Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 26

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End

Hier endete das Tagebuch. Es war bis auf die letzte Seite beschrieben. Vielleicht gab es einen zweiten Teil? Aber nein: Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass einige Seiten fehlten. Man hatte sie herausgerissen. Ich fuhr mit dem Finger über die Seitenstümpfe und zählte. Es waren dreizehn. Dreizehn Seiten fehlten.

Ich las die letzten Zeilen erneut. Von welcher Realität sprach Emily? War sie immer noch in der Nervenheilanstalt? Wie lange mochte das Ganze zurückliegen?

In diesem Moment ging die Tür auf, und Teena betrat den Raum. Ich stand auf.

„Teena! Wo ist Sam?“

„Chemo hat sie.“ Es dauerte einen Moment, ehe ich mich daran erinnerte, wer Chemo war. Es war so lange her, dass ich ihn im Entzugswahn in den Neulingsschacht geworfen hatte. „Es tut mir leid, Godric. Ich bin ihm im Unterrumpf begegnet und er nahm mich gefangen. Er ist unglaublich stark. Das Perl … hat ihn verändert.“

„Was ist mit Sam?“

„Chemo hat mich im Austausch für sie freigelassen, damit ich dir davon berichten kann. Ich sagte ihr, sie solle sich nicht darauf einlassen, aber sie hörte nicht. Er will dich töten.“

Ich knurrte. „Ich hätte ihm damals den Hals umdrehen sollen. Wo ist er?“

„Er erwartet dich an Deck. Aber Godric … sei auf alles gefasst.“

Ich wandte mich ab und erklomm die Leiter, die zu dem verborgenen Eingang führte. Auf dem Gang davor erwartete mich niemand. Ich trat ins Freie und hastete über das Deck. Es war ein strahlend schöner Wintertag. Ich sah nur wenige Piraten. Sie alle gingen in die gleiche Richtung – zum Ort des Geschehens. Manch einer rief mir nach, aber ich rannte einfach weiter. Nur einmal wurde ich langsamer: als ich den Schiffsaufbau passierte, der zur Dealertür führte. Ich hörte den Lärm dutzender Süchtiger, die schrien und kreischten und gegen die Eisentür hämmerten. Der Grund dafür konnte nur schwarzes Perl sein.

Ich fand Chemo im Zentrum einer Menschenmenge. Er war nicht wiederzuerkennen. Bis auf eine zerschlissene Hose war er nackt. Von Kopf bis Fuß verunzierten Narben seinen Körper. Die Muskeln waren auf unnatürliche Weise angeschwollen. Die weiße Haut derart gespannt, dass sie zu reißen drohte. Seine massigen Schultern hoben und senkten sich bei jedem Atemzug. Die Adern traten schwarz hervor. Das lange Haar war weiß wie Schnee, seine unversehrte Iris ebenfalls und nur die Pupille, ein schwarzer Punkt in seinem gesunden Augapfel, zeigte die Richtung, in die er blickte. Hatte auch ich wie ein mutiertes Ungeheuer ausgesehen, als ich den Unterrumpf verlassen hatte?

Chemo drückte ein Messer an Sams Kehle. Sie blutete an der Schläfe und wirkte benommen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge.

Chemos Augen weiteten sich. „Eeend!“ Er stieß Sam von sich, die in die Menge taumelte und beinahe gestürzt wäre. Jemand von Marios Bande fing sie auf, und man schloss sie in einen schützenden Kreis.

„Endlich hab ich dich.“ Seine Worte waren dunkel, als läge Teer auf seinen Stimmbändern. Er neigte den Kopf nach links und rechts und ließ den Nacken knacken. „Du hast mir die Sonne genommen.“

„Wie du mir.“

„Ich werde dich zerreißen.“ Das Blut in seinen Adern pulsierte. Die Muskeln zuckten. „Ich werde dich in Fetzen reißen.“

Er stürzte sich auf mich. Ich wich aus. Aber Chemo war schnell. Übernatürlich schnell. Er verschwamm vor meinen Augen und stand jäh hinter mir. Ich hatte kaum Zeit, mich umzudrehen, als mich ein heftiger Schlag in die Seite traf. Ich stolperte und stürzte, rollte über die Schulter und kam wieder auf die Beine. Schmerz strahlte über meine Rippen. Chemo lachte. Wie schnell er war. Wie stark. Da bemerkte ich das schwarze Pulsieren hinter dem schmutziggrauen Stoff seiner Hose. Selbst nachdem Limbania mich von Hungers Präsenz und der Sucht nach Perl befreit hatte, sah ich es. Das schwarze Perl. Chemo hatte es mit Sicherheit zu sich genommen und trug mindestens eine weitere Perle in der Hosentasche. Unter dem Einfluss von schwarzem Perl war es mir gelungen, den Pelz zu töten. Chemo war vermutlich jetzt im Stande, Eisenwände mit bloßer Faust zu durchschlagen. Ich musste damit rechnen, dass ihm ein Dämon wie Hunger zur Seite stand. Vielleicht sogar mehrere.

