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SCHAUPLATZ DOLOMITEN: SCHWIERIGKEITSALPINISMUS AN DER WENDE ZUM 20. JAHRHUNDERT
An der Wende zum 20. Jahrhundert wurden die Grenzen des Kletterbaren weiter hinausgeschoben. Bereits 1887 hatte der Münchner Gymnasiast Georg Winkler mit der Erstbesteigung des steilsten der drei Vajolettürme in der Rosengartengruppe im Alleingang neue Maßstäbe im Felsklettern gesetzt. Noch vor dem Ersten Weltkrieg bewältigte sein Landsmann Otto Herzog an der Schüsselkarspitze im Wetterstein eine Kletterpassage, die nach heutigen Maßstäben mit dem oberen sechsten Grad zu bewerten ist.
Ermöglicht wurde diese Leistungssteigerung zum einen durch fortschrittliche Ausrüstung: Weiche Kletterschuhe erlaubten einen besseren Kontakt zum Fels, die Verwendung von Karabinern als Verbindung zwischen Mauerhaken und Seil revolutionierte die Sicherungstechnik. Zum anderen entwickelten sich neue Klettertechniken, etwa die Gegendruckmethode, die im deutschen Sprachraum «Piazen» – nach dem Dolomitenkletterer Tita Piaz – heißt; Hans Dülfer gelangen mittels Seilzugquergängen bahnbrechende Erstbegehungen im Wilden Kaiser. Im Gegensatz zur sogenannten «Wiener Schule», in der Exponenten wie Paul Preuß das Klettern ohne Hakenhilfe propagierten, nützten die Kletterer der «Münchner Schule» die Möglichkeiten der modernen Seiltechnik.
Die steil aufragenden Kalktürme der Dolomiten entwickelten sich zu einem wichtigen Schauplatz dieses sportlich orientierten Bergsteigens. Einzelne ehrgeizige Frauen ließen sich davon anstecken, auch wenn sie zumeist als Seilzweite mit Führern oder mit ihren Ehemännern kletterten. Die meisten waren jedoch immer noch in ihrer «naturgegebenen» Rolle als treu sorgende Gattin und Mutter gefangen, die ihnen im 19. Jahrhundert zugeschrieben wurde. Beim Bergsteigen unnötige Risiken einzugehen war verpönt – angeblich drohten noch ganz andere Gefahren als die alpinen: gesundheitliche Schäden, Verlust der Weiblichkeit, Unsittlichkeit. Der Platz der bürgerlichen oder adeligen Frau hatte in der Familie zu sein, und für alle anderen war an Bergsteigen zum Freizeitvergnügen sowieso nicht zu denken.
DIE SCHWIERIGSTE UND LÄNGSTE TOUR DER DOLOMITEN
Eine der frühen Kletterinnen im schweren Fels war daher auch eine Frau, die ein finanziell unabhängiges Leben jenseits der gesellschaftlichen Konventionen führte und das Bergsteigen als Mittel zur Selbstentfaltung entdeckte: die Holländerin Jeanne Immink (1853–1929). Sie bestieg zahlreiche Viertausender in den Walliser Alpen – darunter das Obergabelhorn, das Weißhorn über den Nordgrat und das Matterhorn, das sie überschritt –, wiederholte die zu ihrer Zeit schwierigsten Dolomitenrouten und unternahm dort auch mehrere Erst- und Winter-Erstbegehungen. Im Juli 1893 gelang ihr mit den Führern Sepp Innerkofler und Pietro Dimai die Erstbesteigung des Sasso di Toanella. Auf dem am Gipfel zurückgelassenen Zettel forderte sie «die Herren Alpinisten auf, meinen Schritten zu folgen». Wenige Wochen später glückte ihr die erste Überschreitung der Fünffingerspitze.
Zum Teil in Begleitung eines Führers, zum Teil aber auch allein mit ihrem Mann Ludwig – er zählte zu den ersten «führerlosen» Alpinisten – bestieg die Britin May Norman-Neruda (1867–1945) zwischen 1893 und 1898 die meisten Gipfel der Rosengarten-, Langkofel- und der Palagruppe. Das Paar wählte jeweils schwierige Anstiegswege, und Ludwig Norman-Neruda bestätigte, dass seine Frau dazu fähig sei, eine Seilschaft in anspruchsvollen Routen zu führen. Auch nachdem sie mit 31 Jahren den tödlichen Absturz ihres Mannes miterlebt hatte, gab May das Klettern nicht auf. Im Sommer 1904 unternahm sie mit Una Bell, einer Freundin aus England, geführt von Arcangelo Siorpaes und Cesare Menardi, die Erstbesteigung der Tre Sorelle in der Sorapisgruppe.
Durch die imposanten Südabstürze der Marmolada wurde als erste Route die «Via classica» gelegt, und mehr noch als ihre klettertechnischen Anforderungen überrascht die Tatsache, dass die Durchsteigung von einer Frau initiiert wurde. Seit der Erstbesteigung über die Nordseite 1864 hatten zahlreiche Seilschaften versucht, einen Weg durch die Südwand zu finden. Woran die besten Bergsteiger gescheitert waren, gelang am 1. Juli 1901 der Britin Beatrice Tomasson (1859–1947) mit ihren Bergführern Michele Bettega und Bortolo Zagonel. Die Erstbegehung im damals höchsten Schwierigkeitsgrad (V) zählt zu den größten alpinistischen Leistungen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und war so unglaublich, dass sie von vielen angezweifelt wurde, nicht zuletzt deshalb, weil man einer Frau eine solche Besteigung nicht zutraute. Sie blieb mehr als ein Jahrzehnt die schwierigste und längste Tour der Dolomiten.
