Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 17
ОглавлениеIm Verwunschenen Tal
Der Mond schien im verwunschenen Tal. Grillen zirpten, und der Wind trug den Duft des ewigen Frühlings heran. Ein Duft wie nasses Laub, wie feuchte Erde und Vogelnester. Dichte Waldstücke, Weiden und Blumenwiesen beherrschten die hügelige Landschaft, durchzogen von glitzernden Bachläufen.
Dies warein verborgener Ort. Ein Ort bar jeder Menschenseele.
Nun, nicht ganz.
Über eine Blumenwiese stakste eine hochgewachsene Gestalt. Obwohl der Marionettenmann gebeugt ging, war er immer noch ein Riese. Die Kleidung stand im Kontrast zu der bleichen Haut. Die Beine waren lang und spindeldürr. Seine Schritte wirbelten Wolken von Löwenzahnsamen auf. Die Samen umspülten ihn, formten Wirbel und Strömungen aus Mondlicht und legten sich um seine Schultern wie ein Mantel aus fließender Seide.
Die dürre Gestalt erreichte einen Waldrand, und die nächtlichen Waldbewohner verstummten. Das Flüstern der Bäume erstarb. Der Marionettenmann richtete sich zu voller Größe auf und wandte den Kopf. Seine Glupschaugen verengten sich. Er blähte die Flügel der Hakennase und sog die Luft ein. Sie roch nach feuchtem Moos, Baumharz und – wie immer – nach Angst. Er ging weiter. Das Zirpen der Grillen blieb aus. Die Vögel warteten stumm, bis er vorüber war.
Der Blick des Marionettenmannes war unstet. Mal in die Ferne gerichtet auf die weiß gepuderten Berge, die das Tal umringten, mal auf die Bäume, die ihre Augen auf ihn richteten, wenn er nicht hinsah.
Helles Plätschern mischte sich in die Luft. Der Marionettenmann gelangte an eine Quelle. Wasser sprudelte aus dem Spalt einer moosbewachsenen Felswand. Farn wuchs zu beiden Seiten des Bachbetts und blinkende Feenwürmchen – sie verloschen allesamt, als der Marionettenmann sich näherte – machten ihre Aufwartung.
Der Marionettenmann legte einen Beutel auf den Boden. Mit Armen, die an die Fühler eines riesigen Insekts erinnerten, brachte er ein bauchiges Glas mit Bügelverschluss zum Vorschein. Er öffnete es, füllte es mit dem Wasser der Quelle und hob es ins Mondlicht. Zwischen silbernen Lichtspeeren schwamm ein menschenähnliches Wesen. Libellenflügel ragten aus seinem Rücken. Eine Quellenfee.
Der Marionettenmann nickte zufrieden und trat mit unter der Last zitternden Ärmchen den Heimweg an.
Fadenarm war er als Kind genannt worden – und Schlimmeres. Oft hatte er sich in den Schlaf geweint und sich an manchen Tagen nicht vor die Tür getraut. Jetzt lächelte der Marionettenmann, als er an den alten Spottnamen dachte.
Fadenarm.
Seine Peiniger waren dafür allesamt Schrumpfköpfe. Verdammt zu einem Leben in Demut. Er hatte sie vergiftet, verhext, in den Selbstmord getrieben. Sie denunziert, im Dunkeln überrascht, dem Wahnsinn geopfert. Er hatte ihnen die Häupter abgeschlagen und sie ins Regal gestellt. Dort trockneten sie vor sich hin. Viele waren schon im Topf gelandet.
Recht so.
Der Marionettenmann folgte dem Verlauf des Waldrandes über die Blumenwiese bis hin zu einem Fichtenwäldchen. Darin verborgen lag eine kreisrunde Hütte. Vor der Hüttentür schloss er die Augen und sog ein weiteres Mal die Luft ein. Er konnte Tannennadeln, Baumrinde und Morgentau riechen. Er roch die Dunkelheit, das Mondlicht und die Angst der Waldbewohner. Er konzentrierte sich auf die Geräusche und nun registrierte er die Stille. Er hörte das Schweigen, den angehaltenen Atem, die weit geöffneten Augen. Eine seltene Regung zeigte sich auf dem Gesicht des Marionettenmannes. Die schmalen Lippen wölbten sich, die Mundwinkel wanderten qualvoll aufwärts und warfen Falten auf die Wangen. Das Kinn zitterte, als könne es der Anstrengung kaum standhalten.