Wieder stürmte er vor. Ich zog die Machete. Chemo lachte wie jemand, der den Tod nicht fürchtet. Wieder bewegte er sich schneller, als ich fassen konnte. Ich biss die Zähne zusammen. Es gelang mir, seinem Streich auszuweichen. Ich wirbelte herum und hieb mit der Machete hinter mich. Tatsächlich war Chemo schon dort, wie ich es erwartet hatte. Wieso ich ihn nicht traf, war mir ein Rätsel. Ich steckte einen heftigen Schlag vor die Brust ein und stürzte erneut. Unsanft schlug ich mit dem Rücken aufs Deck. Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Die Machete glitt mir aus den Fingern und fiel klirrend zu Boden. Wie ich so dalag und benommen in den Himmel blickte, bemerkte ich zwei strahlend weiße Augen in einem Gesicht so schwarz wie Tinte. Teena. Sie hockte auf dem Dach eines Schiffsaufbaus und winkte mir zu. In der Hand hielt sie ein Fläschchen mit leuchtend grüner Flüssigkeit. Sie ließ es los, und ich fing es auf.

„Steh auf, End.“

Chemo hatte nichts bemerkt. Ich sprang auf die Beine, obwohl mein Brustkorb rundherum schmerzte. Hinter vorgehaltener Hand musterte ich erst das Fläschchen, dann Chemos geschmolzene Gesichtshaut. Und ich verstand. Chemos entstelltes Gesicht rührte nicht von einem Feuer her, wie ich immer geglaubt hatte, sondern von einer chemischen Substanz. Vermutlich von genau der, die ich in Händen hielt. Hatte Teena ihm das angetan? Rührte daher sein Name?

Chemo stürmte ein drittes Mal vor. Ich warf ihm das Fläschchen entgegen. Es platzte auf seiner nackten Brust und übergoss ihn mit ätzender Flüssigkeit. Chemos Schrei war nur entfernt menschlich. Er fasste sich an die Brust, als wolle er sich die Haut vom Leib ziehen. Dabei benetzte er auch seine Finger mit Säure. Seine Haut dampfte.

„Nicht wieder“, schrie er.

Ich bückte mich nach der Machete und hackte auf Chemo ein. Die Klinge schnitt durch seine Haut, doch sie glitt an seinen Muskeln ab wie an einem blanken Stahlkörper. Wo sie aber die pulsierenden Adern traf, spritzte dunkles Blut hervor. Ich hackte so lange auf ihn ein, bis er in einem See seines eigenen Blutes zusammenbrach. Schwer atmend richtete ich mich auf und sah in die Gesichter der Umstehenden. Ihre Blicke zollten mir Furcht und Ehrfurcht. Viele wichen dem meinen aus. Franco nicht.

„Ich werde deinen Auftrag nicht ausführen“, rief ich. „Und ich werde jeden töten, der es stattdessen versucht.“

Franco lächelte schief. „Dafür ist es leider zu spät.“

Ich begriff nur eine Sekunde zu langsam.

Ich wandte mich um und rannte dorthin, wo Marios Männer Sam eingekreist hatten. Mario hatte seine Pistole gezückt und richtete sie auf ihre Stirn. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich tu es zum Wohl meiner Männer.“

Im Lauf packte ich einen Pistolengriff, der aus dem Gürtel eines Piraten ragte, hob die Waffe und schoss.

Die Schüsse ertönten gleichzeitig. Ich traf Marios Pistole und sie wurde ihm aus der Hand gerissen im selben Moment, da seine Kugel ein Loch in Sams Stirn schlug.

„Nein!“ Die Reihen Marios Männer schlossen sich vor mir. Ich blieb stehen. Hass umschloss mich wie ein Netz aus glühendem Draht, zog sich zusammen und brannte tiefe Narben in meine Haut. Ich wollte Vergeltung! Dieses ganze Schiff versenken und seine Mannschaft in die schwarze Tiefe des Meeres schicken. Aber vor allen Dingen wollte ich Marios Kehle zerquetschen und sie nicht mehr loslassen, bis sein Gesicht blau war und ihm die Zunge heraushing.

