Er deutete auf die Knoblauchzöpfe, die von der Decke hingen. „Wozu braucht eine einzelne Person so viel Knoblauch? Noch dazu hier, in einem Wohnzimmer. Wieso verwahrt sie es nicht in der Küche? Mr. Walkers Geschichte klingt in der Tat unglaubwürdig, aber mir scheint, dass Miss End irgendeine heidnische Religion mit an Wahnsinn grenzendem Fanatismus praktiziert.“

Lovelace knirschte mit den Zähnen. „Also dann“, sagte er mühsam beherrscht, „wissen Sie ja, was zu tun ist.“

Harper nickte knapp.

„Was soll das heißen?“, fragte ich. Lovelace sah mich an, seine Miene nun so beherrscht wie eh und je.

„Was denken Sie, Mr. Walker? Wir lassen überprüfen, ob sie tatsächlich verrückt ist. Wir bringen sie nach Sankt Laplace.“

W. D. Walker

18. ÄHRENGOLD 1713, LOHNTAG

Erst heute erlaubte man mir, Emily in Sankt Laplace zu besuchen. Sie hat die Bluttransfusion überstanden. Ihre Schnittwunden verheilen gut, doch es geht ihr sichtlich schlecht in der Nervenheilanstalt. Es ist ein schrecklicher Ort. Ein Schrotthaufen für verlorene Seelen. Die Menschen dort existieren, aber sie funktionieren nicht mehr. Sie tragen weiße Hemden, weiße Hosen, weiße Schuhe. Nur wenige wirken normal. Viele sind kahl rasiert, damit sie sich nicht die Haare ausreißen. Manche blicken stumpf, manche brabbeln wild. Andere wiederum tragen eine Jacke, die sie mit ihren eigenen Armen fesselt.

Ich sah Emily mitten unter ihnen in der Kantine der Nervenheilanstalt. Sie trug dieselbe weiße Kleidung, zudem Verbandsstulpen an den Unterarmen. Sie saß an einem Tisch zwischen einer schielenden Frau mit schwarzem, zerzaustem Haar und einem kahlköpfigen Riesen. Auf einem Tablett vor ihr stand eine kaum angerührte Mahlzeit. Erbsen und Brei. Das Sicherheitspersonal wies mich an, zu warten. Die beiden Männer gingen zu ihr. Einer berührte sie sanft am Oberarm, während der andere sich zu ihr herabbeugte und etwas murmelte.

Emily hob den Kopf.

Sie sah mich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie erhob sich und bewegte sich mit steifen Schritten durch den Saal, das Sicherheitspersonal zu ihrer beider Seiten. Würden sie es zulassen, dass ich sie umarmte? Im nächsten Moment war sie vor mir, und ich tat es einfach. Drückte sie fest an meine Brust. Gott, wie dünn sie geworden war; wie zerbrechlich sie sich anfühlte.

„Ihr habt zehn Minuten“, sagte einer der Männer.

„Warum bin ich hier, William?“, fragte Emily mit tränenerstickter Stimme, sobald man uns allein gelassen hatte. „Man sagte mir, man würde mich in eine Zwangsjacke stecken, wenn ich versuche, mich zu verletzen. Wie kommen sie darauf, dass ich so etwas tun könnte, William? Keiner sagt mir, was los ist.“

„Beruhige dich, Emily. Du kommst hier schon noch raus. Setzen wir uns erst mal.“ Ich führte sie zu einem freien Tisch im hinteren Bereich des Saals. Dabei begegnete ich dem Blick eines Mannes, der mich anstierte, und sah schnell in eine andere Richtung. Ich dachte an die Worte, die das Sicherheitspersonal mir zu Beginn eingeschärft hatte.

Vermeiden Sie direkten Augenkontakt.

Vermeiden Sie ruckartige Bewegungen und laute Geräusche.

Sprechen Sie mit niemandem außer der Person, die Sie besuchen wollen.

Insassen, von denen Gefahr ausgeht, werden in aller Regel isoliert, aber es geschieht immer mal wieder, dass ein bislang harmloser Irrer durchdreht.

Emily und ich ließen uns einander gegenüber am Tisch nieder. Ich musterte sie voller Mitgefühl. Tränen hatten glitzernde Spuren um ihre spitze Nase hinterlassen.

„Sie denken, du hättest dir die Verletzungen selbst zugefügt.“

„Wieso?“, flüsterte sie.

„Weil … weil ich ihnen etwas über dich erzählt habe.“

Emily sah mich aus geröteten Augen heraus an. „Was hast du ihnen erzählt?“

Ich blickte sie traurig an. „Ich habe dich vor einigen Vierteln beobachtet.“ Ich berichtete ihr, was ich gesehen hatte. Wie sie zum Friedhof gegangen war, sich den Arm aufgeschnitten und mit sich selbst geredet hatte.

Emilys Augen weiteten sich. „Warum hast du ihnen das erzählt?“, fragte sie immer noch flüsternd.

Ich rang die Hände. „Weil ich glaube, dass du dich wahrhaftig selbst verletzt hast. Emily, merkst du nicht, dass etwas Merkwürdiges mit dir vorgeht?“

„Ich bin nicht verrückt.“ Wieder traten ihr Tränen in die Augen. „Ich gehöre nicht hierher, William. Ich habe mir nicht die Arme aufgeschnitten. Nicht dieses Mal“, fügte sie leise hinzu.

Ich erinnerte mich, dass ihre Türen offen gewesen waren. „Wer war es dann?“

Sie schwieg.

„Warum zögerst du?“

„Weil du mir niemals glauben würdest. Du musst es mit eigenen Augen sehen. Hör mir jetzt genau zu.“ Ich starrte sie an. „Besorge Schutzhandschuhe, eine Maske, wie man sie beim Schweißen trägt, und Gehörschutz.“

„Was redest du …?“

„Unter dem Fensterbrett meines Schlafzimmers findest du eine Schatulle. Öffne sie und sieh, was dort drin ist. Aber trag auf alle Fälle die Schutzkleidung!“

Ich schüttelte den Kopf. „Emily …“

In diesem Moment erschien das Sicherheitspersonal zu meiner beider Seiten.

„Die Zeit ist um.“

„Du findest den Schlüssel zu meiner Wohnung in einer Mauerfuge auf Kniehöhe links von der Tür“, flüsterte Emily. Ich erhob mich. Vergeblich suchte ich in ihrer Miene nach einem Hinweis. Emily erwiderte meinen Blick ernst.

„William, wenn ich wahrhaft verrückt wäre, würde ich diese Tatsache mit offenen Armen begrüßen“, sagte sie und scherte sich dieses Mal einen Dreck darum, dass das Sicherheitspersonal sie hören konnte. „Denn die Realität ist schlimmer.“

W. D. Walker

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild

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