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Reisevorbereitungen

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Ticke erwachte, weil die klamme Kälte des Morgens unter ihre Decke kriechen wollte. Sie wickelte sich fester ein, aber es half nichts, denn Sedna hustete und rumorte neben ihr. Mehr als ein Auge konnte Ticke noch nicht öffnen und durch dieses sah sie, wie die Morre frisches Holz nachlegte. Dabei sang sie leise das Morgenlied und Ticke fragte sich, ob die Alte überhaupt geschlafen hatte. Sie wirkte jedenfalls frisch und tatkräftig wie immer, die kalte, graue Morgendämmerung schien ihr nichts anhaben zu können. Ticke hatte keinen Laut von sich gegeben, aber Sedna sagte:

„Jetzt ist es Zeit, Golk. Jetzt kannst du allmählich aufbrechen.“

Aufbrechen? Ticke wurde nach und nach wieder bewusst, was in der Nacht geschehen war, und sie hatte überhaupt keine Lust, aufzubrechen. Brrrrr, nein, sie wollte alles andere lieber als das. Aber sie schwieg, denn sie wusste, dass jedes Wort in diese Richtung sinnlos sein würde. So wenig sie sich an diesem feuchten Morgen nach einem Abenteuer fühlte, so sicher wusste sie auch, dass sie Ari nun einmal suchen musste. Nicht wegen Sedna, nicht einmal, weil das Band mit der Spinne es ihr unmöglich machen würde, zum Baum zurückzukehren – was das anbelangte, so konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen, dass das Band wirklich so viel ausmachen würde; wie sollten die Anderen denn davon erfahren, außer vielleicht durch Sedna selbst? Oder hatte Sed ihnen davon erzählt? Aber wusste der überhaupt davon, er war ja schon fort gewesen, als sie aufgewacht war? Es konnte also gut sein, dass er nichts davon ahnte. Dennoch würde sie Ari suchen.

Die Morre bestand darauf, dass Ticke heißen Tee trank und noch einige Fladenbrote aß. Währenddessen betrachtete sie das Mädchen. Als Ticke so weit war, begann sie: „Der Ort, an dem sich Ari befindet, liegt hinter den Sümpfen, dort, wo die Großen leben.“

Ticke zuckte zusammen. „Die Großen!“

„Ja, Räupchen, die Großen. Ari ist dort. Einer von ihnen hat sie in seine Gewalt gebracht und sie hat keine Möglichkeit zu fliehen.“

Die Großen? Ticke wusste nicht viel von den Großen, nur, dass sie gefährlich waren, bösartig und zerstörerisch. Hin und wieder hatte sie vom Baum aus einen oder zwei von ihnen gesehen. Vom Baum aus konnte man sie richtig erkennen, ihre ganze Größe. Sie waren den Schmetterlingsleuten nicht unähnlich, aber gerade das wirkte so scheußlich, sich selbst zum Monster verzerrt zu sehen ist besonders schrecklich, das hatte Sed einmal gesagt.

Die Großen kannten keine Gefühle, sie zertrampelten einfach alles unter ihren riesigen Füßen; Füßen, die in Schuhen steckten, in die ein ganzer Klan hätte einziehen können, mit Schmettern und Eiern und allem. Unter ihren Schuhsohlen starben Käfer und Ameisen, Grashalme und Blumen lagen zerdrückt am Boden und wenn sie näher kamen, bebte die Erde. Was allerdings nicht nur schlecht war, denn jeder, der seinen Verstand beisammen hatte, war so gewarnt und hatte genug Zeit, sich davonzumachen. So waren die Großen keine wirkliche Gefahr. Deshalb waren sie aber nicht weniger schrecklich.

„Wie kann Ari dort sein?“, fragte sie die Morre laut.

Die Alte zuckte mit den Schultern. „Sie ist es eben.“

„Und wie soll ich sie finden?“

„Die Spinne kann dir helfen.“

„Wie denn?“

Die Morre hatte nach und nach alles zu einem großen Bündel zusammengepackt, das sie Ticke jetzt in die Hand drückte. In ihrem schlurfenden Gang humpelte sie einfach los; Ticke folgte ihr zögernd. „Wie denn?“, fragte sie noch mal.

