Читать книгу Selbstwirksam schreiben - Carmen C. Unterholzer - Страница 15
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WIE SCHREIBEN WIRKT
»Das Schreiben wird überleben, einfach weil es notwendig für das Leben ist.«
Hélène Cixous
In Tagebüchern, Essays und Interviews von Schriftsteller:innen finden sich immer wieder Hinweise auf die therapeutische Kraft des Schreibens. Die bereits erwähnte Ruth Klüger bezeichnete ihre ersten poetischen Texte im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau als therapeutischen Versuch, dem destruktiven, sinnlosen »Zirkus, in dem wir untergingen, ein sprachlich Ganzes, Gereimtes entgegenzuhalten« (Klüger 1992, S. 125). Die deutsche Autorin Herta Müller meinte, dass sie ursprünglich gar nicht daran dachte, Schriftstellerin zu werden, sondern dass sie durch ihre Texte lediglich Halt finden wollte (Müller 2014). Für Virginia Woolf bedeutete Schreiben einerseits zwar Folter, andererseits, sagte sie, füge sich ihr Wesen durch das Schreiben zusammen (Woolf 2012, S. 235). Wäre es nicht ein Fehler, würden wir dieses Potenzial, das Schreiben besitzt und über das wir in unserer westlichen Zivilisation nahezu alle verfügen, nicht nutzen? Bei Schriftsteller:innen ist die therapeutische Wirkung ein positiver Nebeneffekt ihres literarischen Schaffens. Aber wie kann es gelingen, diese Wirkung ganz bewusst zu erzielen, sie ganz gezielt zu nutzen?
Schreibend regulieren wir unsere Emotionen
Studien unterscheiden verschiedene Effekte therapeutischen Schreibens (Heimes 2012; Koch u. Kessler 1998). Zunächst hilft uns Schreiben, unsere Emotionen zu verbalisieren und zu regulieren. Nicht nur, dass wir auf dem Papier Dampf ablassen, unsere Wut zähmen und unsere Angst bannen können, wir schaffen auch Distanz zu Gefühlen, die uns zu überwältigen drohen. Wir externalisieren sie, und durch das Betrachten von außen sehen wir unsere Einflussmöglichkeiten auf Emotionen, die uns scheinbar beherrschen, besser. Gefühle zu verbalisieren, Belastendes zu beschreiben wirkt sich sozial günstig aus, da es unser Sozial- und Kommunikationsverhalten verbessert. Schreiben fördert also nicht nur die Emotionsregulation, sondern auch die soziale Integration. Wenn wir erfahren haben, dass das Niederschreiben von Gefühlen, von Belastendem wohltuend ist und zudem die soziale Integration fördert, erleben wir uns als selbstwirksam.
Schreiben hilft beim Denken
Schreiben wirkt sich positiv auf unser Denken und Verstehen aus. Die Art und Weise, wie wir denken, beeinflusst wiederum ganz wesentlich, wie wir fühlen, wie wir uns verhalten und umgekehrt. Schreiben befähigt uns, Ereignisse gedanklich zu strukturieren, disparat gespeicherte, belastende Ereignisse in ein zusammenhängendes Narrativ zu bringen. Je besser wir Texte strukturieren, desto größer ist der Gewinn für uns Schreibende. Der Neurobiologe Manfred Spitzer plädiert fürs Schreiben. Wer schreibt, denke auf disziplinierte Weise nach. Schreibend würden Gedanken nicht im flüchtigen Erlebnisstrom verschwinden, sondern »vom flüssigen in einen festen Aggregatzustand übergehen« (Spitzer 2007, S. 9).
Schreibend ändern wir Bedeutungen
Schreiben wirkt nicht nur emotionsregulierend und kognitionsfördernd, wir ordnen und bewerten Ereignisse auch neu. Wir erzielen gute Effekte, weil wir schreibend strukturieren, weil wir anders oder neu gewichten, wodurch sich Bedeutungszuschreibungen verändern. Damit soll Schwieriges nicht einfach als positive Erfahrung umgedeutet werden, sondern beides – Schwieriges wie auch Positives – kann Eingang in unsere Texte finden.
