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ALPINGESCHICHTE

«BY FAIR MEANS» NEUE FORMEN DES BERGSTEIGENS IN DEN WESTLICHEN ALPEN

Um 1870 waren die höchsten und anspruchsvollsten Gipfel der Alpen auf ihren jeweils einfachsten Routen bestiegen. Um sich fortan als Bergsteiger oder Bergsteigerin zu profilieren, mussten andere Ziele her. Dabei blieben die Gipfel dieselben, nun bestieg man diese aber im Winter respektive auf schwierigeren Routen. Zu den wichtigsten Taten dieser Zeit gehörten im westlichen Alpenbogen etwa die Durchsteigung der Brenvaflanke am Montblanc oder die Erstbegehung der Ostwand des Monte Rosa sowie die Erstbesteigung des Grépon im Montblanc-Gebiet.


Der starke Alpinist Albert Frederick Mummery und seine Frau Mary begingen als Erste den Teufelsgrat am Täschhorn. Mit ihnen auf dem Bild wahrscheinlich ihr Töchterchen Hilda.

(aus: David Mazel (Hg.): Mountaineering Women. Stories by Early Climbers. Texas A & M University Press, College Station 1994)

Ein wichtiger Mann der Stunde war der Brite Albert Frederick Mummery. Jener herausragende britische Kletterer, der zusammen mit seinen Führern Alexander Burgener und Benedikt Venetz mit dem Erklettern des Grépon einen Meilenstein setzte. Anders als seine Vorgänger verstand er das Bergsteigen klar als Sport und legte höchsten Wert darauf, wie man einen Berg besteigt. Er war es, der den bis heute bekannten Satz formulierte, Alpinisten müssten einen Gipfel «by fair means» – den als fair geltenden Regeln entsprechend – erreichen. Albert F. Mummery selbst war regelmäßig mit Frauen unterwegs, namentlich mit seiner Gattin Mary Mummery (1859–1947) und deren Freundin Lily Bristow, die als eine der besten Kletterinnen ihrer Zeit galt. Begeistert von Lilys Kletterei, schrieb Albert F. Mummery in «My Climbs in the Alps and Caucasus»: «Sie zeigte den Vertretern des Alpine Clubs, wie man im steilen Fels am besten klettert.» Nebst klettertechnischen sprengte Lily Bristow auch gesellschaftliche Grenzen: Sie führte gemischte Seilschaften im Fels und übernachtete auf ihren Touren mit mehreren Männern im selben Zelt. Mit der Erstbegehung des schwierigen, langen und steinschlaggefährdeten Teufelsgrats am Täschhorn im Jahr 1887 kletterte sich Mary Mummery in die Geschichtsbücher des Alpinismus. Gemeinsam mit ihrem Mann Albert stand sie u. a. auf der Jungfrau und dem Matterhorn, zu einer Zeit, als die beiden bereits ihre kleine Tochter Hilda hatten.


Margaret Anne Jackson mit ihrem Ehemann Edward Patten Jackson, nach dessen frühem Tod sie mit Winter-Erstbesteigungen Alpingeschichte schrieb.

(aus: David Mazel (Hg.): Mountaineering Women. Stories by Early Climbers. Texas A & M University Press, College Station 1994)

GANZ VORN MIT DABEI

Auch in Sachen Winter-Erstbegehungen mischten die Frauen von Anfang an mit. Die abenteuerlustigen Damen sahen darin eine hervorragende Möglichkeit, sich als Bergsteigerinnen zu beweisen: Meta Brevoort (1825–1876) etwa stand 1874 als erster Mensch im Winter auf dem Wetterhorn und der Jungfrau (siehe S. 11ff.). Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond (1861–1934) gelangen elf Winter-Erstbegehungen (siehe S. 27ff.), u. a. jene des Monte Disgrazia, für die sie von der Capanna del Forno an einem Tag 2100 Höhenmeter und 20 Kilometer zurücklegte. Eine Leistung, die vielleicht nur noch von Margaret Anne Jackson (1843–1906) übertroffen wurde: Mehrere Jahre nach dem Tod ihres Mannes, im Januar 1888, vollbrachte sie innerhalb von zwölf Tagen die Winter-Erstbesteigungen von Lauteraarhorn und Groß Fiescherhorn sowie die erste Wintertraversierung der Jungfrau. Dabei erlitt sie an der Jungfrau so schwere Erfrierungen, dass sie mehrere Zehen verlor, was sie in ihren Berichten nobel verschwieg, obwohl dies ihre lange Kletterkarriere beendete.