Sedna antwortete nicht; sie schien Ticke gar nicht gehört zu haben und trotz ihrer sonderbaren Gangart musste Ticke sich anstrengen, um nicht zurückzufallen. Sedna sprach kein weiteres Wort, bis sie Platte verlassen hatten und über die dünnen Zweige der Birkenschösslinge zurück auf den Erdboden geklettert waren. Ticke hatte dabei das Bündel nicht gut genug gesichert, es war ihr aus dem Arm gerutscht und auf dem Boden aufgeprallt. Die Morre schien darüber ziemlich ärgerlich, was Ticke auch verstand, denn ihr kleiner Kessel, aus dem sie am Abend das Gebräu und später die Suppe getrunken hatte, war auch in dem Bündel gewesen. Glücklicherweise war der Boden um Platte weich und der Kessel so gut gefertigt, dass ihm nichts fehlte, aber das Missgeschick schien Sedna die Laune verhagelt zu haben und erst als sie schon ganz in der Nähe des Erlenhaines angekommen waren, sprach sie wieder mit Ticke.

„Du weißt nicht viel über Spinnen, schätz ich mal, wirst sicher noch viel lernen, mehr als dir lieb sein wird, vielleicht. Aber ein bisschen was kannst du auch von mir hören. Ich denk, du weißt, Spinnen schlüpfen aus Eiern, aus Spinneneiern, viele hundert kleine Spinnen. Einen ganzen Sommer lang bleiben sie zusammen, wachsen und werden stärker. Schließlich trennen sie sich, und jede macht sich auf und davon in die Welt. Wenn sie klein sind, reisen sie oft weit weg von dem Ort, wo sie aus dem Ei gekrochen sind … schwingen sich von Faden zu Faden und reisen mit dem Wind, wie die Schmetter. Spinnen gibt’s überall, wo es Mücken gibt und andere Tiere, die sie fangen können. Spinnen leben auch oft in der Nähe der Großen, sogar mit ihnen in ihren Hütten, habe ich gehört, obwohl ich noch in keiner war, ums zu bezeugen. Deine Spinne kann dir helfen.“

Ticke nickte. Wenn die Spinnen tatsächlich gut mit den Großen konnten, konnte das Untier ihr vielleicht wirklich eine Hilfe sein. Vorausgesetzt, es wollte das. Da hatte Ticke allerdings wenig Hoffnung. Schließlich hatte sie direkt gespürt, was die Spinne ihr gegenüber fühlte. Sedna machte sich da anscheinend falsche Vorstellungen.

„Sedna“, sagte Ticke, „Sedna, die Spinne wird mir aber nicht helfen wollen … sie, sie hasst mich.“

Die Alte blieb stehen und sah Ticke in die Augen. „Räupchen, Räupchen … hast anscheinend keine Ahnung, was es mit dem Band auf sich hat. Ist auch nicht so einfach, mächtig kompliziert eigentlich. Aber für dich reichts, dass sie machen muss, was du von ihr willst … mehr oder weniger jedenfalls, sie kann nicht anders.“

Damit hatte Sedna anscheinend alles gesagt, denn sie stapfte einfach weiter und Ticke folgte ihr, wenn auch von Ängsten und Zweifeln geplagt. Gestern Nacht war ihr klargeworden, dass sie alles tun würde, um Ari zu retten, wie aussichtslos es auch sein sollte. Nach all den schrecklichen und erschütternden Erlebnissen gestern wäre sie auf der Stelle losgegangen, keine Angst hätte sie davon abhalten können.

Aber jetzt, im Morgengrauen des neuen Tages, sah die Sache schon ganz anders aus. Mit Schrecken fühlte sie, dass sie noch immer Ticke war, das ängstlichste Golk des Baumes, und eine Angst nach der anderen tauchte plötzlich in ihrem Geiste auf. Sie musste zu den Großen, gut.

Aber wo waren die? Wie sollte sie dort hinkommen? Was sollte sie essen? Und sollte sie es wider Erwarten schaffen, diese ganz alltäglichen Schwierigkeiten in den Griff zu kriegen, dann gab es da noch die anderen, etwa die Großen, über die man sich furchtbare Geschichten erzählte, wie sie Bäume umwarfen und Flüsse zum Versiegen brachten. Wie sollte sie bei so mächtigen und gewalttätigen Wesen auch nur eine Stunde überleben? Wie würde sie sich fühlen, ohne jemand mit dem sie reden konnte, die lange Reise über bis zum bitteren Ende, niemanden außer einer feindseligen Kreuzspinne, die auch fünf Tickes hätte tragen können. Oder fressen.

Ohne es zu merken, waren sie stehengeblieben. Sie waren jetzt bei den Erlen angekommen. Dahinter begann der Sumpf, über dem undurchdringlicher Morgennebel hing. So dicht war er, dass es fast den Eindruck erweckte, als ende die Welt eben hier hinter der Böschung und danach gab es nur ein graues Nichts. Ticke schauderte.