Ich wandte mich um und rannte zur Leiche Chemos zurück. Ich durchwühlte seine Hosentasche. Das schwarze Perl konnte mir wohl nicht die Kraft geben, es mit der gesamten Mannschaft aufzunehmen. Doch zumindest Mario würde dran glauben müssen …

Als ich die Perle in den Händen hielt, kam mir eine bessere Idee. Ich rannte über das Deck. Die Piraten, die mir im Weg standen, sprangen zur Seite. Einem Mann spaltete ich den Schädel, weil er nicht schnell genug auswich. Einige Piraten zogen ihre Pistolen. Nur wenige wagten, auf mich zu schießen. Keiner traf.

Zuerst rannte ich dorthin, wo ich vor langer Zeit den Flammenwerfer versteckt hatte. Das mörderische Werkzeug war noch da. Ich gurtete es mir um und rannte zu meinem nächsten Ziel: Meiner Kajüte, wo sich mein Pelzmantel befand. Ich warf ihn mir über, sodass der Flammenwerfer davon verborgen wurde. Zuletzt hastete ich zum Deckaufbau, der zur Dealertür führte. Ich tötete die Wache und nahm ihren Schlüssel. Die Süchtigen auf der anderen Seite der Tür tobten. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Ich hatte kaum drei Schritte getan, als die Tür aufflog und die Süchtigen aus ihr hervorquollen wie Wesen aus der Unterwelt. Ich rannte ins Freie und kletterte auf das Dach eines Schiffsaufbaus. Von dort sprang ich weiter von Dach zu Dach zurück zu den Piraten. Hinter mir her stolperten und stürzten die Süchtigen. Sie fielen von den Dächern und brachen sich die Knochen, aber sie rannten weiter, solange ihr Genick heil war.

Dann war ich da. Ich sprang vom letzten Dach mitten in die Menge, die sich bereits auflöste. Ehe die Piraten reagieren konnten, folgten die Süchtigen. Sie stürzten von dem Dach des Schiffsaufbaus und kamen von dessen beiden Seiten angerannt. Ihre Haut war weiß, ihr Haar war weiß, ihre irislosen Augen weit aufgerissen. Sie schrien, sie spuckten und sie spien.

Ich zielte mit dem Flammenwerfer blind in die Menge und betätigte den Abzug. Die Feuerzunge leckte über die Gesichter der Piraten, steckte Kleidung und Haar in Brand und ließ die Männer schreien. Säbel, Macheten und Pistolen blitzten auf. Chaos brach aus. Ich rannte weiter. Dabei brannte ich dutzende Piraten nieder, bis die Gaskartuschen des Flammenwerfers den Geist aufgaben. Hinter mir tobte die Schlacht. Ich war es, hinter dem die Süchtigen her waren. Sie wollten nur das schwarze Perl. Doch die Piraten, die glaubten, angegriffen zu werden, stellten sich ihnen entgegen.

Ich gelangte ans Heck des Schiffs und entledigte mich des Flammenwerfers. Ich stieg die Treppe hinauf und betrachtete mein Werk von oben. Überall lagen Tote. Brennende und verkohlte Gestalten. Piraten kämpften gegen Süchtige. Schüsse und Schreie jagten über das Deck.

Wo war Mario?

„End.“ Ich wandte mich um und sah mich mit einem Mal Black Raven gegenüber. Ich erstarrte.

„Du dreistes kleines Stück Scheiße.“ Ravens Stimme war ruhig. Er wirkte eher ungläubig denn wütend. „Dich umzubringen ist nicht genug.“ Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, das schwarze Perl zu nehmen. Raven kam näher und zog einen Säbel. „Ich werde dir Arme und Beine abschneiden.“ Wie schaffte er es, mich derart einzuschüchtern? War es der Irrglaube, Raven sei unbesiegbar, der ihn unbesiegbar machte? „Ich werde dich in einen Käfig stecken und dort ganz langsam verrecken lassen.“ Ich wich zurück und zog die Machete. Was hatte ich zu verlieren? Sam war tot.