Bezogen auf die Geschichte der gesellschaftlichen Bilder von Frauen und Männern, war diese Epoche stark von gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt. In den westlichen Industrieländern wurden Frauen ab den 1860er-Jahren verbreitet an Universitäten zugelassen, was ihnen langfristig neue gesellschaftliche Rollen eröffnete. In Großbritannien wurden die viktorianischen Konventionen lockerer, und 1867 wurde im britischen Parlament die erste Petition zum Frauenstimmrecht eingereicht.

WIDER DAS VERSTECKEN: ERSTE PUBLIKATIONEN VON FRAUEN

Auch am Berg zeigten sich diese Veränderungen. Besonders jüngere Frauen waren mit größerer Selbstverständlichkeit Bergsteigerinnen als die Frauen eine Generation vor ihnen: Während etwa Meta Brevoort noch im Rock kletterte und Bergtexte unter dem Namen ihres Neffen William Coolidge publizierte, sahen die Damen der nachfolgenden Generation dies anders. Einen Rock trugen viele von ihnen nur noch, solange sie sich in bewohntem Gebiet aufhielten; danach streiften sie diesen ab und kletterten in Knickerbockern weiter.

Anders als noch Meta Brevoort publizierten die Frauen zudem unter eigenem Namen: Mary Mummery etwa schrieb das Kapitel zum Teufelsgrat im Buch ihres Mannes «My Climbs in the Alps and Caucasus»; Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond veröffentlichte ein Bergsteigerwerk nach dem anderen, und Margaret Anne Jackson folgte der Bitte des Alpine Club – der Frauen noch weitere hundert Jahre lang ausschließen würde – und schrieb für das «Alpine Journal» den Beitrag «A Winter Quartette», in dem sie über ihre erfolgreiche Westalpen-Expedition vom Januar 1888 berichtete.


Selbstbewusst: Die starke Bergsteigerin Hermine Tauscher-Geduly publizierte in Alpinzeitschriften unter eigenem Namen.

(Archiv des Deutschen Alpenvereins, München)

In derselben Zeit fiel eine Bergsteigerin aus Pressburg, dem heutigen Bratislava, in Alpinistenkreisen immer wieder auf: Hermine Tauscher-Geduly. Die Alpinistin unternahm im Lauf ihres Lebens 140 Hochtouren, darunter die Besteigung des Ortlers über das Hochjoch, des Montblanc von der italienischen Seite her oder die Durchsteigung der Trafoier Eiswand.

Als anerkannte Bergsteigerin war sie eines der ersten weiblichen Mitglieder der Sektion Rätia des Schweizer Alpen-Clubs SAC in jener Zeit, bevor Frauen 1907 explizit aus dem Club ausgeschlossen wurden. Bereits damals war das Zentralkomitee des Clubs Damen gegenüber jedoch kritisch eingestellt und verweigerte mehrmals, Ausweise für weibliche Sektionsmitglieder auszustellen. Umso bemerkenswerter ist es, dass Hermine Tauscher-Geduly im Jahrbuch des SAC von 1884/85 den ausführlichen Beitrag «Das Blümlisalphorn» sowie im Band von 1891/92 «Besteigungen von der Fornohütte aus» unter eigenem Namen veröffentlichte. Eine Tatsache, die zeigt, dass die Welt auch damals selten schwarz oder weiß, sondern eher bunt war und selbst in frauenkritischen Kreisen mancher Kollege die Damen durchaus respektierte.

WIDER ALTE KONVENTIONEN: DEN FÜHRER HEIRATEN UND IM IRAK POLITISIEREN

In Sachen Konventionen erregte Isabella Straton (1838–1918) Aufsehen. Der Britin gelang 1876 gemeinsam mit dem Führer Jean Charlet die erste Winterbesteigung des Montblanc, die Erstbesteigung der Aiguille du Moine und der Pointe Isabella im Triolet-Gebiet. Viel unerhörter für ihre Zeit und ihren Status war es aber, dass die wohlhabende Isabella Straton sich in den französischen Alpen niederließ, ihren Führer heiratete und mit ihm eine Familie gründete. Offenbar stolz auf seine Ehe, zeichnete ihr Ehemann fortan mit Jean Charlet-Straton.