Sedna deutete auf den Nebel. „Dahinter leben sie, die Großen. Du musst nur durchkommen.“

„Ist das nicht schrecklich gefährlich?“

„Na ja, ’s gibt allerlei, was gefährlich ist im Leben, aber ja, der Sumpf hat seine besonderen Tücken. Kann übrigens sein, dass du auf Leute triffst. Lass dich besser nicht auf Gespräche ein, nur so’n Rat.“

„Leute, was für Leute?!“, fragte Ticke erschrocken.

„Na Leute, Leute, so wie wir, na ja, so ähnlich auf jeden Fall.“

„Schmetterlingsleute leben im Sumpf?!“ Ticke schöpfte ein bisschen Hoffnung. Nicht, dass sie so besonders gerne Fremde kennenlernte, aber Schmetterlingsleute würden ein bisschen was von zu Hause bedeuten, sicher eine warme Suppe, ein Lager.

Doch Sedna räumte mit ihren Hoffnungen schnell und gründlich auf. „Nee, nee. Sind anderes, ganz andere. Red am besten nicht mit denen. Kann aber auch sein, dass du keinen triffst, ’s is lange Zeit her, seit ich von denen gehört habe, selbst für mich eine drummlich lange Zeit.“

Ticke fragte lieber nicht weiter, jedes Wort von Sedna schien die Sache noch schlimmer zu machen. Sie hatte nie verstanden, warum man sagte, eine bekannte Gefahr sei besser als eine unbekannte.

„So, Räupchen, es ist an der Zeit, dass ich geh. Hab keine Lust, dem achtbeinigen, schlechtgelaunten Ungeheuer zu begegnen. Kann sein, dass sie mich erwischt, bevor du auch nur Pieps sagen kannst. Hier hab ich dir was zu Essen.“ Sedna reichte Ticke den Rucksack, den diese vorher hatte fallen lassen und den Sedna wieder an sich genommen hatte. Den Kessel hielt sie in der Hand; er schien nicht Teil von Tickes Reiseproviant zu sein.

„Geh sparsam damit um, ’s is auch Wasser dabei. Trink nix aus den Sümpfen, aber das weißt du ja. Ach ja, und Räupchen, …“

„Ja?“

„Falls du einen triffst, kannst du ihn ruhig mitnehmen.“

„Einen? Wen denn? Wen treffe ich?“

„Ich sag nicht, dass du einen triffst, nur falls“ – Sednas dunkle Augen funkelten fröhlich – „nur falls, sag ich! So, Räupchen, Zeit zum Aufbrechen, denk dran, Angst is nix für Feiglinge!“

Sie kicherte und war so plötzlich verschwunden, dass Ticke sich die Augen rieb, um sicherzustellen, dass diese sie nicht betrogen hatten. Aber sie war allein.

Nichts war zu sehen außer die Bäume und Gräser, die grau und stumm noch zu schlafen schienen, nichts zu hören, kein Summen, kein Rascheln, alles wurde vom nahen Nebel aufgesogen.

„Sedna?“, fragte Ticke zögernd in diese Stille

„Sedna? Morre! Morre, komm wieder, ich weiß doch gar nicht …“

Aber die alte Morre blieb verschwunden und Ticke spürte, wie ihr die Ausmaße des Abenteuers, auf das sie sich da eingelassen hatte, allmählich die Luft abschnürten. Sie hatte den Drang, in Tränen auszubrechen, ihre Arme um ihre Schultern zu schlingen und zu weinen, bis Son auftauchte und sie rettete. Probeweise schluchzte sie auf, meistens der Beginn eines Dammbruches, aber zu ihrem Erstaunen wollte es nicht so recht klappen. Auch ein zweiter Schluchzer klang nicht sehr überzeugend.

Ticke wunderte sich. Aber irgendwo in ihr war immer noch das Gefühl des gestrigen Abends, das Gefühl, dass sie Ari suchen musste. Dass sie nicht länger zu Hause auf ihrem gemütlichen Lager um ihre Schwester weinen konnte. Sie würde das hier durchstehen müssen, da half auch kein Schluchzen. Und sollte Son wirklich auftauchen, um sie heim zu holen, dann musste sie ihm sagen, dass sie nicht mitkommen konnte.

Sie spürte diese Tatsache in sich wie einen kleinen festen Punkt, klein, aber unzerstörbar, einen Punkt, auf den sie sich verlassen konnte, und trotz der klammen Morgenkälte zitterte sie nicht länger. Sie machte einige Schritte auf die Erlenböschung zu, richtete ihre Gedanken auf die Spinne, formte ein inneres Bild von ihr, ihren hohen geknickten Beinen, versuchte sich ihren muffigen Gestank in Erinnerung zu rufen. Sie wartete, aber nichts geschah.