Ein Lächeln.
Der Marionettenmann öffnete die Augen, anschließend die Tür und trat ein. Drinnen war es finster. Leise Gespräche hafteten an den Wänden wie Anwuchs an einem Schiffsrumpf. Der Marionettenmann stellte das Glas neben den Eingang, hängte den Beutel an einen Haken und schloss die Tür. Sicheren Schrittes bewegte er sich durch die Finsternis. Eine Schublade schnarrte, ein Zündholz flammte auf, Kerzen erwachten zum Leben.
Bald schwamm die spärliche Einrichtung der Hütte im Dämmerlicht vieler Flammen. Der Marionettenmann ließ den Blick über die Regalbretter schweifen, die wie Baumpilze aus der Wand ragten. Darauf lagen die Schrumpfköpfe. Zu dutzenden. Sie hingen auch an den Haaren von der Decke, häuften sich in einem großen Korb neben der Feuerstelle und füllten die Schubläden eines Schranks.
Ja – viele hatten ihn gehänselt, hatten hinter vorgehaltener Hand geflüstert, als er vorbeigegangen war, oder auch nur einen zu langen Blick riskiert. Aber jeder hatte den gleichen Preis bezahlt. Bezahlte ihn immer noch.
Die gedämpften Worte der Schrumpfköpfe füllten die Hütte. Der Blick des Marionettenmannes glitt durch den Raum und blieb zuletzt an einem runden Spiegel hängen. Darin sah er nicht etwa sich selbst. (Es hätte ihm noch gefehlt, dass er unablässig daran erinnert wurde, wie widernatürlich er aussah.) Der Spiegel zeigte auch nicht den hohen Schrank daneben oder den Tisch in der Mitte des Raumes, nicht den Lattenrost, auf dem der Marionettenmann schlief, und auch nicht die offene Herdstelle.
Der Spiegel zeigte Emily End. Das Mädchen mit dem Lotinsmal widmete sich ihrem liebsten Zeitvertreib: Sie wanderte in der Bibliothek, dem Buffet der Bücherfresser, vor den Regalen auf und ab. Die Tablare bogen sich unter der Last fetter Buchschinken, würziger Lektüren, exotischer Gedichtbände, aber auch fader Lehr- und Fachbücher.
Die tiefroten Sonnenstrahlen fluteten fast waagerecht durch die Fenster der Bibliothek. Das Geschehen hatte sich vor einigen Stunden ereignet. Der Marionettenmann war versucht, den Spiegel von der Wand zu nehmen und den Rest der Nacht zu verbringen, wie er schon zahllose Nächte zuvor verbracht hatte: Auf der mit Stroh gefüllten Matratze, die drahtigen Beine wie die einer Gottesanbeterin verschränkt, die Glupschaugen auf das runde Glas in seinem Schoß geheftet und dann und wann etwas murmelnd wie: „Donnerkopf und Hexenbein, diese Tat wirst du bereu‘n.“
Aber die vielen Bücher, mit denen Emily ihr sinnbildliches Tablett belud, ließen darauf schließen, dass sie den Abend verlesen würde. Unwahrscheinlich, dass sie auch nur daran dachte, zu tun, was den Fluch auslösen würde.
Es wäre wohl das Beste, er nutzte die Zeit sinnvoll. Er konnte nicht fortfahren mit der Sache, die der Wurmgott ihm aufgetragen hatte. Aber sollte der Marionettenmann eines Tages zurückerhalten, was Emily ihm gestohlen hatte, wäre er wenigstens vorbereitet. Er betete, dass die Tränen wieder in seinem Besitz waren, wenn der Wurmgott zu ihm zurückkehrte. Anderenfalls konnte er nur auf Gnade hoffen.