„Ich werde dich an die Möwen verfüttern.“ Als wollte er mich bloß informieren. Noch während er sprach, begann er, mit dem Säbel auf mich einzuschlagen. Seine Attacken kamen schnell und mühelos. „Ich habe schon viele grausame Strafen verhängt …“, fuhr er fort, indes ich zurückwich und seine Angriffe mit großer Mühe abwehrte. „… aber für dich muss ich mir was Neues einfallen lassen.“ Es war kein Irrglaube, der Raven unbesiegbar machte, keine Illusion. Er war gut. „Etwas Angemesseneres.“ Er war schnell. Er war furchtlos. Er kannte jede Finte. Er ließ mich glauben, einen Gegenangriff wagen zu können. Dann schlug er mir die Machete aus der Hand. Er trat mir gegen das Bein und ich knickte ein. Ein zweiter Tritt traf mich vor die Brust und warf mich zurück. Noch immer schmerzten meine Rippen vom Kampf gegen Chemo. Mir blieb keine Wahl. Ich holte das schwarze Perl hervor, doch ehe ich die Hand zum Mund führen konnte, stellte Raven einen Fuß auf meinen Arm. Ein Schlag traf mich an die Schläfe und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Ich wartete auf den nächsten Schlag, der mir das Bewusstsein rauben würde. Wartete darauf, ohne Arme und Beine in einem Käfig zu erwachen, der von einem der Bootskräne baumelte.

Da ertönte ein Donnern. Ein Laut, der das ganze Schiff erschütterte, gefolgt von den panischen Rufen der Piraten und Süchtigen.

Raven hob den Blick. „Was bei Lotin …“ Er verstand nicht. Ich hingegen schon. Teena hatte die Bombe gezündet. Sie hatte der Swimming Island Sams Tod auf ihre Weise vergolten.

Ich fuhr auf und zog mein rostiges Messer. Ich selbst hatte nicht für möglich gehalten, dass ich noch solche Kraft besaß. Als Raven überrascht zu mir sah, war es bereits zu spät. Ich stieß ihm die Klinge in den Bauch. Er stöhnte erstickt auf. Blut lief ihm aus dem Mund in den Bart. Die Kälte wich aus seinen Augen.

„Du …“ Er lächelte im Sterben. „Du bist es …“ Und er stürzte.

Ich hatte keine Zeit, mich zu fragen, was Raven damit gemeint hatte. Ich sammelte meine Machete auf und verließ das Heck. Das Schiff befand sich bereits in bedrohlicher Schieflage. Ich musste so schnell wie möglich von Bord. Allerdings war da noch was …

Noch immer kämpften Piraten und Süchtige. Ich rannte über das Deck und tötete jeden, der mir in die Quere kam. Ich betrat das Schiffsinnere und gelangte zu der Geheimtür, die der Eingang zu Sams Versteck war. Ich kletterte durch den Schacht, der längst nicht mehr senkrecht stand. Unten angelangt stellte ich fest, dass der Raum sich mit Wasser füllte. Es spritzte durch das Schlüsselloch der Tür, die zum Unterrumpf führte, und reichte mir bis zu den Knöcheln. Das Bullauge lag gänzlich unter Wasser. Vor mir gähnte der Abgrund des Meeres.

Tief im Innern des Schiffes tönte ein stählernes Stöhnen.

Ich hastete in die Ecke des Raumes, in die die Schieflage des Schiffes sämtliche Gegenstände befördert hatte. Da war es. Das Tagebuch. Wie durch ein Wunder lag es noch auf der Kiste, auf der ich es abgelegt hatte. Ich nahm es und wollte gehen, da fiel mein Blick auf das Bett. Sein Anblick raubte mir alle Kraft. Als ich es das letzte Mal gesehen hatte, war Sam noch am Leben gewesen. Wir hatten dort gelegen, auf dieser schmutzigen Matratze, hatten einander gehalten und geliebt. Ich vergaß, dass ich mich in einem sinkenden Schiff befand. Ich ging hinüber und nahm das Kissen. Es hatte sich zur Hälfte mit Seewasser vollgesogen. Ich hob es ans Gesicht und sog den Geruch ein. Es roch nach ihr. Nach ihrem Haar, nach ihrem Schweiß, nach unserer Liebe …

Das Schiff stöhnte auf. Eine Niete sprang aus der Wand, und ein dünner Wasserstrahl schoss in den Raum. Weitere Nieten folgten. Ein helles Knistern verriet mir, dass das Glas des Bullauges nicht mehr lange halten würde.

Ich hätte dortbleiben können. Darauf warten können, dass das Glas brach und die hereinströmenden Wassermassen mich zerschmetterten. Dann wäre ich mit Sam wieder vereint gewesen. Aber nicht mit Emily. Ich blickte auf das Tagebuch in meiner Hand. Meine Schwester lebte und wurde womöglich immer noch in diesem Irrenhaus festgehalten.

