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WARUM NICHT AUF DEN Everest? Die US-Amerikanerin Meta Brevoort stieg als eine der ersten Frauen auf hohe Alpengipfel – und träumte von noch Höherem
ОглавлениеEs ist der 2. Oktober 1865, ein Montag, als Meta Brevoort den Gipfel des Montblanc erreicht. Mit ihr Frau Denise Sylvain-Couttet, zwei Führer und zwei Träger. Sie stehen im Sonnenschein unter einem tiefblauen Himmel, doch es ist bitterkalt. Dennoch nehmen sie sich Zeit für die Gipfelrast. Als Erstes lassen sie den Korken einer Champagnerflasche knallen. Danach setzen sie Metas Vorschlag um: Sie tanzen eine Quadrille und singen die Marseillaise. Diese Hymne der Republik galt damals in Frankreich – es war die Zeit des zweiten Kaiserreichs – als Affront gegen den regierenden Napoleon III. Umso mehr dürfte sich die US-Amerikanerin Meta, eine überzeugte Republikanerin, amüsiert haben, das Lied auf dem höchsten Gipfel der Alpen zu schmettern.
Die Tour auf den Montblanc ist eine der ersten alpinen Taten Metas. Kurz zuvor ist sie mit ihrem Neffen William Coolidge, einem rundlichen Jungen, in die Schweiz gereist. Dies, nachdem ein Pariser Arzt dem kränklichen William zur Kur etwas Bergluft empfohlen hat. Tante Meta setzte den ärztlichen Ratschlag um: Zunächst steigt sie mit ihrem Neffen im Berner Oberland auf den 2362 Meter hohen Niesen, dann reisen die beiden nach Zermatt und besteigen die 3803 Meter hohe Cima di Jazzi. Für den Montblanc ist der Junge zu schwach, doch die Berge werden ihn nicht mehr loslassen. William Augustus Brevoort Coolidge sollte in den folgenden Jahrzehnten einer der wichtigsten Bergsteiger seiner Zeit werden.
Nach diesem Sommer entschied Meta, sich mit ihrem Neffen in Europa niederzulassen. Sie kennt den Alten Kontinent bestens: Als junge Frau hat sie die Schule des Couvent Sacré-Cœur in Paris besucht, und mit ihren Eltern ist sie im Sommer oft durch die Schweiz gereist. Vielleicht war es auch ihre Familie, die ihr eine gewisse Abenteuerlust mit auf den Weg gegeben hatte: Ihre Mutter besaß ein Bergpanorama der Berner Alpen mit der Bestätigung, im August 1835 von Grindelwald auf das Faulhorn gestiegen zu sein, und in der kanadischen Arktis liegt bis heute die unbewohnte Brevoort Island, benannt nach Metas Onkel, einem Geografen und Historiker.
Den ersten Winter in Europa verbringen Meta und William in Florenz. In dieser Zeit lesen sie «Peaks, Passes, and Glaciers», die Vorgängerpublikation des britischen «Alpine Journal» – und es ist um sie geschehen. Sie wollen ihr Leben künftig den Bergen widmen. In den zwei folgenden Bergsommern sind sie noch zurückhaltend: Zu ihrem Tourenprogramm gehören Routen wie die Haute Route von Chamonix nach Zermatt oder der 3234 Meter hohe Beichgrat in den Walliser Alpen. Doch dann gibt es kein Halten mehr. In den Sommern 1868 und 1869 reiht Meta ein alpines Glanzlicht ans nächste: Sie steigt als erste Frau auf die Grandes Jorasses, unternimmt Erstbegehungen der hochalpinen Pässe des Col du Moine und des Col de la Bérangère, steigt auf den 4314 Meter hohen Grand Combin und den 4634 Meter hohen Monte Rosa. Zudem versucht sie von der italienischen Seite her als erste Frau auf das Matterhorn zu klettern. Und dies nur vier Jahre nach Edward Whympers tragischer Erstbesteigung des Gipfels. Meta macht keine halben Sachen. Sie hat eine «unglaubliche Vitalität und die große Gabe, alles mit Freude zu tun», schreibt Chronistin Cicely Williams über die Amerikanerin.