Der Marionettenmann öffnete den Schrank und betrachtete den Inhalt. Er hatte sich in den letzten Vierteln zu sehr darauf beschränkt, Zutaten zu ernten. Sehr erfolgreich zwar – die Gläser mit Pulvern, Essenzen und getrockneten Insekten waren bis unter die Deckel gefüllt – aber was nutzte ihm das, wenn er tagein, tagaus in den Spiegel stierte? Es war an der Zeit, dass er tätig wurde! Nur dann durfte er hoffen, das Verwunschene Tal je wieder verlassen zu dürfen.
Der Marionettenmann kramte einen Glasbehälter aus dem Schrank und ging zur Herdstelle. Daneben stand ein Athanor, ein spezieller Ofen für alchemistische Zwecke, ausgestattet mit einem Stellschieber zur Temperaturregulierung. Er entfernte den Deckel vom Ofen, stellte die Retorte darauf und steckte einen Trichter oben ins Ansatzrohr. Dann trug er das Glas mit der Quellenfee zum Athanor und goss Wasser in den Trichter, bis die Retorte zu etwa einem Drittel gefüllt war. Die Fee ruderte wild mit den Armen und Flügeln, um nicht mitgerissen zu werden. Der Marionettenmann stellte das bauchige Glas auf den Boden und krempelte die Ärmel hoch. Nun kam der schwierige Teil. Er tauchte die Hände ins Wasser und grapschte nach der Fee. Das kleine Biest war flink. Als er sie zu fassen bekam, versenkte sie die nadelspitzen Zähne in seinem Daumen. Der Marionettenmann fluchte. Er hob sie aus dem Glas und ließ den Arm kreisen. Spiralen tanzten in den Augen der Fee. Er hielt sie über den Trichter, ihren Leib mit beiden Händen umfasst, und wrang sie aus wie einen feuchten Lappen. Tropfen wie flüssiges Mondlicht fielen in die Destillationsblase. Er warf den schlaffen Leib der Fee zurück ins Glas. Die Augen des zierlichen Wesens flatterten, und es sank zu Boden.
Der Marionettenmann öffnete den Brennholzschacht des Athanors, gab etwas Holzkohle hinein und entfachte die Glut. Warme Luft stieg empor und schmiegte sich von unten an das kugelige Hinterteil der Retorte. Er ging zum Schrank und kehrte mit mehreren Gläsern auf den Armen zum Athanor zurück. Dabei murmelte er unablässig.
„Frostkröte, getrocknet und gemahlen, pulverisierte Vulkanwurz, Schwarzkorn …“
Er öffnete nacheinander die Gläser und warf jeweils eine Handvoll in die Glut. Die Kohlen fauchten und änderten jedes Mal die Farbe. Erst grün, dann rot, dann schwarz …
Binnen Sekunden siedete das Wasser. Nun hieß es warten. Der Marionettenmann rieb sich die Hände und ließ den Blick schweifen. Er könnte inzwischen den Trauertau filtern, das Seelensalz mahlen … oder …
Sein Blick blieb am Glas des Zauberspiegels hängen. Emily hatte die Bibliothek verlassen und unterhielt sich mit einem jungen Mann. Das Interesse des Marionettenmannes war geweckt. Er trat vor den Spiegel und folgte gebannt dem Verlauf des Geschehens. Aufmerksam beobachtete er die Augen des Mädchens. Er kannte diesen Blick. Es war einfach, Gedanken zu lesen, wenn man nur wusste wie. Direkt hinter den Augen lag das Gehirn, ein offenes Buch. Man durfte sich nur nicht vom Anblick der Iriden gefangen nehmen lassen.
Emily mochte ihren neuen Freund. Vielleicht würde sie ihn wiedersehen. Vielleicht würde sie ihn eines Tages küssen. Und dann, wenn sie sein Schicksal besiegelt hatte, ja, dann würde sie vielleicht endlich verstehen.