Beatrice Tomasson posiert mit extravaganter Kopfbedeckung und ihrem Führer Arcangelo Siorpaes am Becco di Mezzodì bei Cortina d’Ampezzo. Die Marmolada-Südwand durchstieg sie 1901 mit Bortolo Zagonel und Michele Bettega.
(aus: Ingrid Runggaldier: Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte. Edition Rætia, Bozen 2011)
Ähnlich initiativ zeigten sich die beiden ungarischen Baronessen Rolanda (1878–1953) und Ilona von Eötvös (1880–1945), deren Familie mehrere Sommer in Cortina d’Ampezzo verbrachte. Neben Wiederholungen schwerer Routen gelangen ihnen mit ihren Führern auch einige Erstbegehungen. Die bekannteste dürfte die heute mit IV+ bewertete in der Südwand der Tofana di Rozes (1901) sein. Darüber hinaus gab es noch «ungezogene Klettertouren», mit denen sie «unsere armen Eltern täuschten» – wenn nämlich die jungen Frauen auf eigene Faust loszogen und beispielsweise den Normalweg auf die Große Zinne allein begingen, zum Entsetzen ihres Bergführers, der zur gleichen Zeit einen Gast auf die Westliche Zinne begleitete.
DIE FRAU ALS «RUIN DES ALPINISMUS»
Andere Frauen hatten nicht den Ehrgeiz, selbstständig zu klettern. Die Wienerin Emmy Eisenberg, spätere Hartwich-Brioschi (1888–1980) band sich oft an das Seil ihres Freundes Paul Preuß; sie bezeichnete sich selbst als «tauglich zum Mitgenommen-Werden » und war stolz darauf, dass ihre Vorsteiger die Besten ihrer Zeit waren. Preuß fasste die männlichen Vorurteile gegenüber Alpinistinnen in seiner 1912 erschienenen Satire «Damenkletterei » zusammen, in der er die Frauen als den «Ruin des Alpinismus» bezeichnete; seine zahlreichen Seilpartnerinnen (nach eigenen Angaben siebzehn), zu denen auch seine Schwester Mina Preuß zählte, behandelte er aber als gleichwertige Gefährtinnen. Emmy wusste sich zu wehren und legte ebenso ironisch dar, dass Frauen durchaus Bergsteiger-Eigenschaften hätten, diese würden nur von den Männern jeweils umbenannt. «Und zwar: Mut – blöder Leichtsinn, Entschlossenheit – sträflicher Eigensinn, Ausdauer – eine gewisse Zähigkeit, Geistesgegenwart – glücklicher Zufall, und Liebe zur Sache – Liebe zum Mann.» Oft waren sie zu viert in schweren Routen unterwegs, gemeinsam mit Hans Dülfer und dessen Freundin Hanne Franz. Ähnlich schwierige Touren unternahm Käthe Bröske, Pianistin aus Berlin, der die fünfte Wiederholung der «Tomasson» in der Marmolada-Südwand gelang sowie 1906 mit Francesco Jori die Erstbegehung der Fiameskante. Von einer weiteren Erstbegeherin, der Baronin E von Kasnakoff, nach der die Nordwestkante des Zweiten Sellaturms (1913) sowie ein Turm in der Geislergruppe benannt sind, wurde nicht einmal der vollständige Name bekannt. Schlimmer noch: Er ging als «Kasnapoff» in die Führerliteratur ein, vermutlich weil man in Italien die Frakturschrift nicht gewohnt war und das k als p interpretierte.
Ilona oder Rolanda? Eine der Baronessen von Eötvös übt sich im Klettern. Die «Dimai/ Eötvös» in der Tofana-Südwand ist die berühmteste Erstbegehung der beiden.
(aus: Ingrid Runggaldier: Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte. Edition Rætia, Bozen 2011)
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs erlitt das Klettern eine Zäsur. Die Männer zogen an die Front, die nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 mitten durch die Dolomiten verlief. Nicht alle kehrten zurück. Angelo Dibona überlebte und kletterte am 7. Juli 1927 mit den Amerikanerinnen Miriam O’Brien (1898–1976) und Margaret Helburn sowie Angelo und Antonio Dimai durch die «Via Miriam» an der Torre Grande der Cinque Torri – eine Woche zuvor hatte Angelo Dimai die Route mit Arturo Gaspari eröffnet und nach der jungen Bergsteigerin benannt. Diese hielt später fest, dass das Klettern im Dolomit ihr entgegenkomme: «Wie viele andere Frauen erkannte ich, dass die Dolomiten genau nach meinem Geschmack waren – mit ihren kleinen hervorragenden Griffen und Stufen für Zehen und Finger, wo ein feines Gespür für das Gleichgewicht und nicht brachiale Kraft ausschlaggebend ist.» Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Miriams Name in den alpinen Annalen auftauchte (siehe S. 69f.).
kst