Vielleicht musste sie laut rufen: „Hej, Spinne! Komm her! Komm her zu mir!“ Sie wartete wieder, aber es blieb alles ruhig. Sie tat ein paar Schritte und tauchte in den Schatten der Erlen ein. Hier war sie gestern gestanden. Sie sah das riesige Netz vor sich, aber die Spinne war nirgends zu sehen.

Sie rief noch mal. Natürlich hatte sie nur wenig Lust, der Spinne wieder zu begegnen, aber ohne sie konnte sie die Reise nicht beginnen und sie wollte es endlich hinter sich bringen, bevor sie wieder anfing sich zu ängstigen. „Spinne!“, erstaunt hörte sie sich selbst ziemlich laut brüllen, „Spinne, komm sofort!“ Sie erinnerte sich an die komischen Klicklaute, die die Spinne bei ihren vorigen Begegnungen von sich gegeben hatte, und schnalzte mit der Zunge. Es geschah nichts weiter. Sie würde wohl suchen müssen. Sie seufzte.

Der Erlenhain war nicht besonders groß, aber was eine Suche schwierig machte, war der Morast, der den Boden bedeckte. Feuchte Erde und Laub vom letzen Herbst bildeten eine zähe, weiche Schicht. Leicht, wie Ticke war, sank sie nicht tief ein, trotzdem war es mühsam, vorwärts zu kommen. Äste, die vom Wind zu Boden geweht worden waren, versperrten ihr den Weg und immer wieder war sie gezwungen, von ihrem ursprünglichen Weg abzuweichen.

Sie traf einige Waldameisen, noch träge von der morgendlichen Kühle, aber von beträchtlicher Größe. Ameisen stellten keine Gefahr dar, solange man sie in Ruhe ließ und den Eindruck erweckte, dass man noch am Leben war, aber sie hielt sich doch lieber von ihren Straßen fern. Eine braune dicke Nacktschnecke frühstückte faulige Blätter. Von der Spinne keine Spur. Vielleicht hatte sie sich davongemacht. War in der Nacht noch so weit fort gegangen wie möglich, um Ticke und dem Band auszuweichen.

Und doch sagte ihr etwas, dass die Spinne noch in der Nähe war. Nicht in allernächster Nähe vielleicht, aber sie konnte sie spüren. Ticke war stehen geblieben. Die Spinne konnte überall sein und wenn sie nicht gefunden werden wollte, würde es Ticke schwerfallen, dagegen anzukommen. Jedenfalls solange sie nur mit den Augen suchte. „Du musst das Band benutzen!“, dachte sie. Unschlüssig sah sie sich um, aber der Erlenhain verriet ihr so wenig wie vorher. So setzte sie sich auf einen nicht ganz so feucht erscheinenden Zweig.

Sie schloss die Augen, um noch einmal im Geist nach dem Band zwischen ihr und ihrem ungeheuerlichen Reittier zu tasten. Das Band war da irgendwo in ihr, aber es kostete sie große Anstrengung, es zu spüren. Eigentlich wollte sie es gar nicht spüren. Resigniert öffnete sie die Augen wieder. Es lag sicher daran, dass sie das Band einfach nicht wollte. Genauso wenig wie die Spinne es wollte. Sie wollte einfach nichts mit diesem bösen achtbeinigen Wesen zu tun haben und sie fürchtete sich noch immer schrecklich vor ihr. Das war keine gute Voraussetzung. „Aber das hilft gar nichts, Ticke“, mahnte sie sich selbst, „du musst es machen.“

Erneut schloss sie die Augen. Sie musste sie fest zusammenkneifen, damit sie sich nicht sofort wieder öffneten. Wieder suchte sie nach einer Spur in ihrem Inneren, versuchte sich das Band vorzustellen. Durchsichtig, silbrig, zäh, wie der Faden einer Kreuzspinne, sie sah es vor sich, sie folgte ihm, spürte, wie sie näher kam, gleich würde sie die Spinne erreicht haben … Da! Erschrocken riss Ticke die Augen auf. Sie hatte die Spinne gefunden und im selben Moment ertönte ein wütender Schrei. Er kam aus der Richtung, wo auch die Spinne war.

