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ALPINGESCHICHTE

EIGENVERANTWORTLICH IN DIE BERGE:
FÜHRERLOSE UND FRAUENSEILSCHAFTEN
IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in den Alpen vereinzelt führerlos kletternde Frauen und noch seltener rein weibliche Seilschaften anzutreffen (siehe S. 41). Sie nahmen eine Entwicklung auf, die in den 1880er-Jahren eingesetzt hatte und hauptsächlich auf das gestiegene Leistungsniveau zurückzuführen war: Vor allem österreichische und deutsche Bergsteiger begannen, ohne die Unterstützung ortskundiger Führer und Träger eigenständig Erstbegehungen oder Wiederholungen zu unternehmen. Ludwig Purtscheller etwa gelang 1885 mit den Brüdern Otto und Emil Zsigmondy die erste Gesamtüberschreitung der Meije, Josef Enzensperger durchstieg 1894 die Südwand der Trettachspitze, und Eugen Guido Lammer wurde durch seine führerlosen Besteigungen und vor allem durch seine Alleingänge ein Vorbild für zahlreiche andere Alpinisten. In Frankreich sah man sich 1919 dazu veranlasst, den Eliteclub Groupe de Haute Montagne (GHM) zu gründen, um den Vorsprung der ohne Bergführer kletternden Deutschen und Österreicher aufzuholen.

Albert Frederick Mummery erklärte seine «Begeisterung für führerloses Bergsteigen» anlässlich einer ebensolchen Besteigung der Aiguille des Grands Charmoz im Jahr 1892 damit, «dass alle, die die wahre Freude am Bergsteigen genießen wollen, ganz allein auf ihre eigene Geschicklichkeit und Kenntnisse angewiesen sein sollen». Seine Begründung: Das Verhältnis zwischen Touristen und Führern habe sich verändert, Letztere trieben ihre Gäste aus Geschäftssinn so schnell wie möglich auf einen Gipfel und wieder hinunter, außerdem seien vorhersehbare Aufstiege «uninteressant und langweilig». Er wiederholte einige seiner mit Führern unternommenen Begehungen führerlos, unter anderem den 1881 von ihm, Alexander Burgener und Benedikt Venetz erstbestiegenen Grépon (siehe S. 37). Die zunehmende Beliebtheit solcher «extremen» Touren und damit die Weiterentwicklung des Alpinismus verdeutlichte er in einem Satz, in dem er Leslie Stephen zitierte: «Ich glaube, daß fast alle Berge diese drei Stadien durchgehen müssen: ein unersteiglicher Gipfel – der schwerste Aufstieg in den Alpen – eine leichte Damentur.» Der «easy day for a lady» wurde Mummery, der des Öfteren mit Frauen kletterte, zu Unrecht als frauenfeindlich ausgelegt.

FRAUEN IM VORSTIEG

Nach den frühen Vorreiterinnen wie etwa Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond (siehe S. 27ff.) war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst die Deutsche Eleonore Noll-Hasenclever (1880–1925), die ab 1909 eigenverantwortliche Touren mit verschiedenen Seilpartnern unternahm, dabei auch als Seilerste aufstieg und 1913 eine Frauenseilschaft mit Helene Sorin anführte (siehe S. 43ff.). Als Alpinistin, die selbstbewusst und zielgerichtet ihre eigenen Projekte verfolgte, stellte Eleonore eine Ausnahme dar; sie ließ sich auch durch Heirat und Nachwuchs nicht vom Bergsteigen abbringen.

Aus dem Ersten Weltkrieg gingen die Frauen gestärkt hervor. Während der Abwesenheit der im Kriegsdienst stehenden Männer hatten sie sich allein bewährt und dadurch größere Unabhängigkeit erlangt, und das 1918 in Deutschland und Österreich eingeführte Frauenwahlrecht sicherte ihnen politische Mitbestimmung zu – ein wichtiger Schritt zur gesellschaftlichen Gleichberechtigung. Während die US-Amerikanerinnen das Wahlrecht 1920 und die Engländerinnen 1928 erhielten, dauerte es in Frankreich bis 1944, in Italien bis 1946, und die Schweizerinnen mussten sich auf Bundesebene bis 1971 gedulden (auf kantonaler Ebene dürfen sie im Kanton Appenzell Innerrhoden gar erst seit 1990 wählen). Trotzdem lebten gesellschaftlich konforme Frauen weiterhin in finanzieller Abhängigkeit und beschränkten ihren Wirkungskreis auf die Familie. Die wenigen, die anspruchsvollere Touren unternahmen, kletterten gewöhnlich als Seilzweite mit ihrem Ehemann. Falls sie selbstständig unterwegs waren, wurden oftmals ihre Fähigkeiten bestritten und ihre Erfolge nicht anerkannt.