Eine der ersten Frauen, die sich nicht zuletzt dank einer erstklassigen universitären Bildung souverän in allen gesellschaftlichen Bereichen bewegte, war Gertrude Bell (1868–1926). Als erste Frau schloss sie 1888 ein Geschichtsstudium an der University of Oxford ab, nach 1904 unternahm sie archäologische Expeditionen nach Persien und Kleinasien, wurde während des Ersten Weltkriegs Nahostberaterin von Großbritannien und war als Nachrichtenoffizier in Bagdad maßgeblich an der Schaffung des Irak beteiligt. Daneben nahm sich die einflussreiche Dame während einigen Jahren Zeit, als erfolgreiche Bergsteigerin in den Alpen zu klettern. Nebst den großen Touren wie der Traversierung der Meije im Jahr 1897 überschritt sie 1901 gemeinsam mit ihren Führern die Mittelgruppe der Engelhörner im Berner Oberland und verewigte sich dort bis heute mit der Gertrudspitze; ein Jahr später gelang ihr die Erstbegehung des Verbindungsgrats von Schreckhorn und Lauteraarhorn, der bis heute als eine der ganz großen Touren in den Schweizer Alpen gilt.


Die noble Isabella Straton (Mitte und Seite 41) räumte mit allen Konventionen auf und heiratete ihren Führer Jean Charlet (rechts von ihr). Ebenfalls auf dem Bild ist ihre Freundin und Seilgefährtin Emmeline Lewis Lloyd (links außen).

(aus: Ronald W. Clark: The Victorian Mountaineers. B. T. Batsford, London 1953)


(aus: The Alpine Journal Nr. 32, 1918/19)

Amüsant bei diesem Unternehmen war: Am selben Tag gelang der deutschen Alpinistin Helene Kuntze dieselbe Überschreitung von der anderen Seite her. Gemäß Überlieferungen soll die Begegnung auf dem Grat nicht allzu herzlich verlaufen sein, nicht zuletzt weil Gertrude Bell der deutschen Kollegin die Führer abgeworben hatte und diese mit anderen Führern vorliebnehmen musste. Trotz der Erfolge am Berg beendete die Britin im Sommer 1904 ihre Blitzkarriere in den Alpen. Und dies gebührend: mit der Besteigung des Liskamms, der Dufourspitze, des Täschhorns über den Teufelsgrat und der Überschreitung des Matterhorns von Breuil nach Zermatt.

Auf politischem Parkett weniger gewichtig, dafür über Jahre hinweg in den Bergen unterwegs war Gertrude Bells Landsfrau Katharine Richardson (1854–1927): Einige Jahre vor Gertrude stand sie als erste Frau auf der Meije und machte auf sich aufmerksam mit der Erstbegehung der Aiguille de Bionnassay vom Col de Miage über den Südgrat und der anschließenden Traversierung des Ostgrats zum Dôme du Goûter.

Ganze 200 Gipfel bestieg sie im ausgehenden 19. Jahrhundert und bildete zusammen mit Mary Paillon (1848–1946) ab 1888 eine der ersten Frauenseilschaften der Geschichte. Oft führerlos unterwegs, unternahmen die beiden während mehrerer Jahre große Touren, meist in der Dauphiné, und wurden damit zu den ganz frühen Vorbotinnen der führerlosen Frauenseilschaften, der sogenannten cordées féminines (siehe S. 69f.). Eine Vorreiterrolle, die sie mit den Schwestern Louise und Marie Lacharrière aus Lyon und Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond teilten: Die französischen Schwestern waren immer wieder führerlos als Frauenseilschaft unterwegs und stiegen etwa 1891 in der Vanoise ohne Begleitung auf die Grande Casse, während Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond zusammen mit ihrer Bekannten Evelyn McDonnel 1898 in Eigenregie – und angeblich als erste Seilschaft der Saison – den Piz Palü überschritt.fin

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