Dagmar war Teilnehmerin in einer meiner Gruppen zum Thema »Schreibend selbstwirksam sein«. Sie erzählt von ihrem zeitlebens schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, von deren schmerzhaftem Sterben und dem viel zu frühen Tod. Hätte Dagmar nur diese Erzählung zum Inhalt ihres Textes gemacht, hätte es die Erzählerin belastet und ihre Gefühle von Schmerz und Trauer aktiviert. Es hätte keinen Unterschied zu ihren mündlichen Erzählungen gemacht. Meine Frage, ob in diesem Sterbeprozess, durch den Dagmar ihre Mutter begleitet hat, auch etwas gelungen sei, führte zu folgendem Text, der an die Mutter gerichtet ist:
Wir hatten es nicht leicht miteinander. Dich hat das Leben nicht verwöhnt. Bei deiner Geburt starb die Mutter im Wochenbett, die geliebte Frau deines Vaters. Mit ihrem Tod begann deine Odyssee. Du wurdest von Tante zu Tante gereicht, von Großmutter zu Großmutter, von Nachbarin zu Nachbarin. Immer dann, wenn du dich gerade ein bisschen heimisch gefühlt hast, kamst du in die nächste neue Familie. Die vielen Wechsel waren aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Gefühl von Schuld, das du geglaubt hast, im Blick deines Vaters, den du ohnehin nur selten sahst, erkannt zu haben. Er hätte dir den Tod seiner Frau nie verziehen, er hätte sich wohl immer gewünscht, du wärst anstelle seiner Frau gestorben. Mit diesen Gedanken, mit diesen Gefühlen aufzuwachsen, ist eine schwere Bürde. Sie hat dich hart gemacht, zynisch und im Laufe der Jahre verbittert. All dies sind nicht die besten Voraussetzungen, um Kinder zu lieben. Du hast dein Bestes gegeben, für unser leibliches Wohl hast du gut gesorgt. Emotional ließest du uns aber verhungern. Kaum ein Wort der Anerkennung, geschweige denn der Zuneigung. Als junge Frau, die aufbrach, die Welt zu erobern, und vieles anders machte als du, trafen mich deine abschätzigen Blicke, deine vernichtenden Worte. Mit großer Skepsis beobachtetest du mich beim Leben. Selten, sehr selten spürte ich deinen Stolz auf mich. Einmal, als ich mein eigenes Unternehmen gründete, einmal, als wir das zehnjährige Bestehen meiner Firma feierten, glaubte ich, Anerkennung in deinen Augen erblicken zu können. Gesagt hast du nie etwas Dementsprechendes. Lob, Komplimente waren nicht deine Stärke. In den wenigen Wochen, die dir nach der Erkrankung bis zum Tode blieben, hast du in Windeseile nahezu alles nachgeholt, was du 30 Jahre lang verabsäumt hast. Völlig unverhofft traf mich deine Wärme, deine anerkennenden Worte. Du lagst bereits auf der Palliativabteilung, als du mich, über den Flur kommend, begrüßtest mit den Worten: »Welch schöne Tochter ich doch habe.« Ein paar Tage später gestandest du mir, dass du sehr stolz auf mich seist, stolz darauf, wie unabhängig und souverän ich meinen Weg gehe. Immer, wenn ich bei dir am Bett saß, suchtest du Körperkontakt. Du hieltest meine Hand, streicheltest meinen Arm, spieltest mit meinen Fingern. Der bevorstehende Tod hat dich weich und zärtlich gemacht. Ich bin dir so dankbar für diese letzten gemeinsamen Wochen, die so heilsam für mich waren.
Das, was ihnen beiden in den letzten Wochen der Mutter gelungen sei, wäre ihrem Erleben gerechter geworden, als das zuvor Geschilderte, meinte Dagmar in der auf den Schreibprozess folgenden Reflexion. Traurig habe sie dieser Text gestimmt, aber gleichzeitig hätte sich auch ein Gefühl von Wachstum und Weiterentwicklung eingestellt.
Schreiben schafft Sinn
Das Kohärenzerleben – wir sind ihm bereits im ersten Kapitel begegnet – macht einen weiteren Wirkfaktor des Schreibens aus. Unsere erworbene Überzeugung, die Anforderungen, die das Leben an uns stellt, zu verstehen, zu bewältigen und sie letztlich auch als sinnvoll einzuschätzen, wird durch das Schreiben gestärkt. Es trägt dazu bei, eine kohärente Geschichte herzustellen und unseren Erfahrungen Sinn zuzuordnen.
Schreiben wirkt sich günstig auf unsere Lebensziele und somit auf unser Selbstkonzept aus. Das Imaginieren und das Ausformulieren von Zielen haben positiven Einfluss auf die Realisierung unserer Ziele. Die amerikanische Familientherapeutin Peggy Penn (2009) misst dem Schreiben performative Kraft bei. Schreibend erschaffen wir Wirklichkeiten. Dies wiederum stärkt unser Selbstbild – das Konzept, das wir von uns selbst haben. Gibt es ein stärkeres Zeichen von Selbstwirksamkeit?
Schreiben ist ganz bestimmt nicht der einzige Weg, um sich selbstwirksam zu erleben oder um selbstwirksamer zu werden. Aber Schreiben ist ein sehr bewährtes, sehr effizientes Mittel und vor allem für viele ein lustvoller und kreativer Weg zu sich und zu anderen. Die Abbildung 3 fasst die verschiedenen Wirkweisen des Schreibens zusammen.
Abb. 3: Unterschiedliche Wirkweisen des Schreibens
Schreibanregung Nr. 5
Sie haben von den verschiedenen Wirkweisen des Schreibens erfahren. Es hilft beim Klären von Emotionen und von Gedanken, es wirkt sich positiv auf unser Kohärenzerleben und auf unser Selbstbild aus – so weit die Wissenschaft.
Welche dieser Wirkweisen kennen Sie von Ihrem Schreiben?
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen und spüren Sie nach, wie Sie Ihr Schreiben erleben.
Beginnen Sie Ihren Text mit: »Wenn ich schreibe, dann …« (Schreiber 2017).
Beachte:
Schreibend können wir Emotionen klären und ordnen.
Wenn wir schreiben, denken wir gründlicher nach.
Schreiben lässt uns Erfahrenes anders bewerten.
Schreiben eröffnet neue Horizonte.