Insgesamt stieg jedoch die Anzahl der bergsteigenden Frauen. Bekannt wurden sie vor allem dann, wenn sie Berichte oder Bücher über ihre Aktivitäten veröffentlichten, wie etwa die Britin Dorothy Pilley (1894–1986). Nach einer erfolgreichen Klettersaison im Montblanc-Gebiet wurde sie 1920 in den Ladies’ Alpine Club aufgenommen und gehörte 1921 zu den Gründungsmitgliedern des Pinnacle Club. Im selben Jahr beschloss sie, sich im «alpinism sans hommes», wie sie ihn nannte, zu versuchen, und überschritt mit ihren Freundinnen Lilian Bray und Annie Wells den Egginer- und Portjengrat oberhalb von Saas-Fee. Danach beging sie, nun allerdings mit Führer, den Zmuttgrat am Matterhorn und lernte bei weiteren Touren ihren späteren Mann Ivor Armstrong Richards kennen, mit dem sie jahrzehntelang intensiv kletterte, auch in anderen Gebirgen der Welt. Die bedeutendste Erstbegehung der beiden war 1928 der Nordgrat der Dent Blanche mit den Führern Joseph und Antoine Georges. Im Anschluss schrieb Dorothy: «After the Dent Blanche a coma fell upon us. Everything else seemed somewhat of an anti-climax.»


Frauenseilschaft zu dritt: Alice Damesme (links) und Nea Morin balancieren auf dem schmalen Grat der Aiguille de Blaitière oberhalb von Chamonix, während Micheline Morin vorausklettert und fotografiert.

(aus: Micheline Morin : Encordées. Éditions Victor Attinger, Neuchâtel 1937)


Kletterte großartige Routen und auch Erstbegehungen als Seilerste und starb viel zu früh an einer Krankheit: die Slowenin Mira Marko Debelakova.

(aus: Felicitas von Reznicek: Von der Krinoline zum sechsten Grad. Verlag das Bergland-Buch, Salzburg/Stuttgart 1967)

Obwohl sie im renommierten britischen «Alpine Journal» publizierte, sind die Leistungen von Mira Marko Debelakova (1904–1948) aus Sarajevo vergessen, wie überhaupt die Unternehmungen osteuropäischer Frauen im Westen selten zur Kenntnis genommen wurden – in der Hohen Tatra beispielsweise kletterten die Polinnen Helena Dłuska (1892–1922) und Irena Pawlewska (1892–1982) bereits 1908 führerlos. Mira gelang 1926 die erste Durchsteigung der Nordwand des Špik in den Julischen Alpen, an der im Jahr zuvor Angelo Dibona gescheitert war. Die 950 Meter hohe Wand im Grad V+ kletterte sie, gesichert von Stanko Tominšek, vollständig als Seilerste, eine Herausforderung, die vor ihr noch keine Frau angenommen hatte. Sie unternahm Alleingänge, durchstieg die Triglav-Nordwand im Winter, beging Kanjavec-Nordwand und Mangart-Nordkante sowie zahlreiche Dolomitenrouten und reiste 1937 nach Schottland, wo ihr die Erstbegehung der Nordwand des Ben Nevis glückte. Ähnlich selbstbewusst stieg Anfang der Dreißigerjahre die 22-jährige Rita Graffer aus dem Trentino in die «Preußwand» am Campanile Basso ein und führte ihren sechs Jahre jüngeren Bruder Paolo eigenständig durch die heute mit V bewertete Route.

EN CORDÉE FÉMININE

Auch wenn es schon vor ihnen Kletterinnen gab, die ab und zu unter sich blieben, gelten in der Alpingeschichte die Amerikanerin Miriam O’Brien (1898–1976) und die Französin Alice Damesme (1894–1974) seit ihrer aufsehenerregenden Besteigung des Grépon 1929 als die erste bedeutende Frauenseilschaft. Zu ihnen gesellten sich regelmäßig Micheline Morin (1900–1972), ebenfalls aus Frankreich, und Nea Morin (1906–1986), geborene Barnard aus England, die mit Michelines Bruder verheiratet war. Miriam gab die Devise aus, dass jemand, der nur nachsteige, das Bergsteigen womöglich nie richtig lerne und nur einen Teil der «vielfältigen Kletterfreuden» genießen könne. «Wer als Seilerster klettert, hat noch mehr Vergnügen, weil er die technischen, taktischen und strategischen Probleme, die sich ihm stellen, unmittelbar lösen muss. Und da er gewöhnlich auch die Verantwortung für die Seilschaft trägt, erzielt er für sich auch die größere Befriedigung, denn das Bergsteigen ist eine Sportart, die eine beträchtliche intellektuelle Komponente hat.» Da kaum ein Mann bereit war, eine Frau vorsteigen zu lassen, zog Miriam daraus die Konsequenz, nicht nur «guideless», sondern «manless» zu klettern.