Sie sprang auf und rannte los. Zwei weitere Schreie folgten. Aber sie wusste jetzt auch so, wo ihr Ziel war. Sie beschleunigte, sprang über einen dicken Ast, der ihr den Weg versperrte. Ein weiterer Schrei brach plötzlich ab. Ticke hätte nicht gedacht, dass sie noch schneller werden konnte. Wie ein Pfeil flog sie aus dem Schatten der Erlen hervor auf die Wiese hinaus. Es war Glück, dass die Spinne sich nicht auf der Sumpfseite der Erlenböschung befand, hier wäre Ticke niemals so schnell vorangekommen, aber auf dem festen Wiesenboden musste sie nur wenig Acht geben. So wenig, dass sie um ein Haar in die Spinne hineingerannt wäre.

Auch die Spinne hatte nicht aufgepasst, denn sie war in einen heftigen Kampf verwickelt, der sich gerade sehr zur ihren Gunsten gewendet hatte. Ihr Gegner lag vor ihr auf dem Boden, und sie hatte ihn gerade mit ihren beiden giftigen vorderen Klauen lahmgelegt, als diese verflixte zweibeinige, flügellose Mücke angesaust kam und dabei so laut brüllte.

„Aufhören!“, kreischte Ticke, die hässliche Mücke, „sofort aufhören, lass ihn in Ruhe, weg, hau ab, du … du …“ Dann ging ihr wohl die Puste aus, aber es hatte bereits genügt. Machtlos gegenüber diesen Befehlen, war die Spinne ein paar Schritte zurückgewichen, allerdings nicht ohne dabei wüste Beschimpfungen gegenüber Zweibeinern jeder Art und Größe auszustoßen. Ticke rang nach Luft. Vor ihr auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, lag eine vertraute Gestalt in einem hellen Hemd aus feinster Seide, gewebt von einer der besten Weberinnen der Schmetterlingsleute aus dem Garn der Seidenraupen. Sie kniete sich daneben und drehte ihn um. Es war Sed.

Seine Augen waren geschlossen, er war bleich und bewegte sich kein bisschen. Wütend zischte sie die Spinne an: „Hast du ihn getötet? Was hast du mit ihm gemacht?!“

Die Spinne klickte nur. Es klang beleidigt. Neben Sed lag ein langer Speer, mit dem er sich wohl verteidigt hatte. Am liebsten hätte Ticke diesen gepackt und ihrerseits die Spinne angegriffen. Was hatte Sed hier so früh gemacht?

„Sed!“, sagte sie laut. „Sed! Wach auf, Sed!“ Sie packte ihn an der Schulter und rüttelte daran, aber nichts geschah. „Wenn er tot ist …“ Sie rüttelte fester, während die Angst in ihr wuchs. „Was ist mit ihm?“, schrie sie die Spinne an. „Sag’s mir, sofort!“

Doch dann hörte sie ihn leise stöhnen und unendliche Erleichterung durchflutete sie. Er war also doch noch am Leben. Wahrscheinlich hatte er nur etwas Spinnengift abbekommen. Seine Lider flatterten, dann öffnete er die Augen und blickte Ticke so erstaunt an, dass diese beinahe gelacht hätte, so erleichtert war sie.

„Ich dachte schon, ’s wär aus mit dir!“, flüsterte sie.

„Aus? Wegen dieser fetten alten Staubfluse?“, krächzte er und versuchte zu grinsen, allerdings gehorchten ihm seine Gesichtszüge noch nicht völlig, alles, was er zustande brachte, war eine schiefe Grimasse. Mühsam richtete er sich auf, dann sah er die Spinne, die noch immer in einigem Abstand vor sich hin grollte. Erschrocken versuchte er sich ganz aufzurappeln und griff nach dem Speer, der noch immer neben ihm lag, aber Ticke hielt Sed fest.

„Keine Sorge“, sagte sie beruhigend, „die tut uns nix. Du kannst beruhigt sein, wirklich.“

Aber Sed ließ sich nicht so einfach beruhigen und nur die lähmenden Nachwirkungen des Giftes hielten ihn davon ab, die Spinne erneut anzugreifen oder zu fliehen. Ticke seufzte. Sie hatte gehofft, er hätte gestern Nacht auf Platte die ganze Sache mit dem Band mitbekommen, aber er war anscheinend ahnungslos. Das hieß, sie musste in den sauren Apfel beißen und ihm alles erzählen, obwohl sie es alles andere als gerne tat. So sehr sie die Spinne fürchtete, so sehr schämte sie sich auch für das Band, das zwischen ihr und dieser hinterhältigen Räuberin bestand. Sie hatte Sed angegriffen und verletzt, hatte die alte Morre gefangen und wer weiß, was sie mit ihr, Ticke, machen würde, wenn sie nur könnte. Und sie war jetzt verantwortlich für deren Taten.

