Читать книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens - Страница 23
ОглавлениеDas Tagebuch
In dieser Nacht betrat ich erstmals Emilys Wohnung. Der würzige Geruch von Büchern und Kerzenwachs lag in der Luft. Der Regen prasselte gegen das Fenster ihres Esswohnzimmers, und der Wind rüttelte an den Läden.
Emily entschuldigte sich und zog sich in ein angrenzendes Zimmer zurück. Ich hängte den durchnässten Frack über die Lehne eines Stuhls und machte mich am Kamin zu schaffen. Als Flammen über die Holzscheite leckten, richtete ich mich auf und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ich bemerkte, dass Emily die Fensterbank mit seltsamen Schriftzeichen bekritzelt hatte. Knoblauchzöpfe hingen von der Decke, und auch auf der Tür blühte ein Kreis aus Runen.
Sie ist verrückt, dachte ich. Doch der Gedanke erschreckte mich nicht. Im Gegenteil, er stimmte mich heiter.
„Ich weiß, was du denkst.“
Ich wandte mich zu ihr um. Sie trug nun ein weißes Nachthemd.
„Du hältst mich für verrückt.“
„Oh ja“, sagte ich und nickte. „Paranoid, um genau zu sein.“ Ihr Blick entlockte mir ein Lächeln. „Ich würde sogar sagen, nur du bist verrückt genug, dass ich dich mögen kann.“ Die Sorge in ihrem Blick schmolz dahin, und Tränen der Erleichterung füllten ihre Augen.
„Komm“, sagte ich und fasste sie am Handgelenk. Ihre Haut war eisig. „Du solltest dich aufwärmen.“ Ich führte sie zum Kamin, wo Emily sich nahe den Flammen in einen Sessel sinken ließ. Verlegen starrte sie auf ihre Füße.
„Ich weiß nicht, wie ich mich erklären soll“, sagte sie mit erstickter Stimme.
„Niemand hat eine Erklärung verlangt.“
Im Grunde war es mir gleich, was sie umtrieb. Ich bin an etwas erkrankt, das Ed hormonelle Vergiftung der Hirnrinde nennt. Kurz gesagt, ich bin verliebt, und würde mich vermutlich nicht einmal daran stören, wenn Emily ein Flüchtling aus dem Hochsicherheitstrakt von Sankt Laplace wäre.
„Was kann ich tun, damit es dir besser geht?“, fragte ich.
Emilys Worte waren jetzt nur noch ein Flüstern. „Bleib bei mir.“
Ich lächelte schwach. „Du musst es mir schon ein bisschen schwerer machen, Emily.“
Ihre Lippen zuckten, doch schon im nächsten Moment war ihre Miene wieder ernst. Ihr Blick glitt durch den Raum und blieb an meinem Frack hängen.
„Wieso trägst du einen Anzug?“
„Ich wollte Diane im Hafen besuchen.“ Mir kam nicht in den Sinn, sie zu belügen.
„Oh …“
„Sie bedeutet mir nichts“, fuhr ich fort und sah Emily fest in die Augen. „Ich war betrunken, als ich sie kennenlernte, weil …“
Emilys Augen weiteten sich, als sie verstand. „Weil ich dir diesen Brief geschrieben habe“, sagte sie.
Ich presste die Lippen zu einem schmalen Strich und nickte.
„William …“ Emily holte tief Luft. „Nach unserer Verabredung im Hafen fing ich an, dich zu mögen. Sehr zu mögen. Das war nicht gut.“ Sie atmete erneut tief ein und sah zum Kamin. Die Flammen tanzten in ihren Augen. „Bevor ich Studentin in Treedsgow wurde, war ich ein Niemand. Eine Waise ohne Mittel. Ich suchte Zuflucht bei einer alten Dame, die sich um Kranke kümmerte. Seit einiger Zeit war sie selbst erkrankt und wurde von ihrer Enkelin gepflegt. Das Mädchen war viel zu jung, um allein für ihre Großmutter zu sorgen. Weil ich mich auf die Naturheilkunst verstehe, blieb ich dort. Ich pflegte die alte Dame, versorgte an ihrer statt die Kranken und kümmerte mich um das Mädchen. Dann eines Tages …“ Emily holte tief Luft, wie um Kraft zu sammeln. „… küsste ich das Mädchen beim Zubettgehen auf die Stirn. Am nächsten Morgen erkrankte sie. Ein Viertel später war sie tot.“
Ich runzelte die Stirn. Emily konnte nicht ernsthaft glauben, dass ein Zusammenhang bestand.