Die berühmteste Frauenseilschaft der Dreißigerjahre – an der Spitze Alice Damesme, dann Nea und Micheline Morin – steigt in sommerlicher Kleidung zum Refuge du Promontoire an der Meije auf.

(aus: Micheline Morin : Encordées. Éditions Victor Attinger, Neuchâtel 1937)


Dorothy Pilley klettert nicht nur selbstbewusst, sie tritt auch so auf.

(aus: Bill Birkett/Bill Peascod: Women Climbing. 200 Years of Achievement. A & C Black, London 1989)

Nach dem Grépon bestieg sie unter anderem 1932 das Matterhorn, wiederum als erste Frauenseilschaft mit Alice. Im selben Jahr heiratete sie Robert Underhill, der für die folgenden neunzehn Jahre ihr ausschließlicher Seilpartner wurde: «Manless climbing is fun for a while, but this other arrangement is better!» Micheline, Nea und Alice setzten ihre Besteigungen als «cordée féminine» fort. 1933 überschritten sie die Meije, wofür Alice und Nea zuerst ihre Männer um Erlaubnis fragen mussten. 1936 wurden alle vier in den exklusiven GHM aufgenommen.

Der größte Paukenschlag in Sachen Frauenbergsteigen blieb jedoch die erste Überschreitung des Grépon, die 1929 Miriam und Alice gelungen war. Der französische Alpinist Etienne Bruhl kommentierte sie mit gehässigen Worten: «Der Grépon als Klettertour existiert nicht mehr. Nachdem er von zwei Frauen allein begangen wurde, wird sich kein Mann mehr, der diese Bezeichnung verdient, an ihn heranwagen. Das ist schade, denn es war eine sehr schöne Route.» Auch aus anderen Richtungen blies den Frauen Gegenwind ins Gesicht. So wurde ihnen vorgeworfen, über ihren sportlichen Ehrgeiz die hehren Motive des Bergsteigens zu vergessen. Der Schweizer Alpinist und Schriftsteller Hans Morgenthaler beschwerte sich zu Beginn der Zwanzigerjahre über mangelnde Ehrfurcht: «Überlaufen waren jetzt die Berge von Leuten, die von der alten Heiligkeit nichts wussten, schwatzende Gesellschaften verschwitzter, zum Radiokonzert schmatzender Weibsbilder machten sich jetzt in den vergrösserten Klubhütten breit, wo früher ernste Männer im Widerschein der Abendsonne nach harter Tour, Gebete im Herzen, andächtig ihr Pfeifchen rauchten.» Und selbst vor Kritik aus den eigenen Reihen waren autonome Bergsteigerinnen nicht sicher. Als sich die junge Eileen Montague Jackson im August 1925 in Zermatt aufhielt, um das Matterhorn zu besteigen, erlebte sie mit, wie das halbe Dorf zusammenkam, um der in einer Lawine ums Leben gekommenen Eleonore Noll-Hasenclever die letzte Ehre zu erweisen. Sie fand den Tod der «deutschen Dame» zwar sehr traurig, «aber vielleicht wäre es nicht passiert, wenn sie einen Führer gehabt hätten, der ihnen die Querung nicht erlaubt hätte; sie sind mit den Touristen immer so ausnehmend vorsichtig in diesen Dingen».


Drei glückliche Frauen: Micheline und Nea Morin mit Alice Damesme (von links) nach der Überschreitung der Meije. Alice und Miriam O’Brien (unten) erschütterten 1929 mit ihrer Besteigung des Grépon die bergsteigende Männerwelt.

(aus: Bill Birkett/Bill Peascod: Women Climbing. 200 Years of Achievement. A & C Black, London 1989)


(aus: Miriam Underhill: Give Me the Hills. Methuan, London 1956)

Mit Führer oder führerlos, diese Diskussion nahm ein gutes Vierteljahrhundert später eine andere Wendung, als 1958 mit der Britin Gwen Moffat (geb. 1924) die erste Bergführerin ihr Patent erhielt – offensichtlich waren Frauen tatsächlich dazu fähig, ihresgleichen und sogar Männer zu führen. Nochmals zehn Jahre später gründete Felicitas von Reznicek (1903–1997) auf dem Gipfel des Titlis mit dem Rendezvous Hautes Montagnes (RHM) eine internationale Vereinigung von Bergsteigerinnen. Über politische und ideologische Grenzen hinweg kommen seither jedes Jahr Teilnehmerinnen aus ganz Europa zusammen, um gemeinsam zu klettern – ein Impuls für den Frauenalpinismus, der bis heute lebendig ist. kst

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