Nachdem Sed vergeblich versucht hatte auf die Füße zu kommen, war er erschöpft zu Boden gesunken und rang nach Atem.

Ticke nahm seine Hand. „Sed“, sagte sie ernst, „Sed, hör zu, du brauchst dich nicht vor der Spinne zu fürchten, glaub mir. Gestern mit der Morre am Feuer, du weißt doch, sie wollte ein Band für mich knüpfen …“

Sed bewegte unwillig den Kopf hin und her. „Und?“

„Als ich wieder aufgewacht bin, warst du weg.“

„Die Morre hat gesagt, ich solle zum Baum zurück.“ Sed verschwieg, dass die Alte ihn weggeschickt hatte, weil er es nicht ertragen konnte, die Panik der Kleinen mitanzusehen. Er hatte sogar versucht, Ticke zu wecken und das Knüpfen des Bandes zu unterbrechen. Schließlich hatte die Morre ihn angewiesen, nach Hause zu gehen, und da Sedna niemand war, deren Befehle man missachtete, war er schweren Herzen aufgebrochen. Deshalb war er ahnungslos, mit wem die Morre Ticke verbunden hatte.

„Das Band, das sie geknüpft hat …“ Ticke zögerte noch immer. Es war eine Sache, davon zu wissen, aber eine andere war es, darüber mit jemandem zu sprechen. Es machte die Sache irgendwie endgültiger.

„Das Band“, fing sie noch einmal an, „das Band, ist … ist zwischen mir und … und der da.“

Jetzt war es heraus. Sed sah sie an, anscheinend ohne irgendetwas begriffen zu haben.

„Zwischen wem?“

„Der da.“ Ticke machte eine ausladende Geste in Richtung Spinne.

Er schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Erzähl keine Fliegenkacke, du spinnst doch!“

„Es ist so, wirklich“, bekräftigte Ticke, aber Sed weigerte sich, ihr zu glauben.

Er wurde regelrecht wütend, als sie darauf bestand, und wollte nichts mehr davon hören, nicht einmal als Ticke sagte:

„Warum glaubst du, sitzt sie einfach da hinten, greift uns nicht an oder haut ab oder tut sonst was?“

Aber Sed schüttelte nur immer fort den Kopf.

Ticke seufzte. Aber früher oder später hätte sie es sowieso ausprobieren müssen, warum also nicht sofort? Sie stand auf und ging direkt auf die Spinne zu. Zuerst schien Sed nicht glauben zu wollen, was sie tat. Aber dann hörte sie sein Keuchen.

„Ticke! Bleib stehen, Ticke!“

Sie hoffte sehr, dass er nicht versuchen würde sie aufzuhalten, denn sie war sich unsicher, was die Spinne dann täte. Aber er kam ihr nicht nach. Als sie noch etwa acht Schritte entfernt war, blieb sie stehen. Auch die Spinne bewegte sich nicht. Ticke nahm ihren ganzen Mut zusammen, suchte den Blick der beiden Hauptaugen ihres unheimlichen Reittiers und als ihre Blicke sich trafen, spürte sie auch wieder das Band.

„Hallo, ich bins, Ticke“, sagte sie. Wahrscheinlich verstand die Spinne sie nicht, aber es machte die Sache leichter für Ticke, wenn sie normal mit ihr sprach. „Hast du einen Namen?“

Die beiden vordersten Beine der Spinne zuckten. Sie gab eines ihrer komischen Geräusche von sich. Ticke fand, es klänge in etwa wie „Üx“. Sie nickte und versuchte, nicht auf ihre Knie zu achten, die sich unter ihr in weichen, dicken Brei verwandelt zu haben schienen, der sie unmöglich noch länger tragen konnte. „Üx“, wiederholte sie mit übertrieben lauter Stimme, „ein schöner Name. Es tut mir leid, wegen des Bandes. Aber jetzt ist es nun mal da und ich brauche deine Hilfe.“

Die Spinne war wieder erstarrt, aber Ticke glaubte zu spüren, dass sie jetzt aufmerksam zuhörte.

„Ich werde jetzt auf deinen Rücken klettern und du wirst mich tragen. Hörst du?“ Ihre Stimme klang merklich zögerlicher und es half nicht besonders, dass die Spinne keine Reaktion zeigte. Ticke ging einen kleinen Schritt vorwärts. Die Spinne bewegte sich zuerst nicht, aber als Ticke noch näher kommen wollte, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf. Ticke hatte seit gestern genug von ihr gesehen, um zu wissen, wie groß und furchteinflößend sie war.