Mit von der Partie ist nebst Neffe William meist der Grindelwaldner Bergführer Christian Almer, der dafür verantwortlich ist, dass die Seilschaft ein weiteres Mitglied erhält: den Hund Tschingel. Denn er ist es, der nach einem Misserfolg am Eiger mit dem untröstlichen William Mitleid hat und ihn fragt, ob er sich über einen Hund freuen würde. Als dieser begeistert ist, schenkt Christian Almer ihm tags darauf die dreijährige Hündin Tschingel, einen braunroten Mischling mit kurzem Haar und weißen Pfoten, der bereits als Welpe vom Lötschental über den vergletscherten Tschingelpass ins Berner Oberland gewandert ist. Almer selbst würde fortan Tschingels Sohn Bello als Wachhund haben.
(aus: Ronald W. Clark: An Eccentric in the Alps. Museum Press, London 1959)
Ein starkes Team: Meta Brevoort mit ihrem Neffen William Coolidge, den Führern Christian Almer (ganz links) und Ulrich Almer (ganz rechts) sowie der Hündin Tschingel, die mit einem eigenem Porträt geehrt wurde (Bild links).
(aus: Ronald W. Clark: An Eccentric in the Alps. Museum Press, London 1959)
William ist entzückt von der Hündin, die mit auf Berge steigt. Er lässt eigens für sie Lederstiefelchen nähen, die Tschingel aber verschmäht, und fertigt für jeden Gipfel der Vierbeinerin ein silbernes Medaillon, das er an ihr Sonntagshalsband hängt. Bald wird Metas Neffe in Alpinistenkreisen bekannt als «the young American who climbs with his aunt and his dog» – der junge Amerikaner, der mit seiner Tante und seinem Hund klettert. Und Tschingel sollte zum bekanntesten Hund der Alpingeschichte werden: Im Lauf ihres Hundelebens unternimmt sie mehrere Hundert Wanderungen und mehr als dreißig große Bergtouren, darunter elf Erstbesteigungen. Sie wird sogar Ehrenmitglied – und damit das einzige weibliche Mitglied – des britischen Alpine Club. Aufgenommen per Akklamation, als Vertreter des Clubs sie auf der Riffelalp antreffen, nachdem sie mit Herrchen und Tante auf dem Monte Rosa gestanden hat.
Ist die Seilschaft Brevoort/Coolidge mit ganzem Anhang in abgelegenen Bergdörfern unterwegs, gibt der Trupp ein seltsames Bild ab: Eine schlanke, große Dame in langem Rock, einen langen Alpenstock in der Hand, ein rundlicher Amerikaner, blass und mit Brille, ein Hund, ein paar bärtige Bergführer und einige mit Seil und Pickeln bepackte Träger. Manche Einheimische halten sie für Goldgräber, andere für Landstreicher. Einmal, im Dorf Vallouise in der Dauphiné, befürchtet ein Gastwirt, sie wären Zauberer, und gewährt ihnen vorsichtshalber keinen Einlass. Coolidge schreibt später dazu: «Man hielt mich schon oft für einen Vagabunden, Arbeiter, Brillenverkäufer, Spion oder Minenarbeiter. Doch dies ist das erste Mal, dass man mich für einen Magier hält!» Obwohl sie in der Dauphiné nicht immer mit offenen Armen empfangen werden, kehren Tante und Neffe immer wieder in dieses Gebiet der französischen Alpen zurück. Besonders die 3983 Meter hohe Meije mit ihren steilen Felsgipfeln lässt Meta nicht mehr los. Den höchsten Punkt dieses Massivs will sie besteigen – nicht als erste Frau, sondern als erster Mensch.
Es ist Ende Juni 1870, als Meta die Erstbesteigung des anspruchsvollen Gipfels in die Tat umsetzen möchte. Zusammen mit William, Vater und Sohn Almer sowie einem weiteren Führer ist die Seilschaft unterwegs. Sie geben alles und mehr: Metas Fersen schmerzen, Vater Almer wird schneeblind, und alle haben sie üble Sonnenbrände. Doch sie schaffen es auf den Gipfel. Allerdings: auf den falschen. Als sie um 12.10 Uhr auf dem sogenannten Pic Central stehen, blicken sie hinüber zum Grand Pic. «Stellen Sie sich den Horror vor, als wir merkten, dass der Gipfel zu unserer Rechten ungefähr gleich hoch ist wie unserer. Christian schätzte, er wäre um die sechs Meter höher», schreibt William. Vater Almer hatte recht: Der Grand Pic ist zehn Meter höher als der Pic Central, auf dem die Erstbesteiger dennoch einen Steinmann errichten, bevor sie absteigen.