„Bald darauf starb auch die alte Dame“, fuhr sie fort. „Ich zog weiter, nicht zuletzt deshalb, weil man über mich zu reden begann. Ich schloss mich einer Gruppe von Spielleuten an, die nach South Harrow reisten. Dort wurde ein Apotheker auf mein Talent als Heilkundige aufmerksam und nahm mich bei sich in die Lehre auf. Eine meiner Aufgaben bestand darin, die Medizin solchen Menschen zu bringen, die zu krank oder zu beschäftigt waren, sie selbst zu holen. Besonders oft belieferte ich einen Bergmann. Ich freundete mich mit ihm an. Eines Tages küsste ich ihn zum Abschied auf die Wange.“ Emily stockte, und mir schwante etwas. „Am nächsten Tag starb der Bergmann bei einer Explosion Untertage.“ Sie ließ mir keine Gelegenheit, dies als Zufall zu bezeichnen. „Einige Monate später lernte ich einen jungen Mann kennen. Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich verliebte mich in ihn …“ Sie senkte verlegen den Blick. „Eines Tages küsste ich ihn. An einem verlassenen Ort zwischen Stadt- und Waldrand. Kaum hatten sich unsere Lippen voneinander gelöst, wurde er von der verirrten Gewehrkugel eines Jägers getroffen. Er starb in meinen Armen.“ Sie blickte zu mir auf. Tränen glitzerten in ihren Augen. Ich wollte etwas sagen, hätte jetzt auch die Gelegenheit dazu gehabt, doch ich war sprachlos.
„Ist es Zufall, William? Bin ich verflucht?“ Sie blickte zu mir auf. „Ich empfinde viel für dich. Aber lieber entferne ich mich von dir und versuche, dich zu vergessen, als bei dir zu bleiben und dich niemals küssen zu dürfen.“
„Steh auf, Emily.“ Sie blickte zunächst fragend zu mir auf, ehe sie sich erhob. Ich nahm ihre Hände in meine. „Es waren Zufälle, hörst du? Bloß Zufälle. Aber selbst wenn du niemanden küssen darfst, dem du nicht den Tod wünschst, so bedeutet das nicht, dass dich niemand küssen darf.“
Ich sah ihr an, dass sie mir nur zu gern glauben wollten. „Bist du dir sicher?“
Statt einer Antwort gab ich ihr einen Kuss. Eine Gänsehaut jagte wie elektrischer Strom durch meinen Körper und floss auf Emily über, wo sich unsere Lippen berührten. Sie verschränkte die Finger mit den meinen und schloss die Augen. Ich spürte ihren warmen Atem in meinem Mund, ihre Nase, die meine berührte, ihre zögerliche Erwiderung.
„Bleib heute Nacht bei mir“, flüsterte sie. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, sah nur ihren Haarschopf. Der Duft ihrer regenfeuchten Haare stieg mir in die Nase.
Emily wandte sich um und führte mich an der Hand ins Schlafzimmer. Der Raum war gerade groß genug, dass er im Gesamten nur drei Möbel fasste: einen Schreibtisch, der unter dem Fenster stand, ein Bett mit himmelblauer Baumwollbettwäsche und einen Kleiderschrank. Es gab einen hohen Spiegel gegenüber der Tür und Öllampen an den Wänden, die nicht brannten. Auch hier schmückten Runen Tür und Fensterbrett.
Emily ließ meine Hand los und legte sich ins Bett. Ihre Bettwäsche raschelte verführerisch.
„Komm zu mir, William“, murmelte sie. „Hier neben mich.“
Ich zog meine Schuhe aus und legte mich zu ihr. Inzwischen war meine Leibwäsche am Körper getrocknet. Emily schmiegte sich an mich, und ich legte den Arm um sie. Die Augen wurden mir schwer. Regen und fern grollender Donner füllten meinen Kopf.
„Dein Hemd ist noch feucht“, nuschelte Emily. Ich hörte ein leises Lächeln, dass ihre Worte süßte.
„Ich habe vor deiner Haustür einen Freund von dir getroffen“, murmelte ich.
„Wen?“
„Sein Name war Glenn. Ein eigenartiger Kerl.“ Ich lächelte müde, als ich an seine merkwürdigen Gesten dachte. „Er hat mich an eine Marionette erinnert.“
Emily schwieg dazu.
Ich erwachte Stunden später. Der Sturm hatte sich gelegt, sogar die Wolken hatten sich verzogen, und silbernes Mondlicht strömte durch das Fenster. Stille drückte gegen das Glas. Ich glaubte, das Licht habe mich geweckt. Da bemerkte ich, dass Emily vorsichtig von mir abrückte. Ich atmete regelmäßig weiter und behielt die Augen geschlossen. Emily stieg aus dem Bett und fing an, barfuß durchs Zimmer zu tappen. Ich wurde nicht schlau aus dem, was ich hörte. Nach einer Weile siegte die Neugier. Ich öffnete ein Auge. Emily hatte ihren Kleiderschrank geöffnet und tastete mit einer Hand darin herum. Ihr dunkles Haar glänzte im Mondlicht. Als sie ihren Arm aus dem Schrank zog, hielt sie einen metallenen Gegenstand in den Händen. Ich konnte nicht erkennen, was es war, sah nur ein kurzes Aufblitzen. Ein Messer?