Aber als sie die Spinne jetzt im fahlen Morgenlicht vor sich sah, gaben ihre Knie endgültig nach. Sie taumelte und im nächsten Augenblick traf etwas sie hart in den Rücken und sie fiel vornüber. Jemand schrie wütend und etwas zischte an ihr vorbei. Sie rappelte sich mühsam auf und sah Sed vor sich, den Speer in der Hand. Doch bevor er ihn werfen konnte, war die Spinne über ihm. Sie gab dabei sehr zufriedene Geräusche von sich.

Ticke war wieder auf den Beinen. „Lass ihn in Ruhe! Sofort!“, kreischte sie, ihre Stimme überschlug sich. „Du sollst ihn in Ruhe lassen!“ Und tatsächlich gehorchte die Spinne ihr auch dieses Mal, obwohl es ihr entsetzlich schwer zu fallen schien. Ticke zog Sed vom Boden hoch, diesmal erholte er sich schneller und beinahe hätte er sich wieder auf die Spinne gestürzt, diesmal ohne jede Waffe. Zu einer anderen Zeit hätte Ticke seinen Mut sicher bewundert, aber jetzt hatte sie allmählich genug. Auch die Spinne war wieder in Angriffsstellung gegangen, aber Ticke warf sich ohne Nachzudenken zwischen die beiden, mit der einen Hand hielt sie Sed zurück, die andere hielt sie der Spinne entgegen. „Hört auf, ihr beiden! Es reicht! Hört auf, sofort!“

Sed und die Spinne zögerten. Sed keuchte, er schien Schwierigkeiten zu haben, aufrecht zu bleiben.

„Gut“, sagte Ticke, als sie merkte, dass keiner der beiden vorhatte, sofort wieder anzugreifen, „gut, also, sie“ – sie wies mit dem Daumen auf die Spinne – „sie wird dir nichts tun.“ Dabei nickte sie zu Sed. „Und du, bitte versuch nicht gegen sie zu kämpfen, das ist nicht nötig.“

„Aber sie hat mich doch angegriffen, einfach so, aus dem Hinterhalt, sie ist eine mordlustige Bestie, ich trau ihr kein bisschen.“

Heimlich musste Ticke ihm recht geben, aber auch wenn sie der Spinne nicht vertrauen konnte, so schien das mit dem Band bestens zu funktionieren.

„Üx“, wandte sie sich an die Spinne, „Üx, das ist Sed, er ist mein Freund, und ich verbiete dir, ihm etwas zu tun, hörst du. Ihm nicht und keinem von meinen Leuten.“

Die Spinne gab kein Zeichen, dass sie Ticke verstanden hatte. Sie war wieder in ihre seltsame Starre verfallen, die Ticke nun schon zur Genüge kannte.

„Üx?“, fragte Sed heiser, „das Vieh hat einen Namen? Bindest du ihr rote Seidenschleifen an die Beine und reitest auf ihr zum Maifeuer oder was?“ Er klang so verächtlich und ungläubig, dass Ticke sich gekränkt fühlte. Gerade hatte sie ihm zweimal das Leben gerettet, er hatte doch gesehen, dass zwischen ihr und der Spinne Üx das Band bestand. Er hätte sich doch denken können, dass das keine leichte Sache für sie sein musste.

Sie wandte sich wieder der Spinne zu, tastete in ihrem Geiste nach dem Band. Dieses Mal fand sie es beinahe sofort. Es war sicher leichter, wenn die Spinne direkt vor einem stand. Oder sie lernte es allmählich. Dieses Mal sprach sie die Spinne nicht laut an; sie stellte sich lediglich ein Bild vor: sie selbst, wie sie auf dem Spinnenrücken saß. Üx zeigte noch immer keine Reaktion.

Jetzt war der Moment gekommen, an dem sie handeln musste. Dass sie sich ein wenig gekränkt fühlte und Sed gerne etwas beeindruckt hätte, half ihr. Sie ging ein paar Schritte zurück, nahm einen kleinen Anlauf, rannte los, sprang ab und zog sich auf Üx’ gewölbten Rückenpanzer. Um ein Haar wäre sie wieder heruntergerutscht, aber es gelang ihr, oben zu bleiben und nach vorne zu kriechen, wo der eigentlich nicht vorhandene Hals der Spinne mit dem Panzer verwachsen war. So weit so gut.