Nach diesem Erlebnis lässt der Berg Meta erst recht nicht mehr los. Jahrelang bleibt es ihr Wunsch, auf den Hauptgipfel zu steigen. Als William Jahre später ohne seine Tante in die Dauphiné reist, schreibt sie ihm: «Lieber Will, richte all den lieben, alten Freunden, die du sehen wirst, liebe Grüße von mir aus. Ganz besonders dieser prächtigen Meije und bitte sie, sich für mich aufzuheben.» Ihr Traum bleibt unerfüllt: Im Jahr 1877, acht Monate nach Metas Tod, stehen der Franzose Emmanuel Boileau de Castelnau und die Führer Vater und Sohn Pierre Gaspard auf dem Grand Pic.
Und noch ein Wunsch bleibt Meta verwehrt: jener, die erste Frau auf dem Matterhorn zu sein. Zwar scheinen ihre Sterne gut zu stehen, als sie ein Jahr nach der Meije erneut plant, auf diesen Berg zu steigen. Doch als sie Ende Juli in Zermatt ankommt, ist ihr Traum geplatzt. Die Engländerin Lucy Walker ist ihr zuvorgekommen. Unmittelbar vor Metas Ankunft in Zermatt, am 21. oder 22. Juli – die Quellenlage ist unsicher –, hat die junge Britin als erste Dame den Gipfel des Matterhorns erreicht. Meta ist enttäuscht, lässt sich aber nicht unterkriegen. Am 5. September traversiert sie als erste Frau das Horn von Zermatt ins italienische Breuil, und in den folgenden zwei Wochen steht sie als erste Frau auf dem 4506 Meter hohen Weißhorn und der 4357 Meter hohen Dent Blanche sowie auf der wuchtigen Felspyramide des Bietschhorns.
Über ihre Tour auf das Bietschhorn schreibt sie einen Text, den sie unter dem Namen von Coolidge – eine Publikation als Frau ist zu ihrer Zeit undenkbar – im britischen «Alpine Journal» veröffentlicht. Ein Text voller Anekdoten und Geschichten, in dem sie beschreibt, wie sie auf einem Pferd ins Lötschental reitet und spät abends «halb verhungert» ankommt. Wie der Gastwirt dort «ein ganzes Eichhörnchen» serviert und sie einen lieben Hund treffen, der ganz wie Tschingel aussah, «außer dass er viel dümmer war». Und auch den Aufstieg erzählt sie in all seinen Facetten. Schreibt von alten Nadelwäldern, durch deren Geäst die Sonnenstrahlen fließen, und vom eisigen Wind im Gipfelaufstieg, der ihnen «gnadenlos in die Nase, Ohren und Finger beißt».
Auf dem Gipfel angelangt, ist sie tief beeindruckt davon, was sie zwischen Wolkenfetzen sieht: «Überall Felszacken, zerborsten in alle möglichen Formen, mal ineinander gestapelt, mal nebeneinander geworfen in einem fantastischen Durcheinander.» Doch damit nicht genug. «Die Sonne schimmerte grell durch den Nebel, wie ein glimmender Feuerball. Dann, auf einmal entdeckten wir einen runden Regenbogen vor uns, in dessen Mitte wir selbst projiziert waren. Es schien nicht von dieser Welt zu sein, als wir die gigantischen Schattenfiguren sich genau so bewegen sahen, wie wir uns bewegten.» Meta hatte ein Brockengespenst gesehen, einen optischen Effekt im Nebel.
Dank Metas Text wissen wir auch, dass danach keine Zeit mehr bleibt, die hochalpine Umgebung zu betrachten. Im Abstieg holt das schlechte Wetter die Seilschaft ein. Nachdem sie den Grat abgeklettert sind, stapfen sie in Sturm und Schnee über den Nestgletscher. Frei von Heldenpathos schildert die Alpinistin diesen Moment und betont, wie sie einzig dank der Almers am Rand des Gletschers eine Felsgrotte finden. In dieser übernachten sie. Ohne Decken und ohne Proviant, dafür mit Christian Almer, der die ganze Nacht lang jodelt, damit keiner im Schlaf zu erfrieren droht.
Sie muss zäh gewesen sein, diese frühe Pionierin der Alpen. Je mehr Erfahrung sie hat, desto anstrengendere Touren unternimmt sie. So gehört sie drei Jahre nach ihrer Bietschhorn-Besteigung zu jener Garde, die den Winteralpinismus vorantreibt. Eine Spielart des Bergsport, die damals neu war und als besonders verwegen galt. Meta steigt als erster Mensch im Winter auf das Wetterhorn bei Grindelwald und eine Woche später auf die Jungfrau. Als sie im Sommer 1876 auf der Belalp weilt und Williams kränkliche Schwester Lil pflegt, beginnt Meta gar vom Everest zu träumen. Dies dank eines Ehepaars namens Walker, das im selben Hotel weilt, in Indien lebt und ihr eine Menge vom höchsten Berg der Erde erzählt.