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich Emily doch eigentlich kaum kannte, wusste nur, dass sie etwas verrückt war. Mir lief es eiskalt über den Rücken. Ich widerstand dem Drang, mich aufzurichten, und schloss die Augen für den Fall, dass sie zu mir sah. Vermutlich hatte sie bloß irgendeinen okkulten Gegenstand ausgekramt. Sie wollte nicht, dass ich etwas davon erfuhr. Sie fürchtete ohnehin, ich könne sie für verrückt halten.
Eine volle Minute, während derer ich deutlich Emilys Blick auf mir spürte, war es still. Sehr still. Plötzlich hatte ich Angst. Mir kam der absurde Gedanke, dass der Gegenstand in ihren Händen ein großes Geheimnis war. So groß, dass sie mich zum Schweigen bringen würde, um es zu wahren. Der Drang, die Augen zu öffnen, wurde fast unwiderstehlich. Aber ich behielt sie geschlossen, atmete ruhig. Schließlich verließ Emily das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Sie blieb eine gefühlte Stunde fort. Ich döste ein. Als sie zurückkehrte, wurde ich jedoch schlagartig hellwach. Die Vögel beschworen bereits den Tag herauf. Emily legte sich ins Bett und schloss die Augen. Wenige Minuten später drang ihr Atem an meine Ohren, leise und regelmäßig. Sie war eingeschlafen.
Es dauerte lange, bis der Schlaf auch mich fand. In meinem Kopf jagte eine Frage die nächste. Wo war sie gewesen? Was verheimlichte sie? Sollte ich sie zur Rede stellen?
Ja, dachte ich, das sollte ich. Vielleicht jetzt sofort.
Ich öffnete die Augen und betrachtete ihr Gesicht. Tiefer Frieden lag in ihren Zügen. Keine Falte zeigte sich auf ihrer Stirn, und ihre kurzen Lippen formten die Andeutung eines Lächelns. Ich lächelte ebenfalls. Ihre Glückseligkeit war ansteckend, und ihr nächtlicher Ausflug erschien mir mit einem Mal belanglos. Wen kümmerte, wo sie gewesen war und was sie getan hatte? Sie war glücklich.
Ich schloss die Augen, und endlich betäubte der Schlaf mein Denken.
Am nächsten Morgen teilte ich Emily vorsichtig mit, dass ich noch einen Aufsatz über elektrische Feldlinien fertigstellen musste. Sie reagierte gelassen. Es ginge ihr schon viel besser. Sie würde mich am Abend besuchen.
Daheim erwartete mich ein übel gelaunter Ed im Schlafanzug.
„Diane war hier“, maulte er. „Sie war ziemlich sauer und hat sturmgeläutet. Um acht Uhr morgens!“
Ich biss mir auf die Lippe. „Wo ist sie jetzt?“
„Ich habe ihr gesagt, sie soll in deinem Zimmer warten und mich gefälligst in Ruhe lassen.“ Ich sah mit weit aufgerissenen Augen abwechselnd zu meiner Zimmertür und zu Ed. „Keine Angst, du Pantoffelheld. Sie ist schon vor einer Stunde weg.“ Ich atmete auf, doch meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Als ich mein Zimmer betrat, sah ich mein Tagebuch aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen. Zwei Sätze warfen sich mir förmlich entgegen:
Aber so schön sie auch sein mag, es fehlt ihr an Profil, um sich in mein Gedächtnis einzuprägen. Ihr fehlt die spitze Nase, das kleine Lächeln und das Mal über der linken Braue.
W. D. Walker
(Ich war mir inzwischen sicher, dass es sich bei Diane um dasselbe Mädchen handelte, dass mir in Schwarzwasserhafen begegnet war. Sie passte zu Williams Beschreibung. Ihr blondes Haar, ihr schneidiges Auftreten …
Emily hingegen verhielt sich ungewöhnlich. Ich hatte sie als die große Schwester in Erinnerung, deren Stimme der Vernunft noch jedem Albtraum den Schrecken hatte nehmen können. Wieso glaubte sie jetzt an einen Fluch, der durch ihren Kuss ausgelöst wurde? Wieso trug sie ein Mojo und maß der norvolkischen Mythologie so große Bedeutung bei? Was war geschehen in den Jahren seit unserer Trennung?)