Sed starrte sie von unten herauf an. Das mit dem Eindruck schien fürs Erste gelungen zu sein. Aber würde Üx ihr auch weiterhin gehorchen? Sie drückte ihre Fersen in die Seiten des Kopfansatzes und schnalzte dabei unwillkürlich mit der Zunge. Die Spinne rührte sich nicht. Sie drückte noch stärker zu, aber immer noch nichts. Sie hörte Sed unten lachen und biss die Zähne zusammen. Aber ganz gleich, wie sie es versuchte, die Spinne schien überhaupt nichts zu bemerken. Trotz der Kühle kurz vor Sonnenaufgang spürte sie, wie ihr Schweiß auf die Stirn trat. Nichts als Schwierigkeiten. Und sie hatte gedacht, das Schwerste würde es sein, den Mut zu finden, das Band zu benutzen.

Sie atmete aus und griff im Geiste nach dem Band. Wieder fand sie es sofort, aber im Gegensatz zu vorher, als sie nervös und heftig daran gezerrt hatte, achtete sie jetzt mehr darauf, was sie wahrnahm. Ja, das Band war da. Aber die Spinne schien es mit aller Kraft darauf anzulegen, ihr nicht weiter gehorchen zu müssen, und hatte geschafft, es zu blockieren. Doch gegen Tickes ruhiges, gefasstes Wollen konnte sie nichts ausrichten. Sie machte einen Schritt nach vorn, dann noch einen. Ticke zog am Band, um sie nach links zu lenken. Sie ließ die Spinne in einem großen Kreis um Sed herumgehen. Bei Seds Anblick spürte sie den Hunger in den Gedanken der Spinne und wieder wurde ihr mulmig. Sie befahl ihr, vor ihm stehen zu bleiben. Dann rutschte sie vom Rückenpanzer herunter und ging zu ihm.

Er wedelte mit der Hand. „Puh, du stinkst!“

Ticke nickte nur. Dann sagte sie: „Ich muss jetzt los, kannst du Son ausrichten, dass es mir gut geht und …“

„Los?!“, unterbrach sie Sed. „Wohin musst du los?“

„Sedna meinte, mit der Spinne hätte ich vielleicht eine Chance, Ari zu finden, deshalb …“

„Du, kleines Golk, Ari finden?“

Ticke spürte, wie ihr heiß wurde. „Ich bin vielleicht ein kleines Golk, aber die Morre hats gesagt, sagt man nicht, die Morre irrt nie?“

„So sagt man“, brummte Sed düster, so düster, dass Ticke noch etwas anderes aus seinem Ton herauszuhören glaubte. „Dann komme ich mit“, sagte er plötzlich.

Ticke betrachtete ihn erstaunt. „Du? Warum denn?“

„Ich komme mit!“, wiederholte er in einem Tonfall, der jeden Widerspruch verbieten sollte.

„Aber es wird sehr gefährlich sein.“ Das war kein gutes Argument, das wusste Ticke schon, bevor sie ihren Satz beendet hatte.

„Ha!“, sagte Sed lediglich.

Ticke suchte im Geist nach Gründen, warum er nicht mitkommen sollte. Nicht, dass sie ihn nicht gerne dabei gehabt hätte. Tatsächlich wäre alles viel weniger furchteinflößend, wenn Sed bei ihr wäre. „Die Spinne mag dich nicht!“, sagte sie etwas hilflos.

„Danke, ich mag sie auch nicht besonders! Aber ich komme mit, ob diese achtbeinige, stinkende Monstermorre mich nun zum Fressen gern hat oder nicht.“

„Aber deine Eltern, sie werden traurig sein.“

„Und Son, wird der nicht traurig sein, wenn du gehst und noch eine Schwester weg ist?“

„Die Morre wird’s ihm sagen, aber bei dir …“

„Bei mir wissen sie schon, dass ich nicht sobald wiederkommen werden, denk dir!“

„Wieso, wo wolltest du denn hin?“

„Fort, bisschen durch die Lande ziehen – weg vom Baum.“

„Weg vom Baum? Warum denn?“

Sed hatte zwar schon immer davon geträumt, etwas anderes zu sein als ein Raupenzüchtersohn aus einer Raupenzüchterfamilie, aber dass er wirklich und wahrhaftig daran dachte, den Baum zu verlassen, das hätte Ticke niemals vermutete. Man verließ den Baum nicht. Niemand tat das. Versuchen alleine zu überleben war Wahnsinn. Nur ein Jäger konnte das vielleicht schaffen. Son könnte es. Ari könnte es vielleicht. Und sie selbst? Könnte sie alleine leben?

Mädchen und Spinnen

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