Für Meta ist der Everest kein Hirngespinst, sie erwägt tatsächlich eine Expedition in den Himalaja. Von den Walkers will sie jedes Detail zum Berg erfahren und schreibt ihrem Neffen in einem Brief: «Mr. Walker meinte, die Geographical Society würde uns unterstützen, falls wir einen Versuch am Everest unternehmen.» Sie ist mit dieser Idee ihrer Zeit weit voraus. Es sollte 46 Jahre dauern, bis die Briten 1922 eine erste erfolglose Everest-Expedition unternehmen, und 77 Jahre, bis Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay 1953 schließlich auf dem Dach der Welt stehen – ob die Briten George Mallory und Andrew Irvine 1924 vor ihrem Tod den Gipfel erreichten, bleibt bis heute offen. Doch im Dezember 1876 aber finden alle Pläne Metas ein Ende. In ihrem Haus im englischen Dorking erkrankt sie an akutem rheumatischem Fieber, infolge einer Streptokokkeninfektion. Die Entzündung greift ihr Herz an, und fünf Tage später stirbt sie. Hündin Tschingel wird sie um drei Jahre überleben, bevor auch sie – alt, mit grauer Schnauze und blind – vor dem Küchenfeuer für immer entschläft. William wird die beiden Seilgefährtinnen zeit seines Lebens vermissen, das Erbe seiner Tante aber jahrzehntelang fortführen. Als einer der wichtigsten Bergsteiger der viktorianischen Zeit wird er in die Geschichte des Alpinismus eingehen, bevor er als alter Mann, kauzig und stur, im Jahr 1926 die Welt verlässt. fin
(aus: Les Femmes Alpinistes, Annuaire du CAF, Paris 1899)
Margaret Claudia Brevoort, Meta genannt, wurde am 4. November 1825 in New York als fünftes von acht Kindern und drittes Mädchen geboren. Ihre Vorfahren waren um 1630 aus der holländischen Stadt Bredevoort nach New Amsterdam, später New York, ausgewandert. Dort kam die Familie dank Landbesitz in der Stadt zu einem Vermögen.
Meta wuchs an der Fifth Avenue Nr. 21 auf. In ihrem familiären Umfeld fanden sich mehrere namhafte Persönlichkeiten. So war etwa ihr Vater Henry Brevoort eng mit dem Buchautor Washington Irving befreundet; ihr Bruder James Carson Brevoort präsidierte die Long Island Historical Society und führte die Astor Library in New York; eine Nichte heiratete den Schriftsteller Charles Astor Bristed, einen Nachkommen der schwerreichen Handelsfamilie Astor.
Meta selbst erhielt als junge Frau eine ausgezeichnete Ausbildung in Paris und verbrachte in diesem Rahmen mehrere Jahre in Europa. Nach dem Tod ihrer Mutter 1845 und ihres Vaters 1848 kehrte sie nach New York zurück und zog ins Haus ihrer Schwester, verheiratete Coolidge, die unter einer schwachen Gesundheit litt. Deshalb kümmerte sich Meta von dessen Geburt an oft um den Sohn der Schwester, William Augustus Brevoort Coolidge. Daneben arbeitete sie in einem Spital New Yorks innerhalb einer protestantischen Gemeinde.
Wieder zurück in Europa, unternahm sie gemeinsam mit dem jungen William größere Touren und startete ihre Karriere als Alpinistin. Unter anderem stand sie 1869 als erste Frau auf der Grandes Jorasses (4208 m), 1871 auf der Dent Blanche (4357 m), dem Weißhorn (4506 m) und dem Bietschhorn (3934 m) und traversierte als erste Frau das Matterhorn (4478 m), einige Wochen nachdem Lucy Walker ihr die erste Frauenbegehung des Matterhorns weggeschnappt hatte. Im Jahr 1870 gelang ihr die Erstbesteigung des Pic Central der Meije (3973 m) sowie 1874 die Winter-Erstbesteigung des Wetterhorns (3692 m) und der Jungfrau (4158 m). Nach kurzer Krankheit starb sie am 19. Dezember 1876 im englischen Dorking.