Ich warf das Kissen fort, stopfte das Buch in meinen Hosenbund und rannte zur Leiter. Ich musste gegen einen Wasserfall anklettern. Auf halber Höhe ertönte über mir irres Geschrei. Ein Süchtiger erschien an der Schachtmündung und sprang. Ich presste mich an die Wand, er fiel an mir vorbei und schlug klatschend auf dem knietiefen Wasser auf. In diesem Moment brach das Glas des Bullauges. Brüllend brach das Wasser herein, erfasste die Kisten, das Bett und den Süchtigen, schmetterte allesamt an die Wand und spritzte soweit den Schacht hinauf, dass ich mich daran verschluckte. Ich würgte und kletterte weiter.

Wieder draußen rannte ich zur Reling, wobei ich den Gegenständen auswich, die über das schiefe Deck rutschten. Viele Rettungsboote waren schon ins Wasser gelassen worden und auf dem Weg zur Küste. Ob Mario in einem davon saß? Und Franco? Hatten sie den Kampf überlebt? Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sie zu würgen, bis ihnen die Augäpfel herausquollen.

Ich kletterte in eines der verbliebenen Rettungsboote und kurbelte an der Seilwinde, bis das Boot auf dem Wasser aufsetzte. Ich durchtrennte die Seile und fing an zu paddeln. Es dauerte Stunden, ehe ich die Küste erreichte. Schließlich kletterte ich aus dem Boot und watete an Land. Ich spähte in alle Richtungen und sah entlang der steinigen Küste zahlreiche Schiffsbrüchige. Vielleicht waren Mario und Franco unter ihnen. Die Suche wäre müßig gewesen. All das Töten in den letzten Stunden – mein Zorn war verloschen und einer dunklen Leere gewichen. Nur der Gedanke an Emily trieb mich vorwärts.

Ich folgte dem Verlauf der Steilklippen. Nichts bis auf das Kreischen der Möwen und das Rauschen der Wellen füllte meinen Kopf. Die Sonne verbrannte meine ungeschützte Kopfhaut, von dem Streifen in der Mitte mal abgesehen. Die winterliche Kälte betäubte meinen Schmerz. Meine nassen Hosenbeine gefroren. Ich fand einen Weg, die Küste zu verlassen, und ging weiter über grüne Hügel. Ich traf auf Bäume, Kiefern und Eiben, und der eisige Wind in ihren Nadelkronen wies mir heiser flüsternd den Weg. Die Hügel schwanden, und ich trat auf eine weite, grasbewachsene Ebene hinaus. Am Horizont, hinter weißen Nebelschleiern kaum zu sehen, erstreckte sich eine Bergkette. Wenige Bäume wuchsen hier. Inmitten der Landschaft lag ein Felsen, kugelrund und halb im Boden versunken, als wäre er geradewegs aus dem Himmel gestürzt. Eine Linie führte darauf zu, beschrieb einen Halbkreis darum herum und verschwand am Horizont in den Bergen. Ich ging weiter, den Worten der Bäume folgend, und die Linie entpuppte sich als Eisenbahnschienen.

Als ich an dem Felsen angelangte, war die Nacht hereingebrochen. Meine Füße waren taub vor Kälte, das Wasser lief mir aus der Nase, und der Schweiß stand mir auf der Stirn.

Der Felsen war größer als ein Haus. Es schien, als sei er beim Bau der Eisenbahnschiene aus dem Nichts aufgetaucht.

Ein eisiger Wind kam auf und ließ den Schweiß auf meiner Stirn gefrieren.

Warte, flüsterte eine Tanne.

Ich hockte mich in den Windschatten des Felsens und wartete. Worauf wusste ich nicht. Ich döste ein und wurde von Fieberträumen heimgesucht. Ich träumte von Mario, den ich würgte, der aber nicht starb. Ich träumte von Sam, die unverletzt war, aber nicht lebte.

Jäh wurde ich vom Geräusch eines heranrollenden Zuges geweckt. Die Lokomotive – ein schweres Gestell mit gepanzertem Kessel, Schornstein und Schienenräumer – bewegte sich langsam vorwärts, während sie den Felsen umfuhr.

Jetzt.

Ich erhob mich und taumelte zum Zug. Obwohl er langsam fuhr, kostete es mich die letzten Kräfte, Schritt zu halten. Ich packte den Griff der Schiebetür eines Wagons, zog sie auf und kletterte ins dunkle Innere. Ich zog die Tür zu und kauerte mich zusammen. Der Zug nahm wieder an Fahrt auf; raste dahin über die weite Graslandschaft auf einen Pass in den Bergen zu, auf direktem Wege nach Treedsgow.

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild

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