Читать книгу Mädchen und Spinnen - Caroline Willand - Страница 13

Die Schilfstadt

Оглавление

Es war Tickes erster Flug und sie hatte schreckliche Angst. Eine Weile flogen sie über den Sumpf, doch dann glitzerte es tief unter ihnen wie ein heller Spiegel und bald war, so weit das Auge reichte, nichts anderes mehr zu sehen als eine silberne Wasserfläche. Die Libellen flogen so schnell, dass der Gegenwind Ticke den Atem raubte. Er sauste in ihren Ohren und sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Mit aller Kraft klammerte sie sich am harten Rücken des Reittieres fest und versuchte nicht nach unten zu schauen.

Sed, der schon oft geflogen war, ging es nicht ganz so schlecht wie Ticke, aber auf einem Schmetterling zu fliegen, war etwas ganz anderes. Doch er stellte bald fest, dass Libellen sogar um einiges angenehmer zu reiten waren. Die Libellen hatten ihre ganz eigene Flugweise, sie erinnerten an elegante Fische, die pfeilschnell durchs Wasser schossen. Ihr Körper lag dabei in der Luft und blieb vollkommen ruhig, ohne all das Flattern, das Auf und Ab und Hin und Her eines Schmetters. Auch konnte man richtig sitzen, während man bei einem Ritt auf einem Schmetter mehr auf dem Rücken der Tiere hockte als saß, immer damit beschäftigt, die trudelnden Bewegungen auszugleichen.

Doch die plötzlichen Manöver der Libellen machten auch ihm zu schaffen. Ohne jede Vorwarnung änderten sie blitzartig die Flugrichtungen, stiegen und fielen ab, in einer Geschwindigkeit, dass sich sein Magen scheußlich hob und senkte. Der Mann hinter ihm beachtete ihn nicht mehr als einen Sack, den er vor sich trug.

Weder Sed noch Ticke hatten eine Ahnung, wie lange der Flug dauerte. Doch dann sahen sie in der Ferne das andere Seeufer.

Ein hoher, dichter Schilfwald ragte vor ihnen auf und die Libellen hielten darauf zu. Schnell kamen sie näher und tauchten in das hellgrüne Dickicht ein. Der ganze Wald stand im Wasser, die hellen Stängel dicht an dicht und sie flogen in halsbrecherischem Zickzack zwischen ihnen durch. Ticke schrie entsetzt auf, als sie um ein Haar einen der braunen Rohrkolben gestreift hätten, und fing sich sofort einen Rippenstoß ihres Bewachers ein. Flüchtig erhaschte sie einen Blick auf riesige, weiße Wasservögel, Enten oder Gänse, die im Schilf schliefen, auf einem Bein stehend, die Köpfe unter die Flügel gesteckt, dann zog der ganze Schwarm unvermittelt wieder nach oben, um sich genauso plötzlich wieder fallen zu lassen. Ticke wurde übel, sie würgte krampfhaft und versuchte sich auf dem dunkelblauen Rücken festzuklammern.

Doch eben da tat sich vor ihnen auf einmal eine Lichtung im Schilf auf. Die Libellen senkten sich tiefer und setzten zur Landung an. Ticke vergaß ihren Magen und alles andere: Haus an Haus, eine unglaubliche Anzahl an Bauwerken, gebaut auf mehreren kleinen Inseln, vollkommen verborgen tief im Schilf: eine Stadt. Sie sah kleine Schiffe unter sich liegen, sah Mauern, Türme und Dächer. Sie flogen darüber hinweg, so dicht, dass sie die Dächer der Türme hätte berühren können, und landeten schließlich auf einem großen freien Platz. Harte Hände griffen nach ihr und zogen sie vom Rücken der Libelle.

Man warf sie in einen Kerker. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die nur deshalb nicht vollkommen war, weil sich hoch über ihnen im Mauerwerk in regelmäßigen Abständen Lücken befanden, durch die etwas Tageslicht hereinsickerte.

Es war der grässlichste Ort, den sie je gesehen hatten. Es handelte sich um einen hohen Raum, dessen Boden beinahe gänzlich überflutet war. Man watete bis über die Knie in schmutzigem Wasser, dessen fauler Gestank ihnen den Atem verschlug. Nur an einer Stelle stieg der Boden so weit an, dass das Wasser nicht bis dort hinaufreichte. Auf dieser kleinen trockenen Insel drängten sie sich zusammen und fröstelten in der feuchten Kühle des Verlieses. Sehnsuchtsvoll starrten sie zu den Lücken hoch über ihnen, durch die wie zum Hohn lange Sonnenstrahlen hereinfielen, während draußen ein warmer Nachmittag in den Abend überging.

Als schließlich die Nacht hereinbrach, öffnete sich die Tür zu ihrem Verlies kurz und jemand schob eine Schale Wasser und einen halben, steinharten Laib Brot hinein, dann schloss sich die Türe wieder, noch bevor sie etwas sagen konnten. So klammerten sie sich aneinander, um wenigstens ein bisschen Wärme zu spüren, und rätselten flüsternd darüber, wer wohl die schwarzen Männer waren und warum man sie gefangen hatte.

Aber schließlich verstummten sie und starrten in die feindliche Dunkelheit, die sie umgab. Hin und wieder ließen sie platschende Geräusche zusammenfahren.

Sie konnten nicht sehen, was oder wer sie verursachte, aber es war so laut, dass es nur von einem oder mehreren lebenden Wesen stammen konnte. Sie hatten nichts gesehen, als es noch hell gewesen war, aber jetzt kamen ihnen die furchtbarsten Ideen, wer oder was mit ihnen in diesem Raum sein könnte. Plötzlich spritze das Wasser neben ihnen hoch auf. Ticke spürte, wie die widerwärtigen Tropfen auf ihren Arm niederregneten, und sie schüttelte sich vor Furcht und Ekel.

Sie drängten sich noch dichter auf ihrem inselartigen Fleck zusammen und wagten kaum zu atmen. Jeden Moment erwarteten sie, dass etwas aus dem Wasser kam, um nach ihnen zu greifen. Doch nichts geschah, stattdessen entfernten sich die Geräusche und waren jetzt aus einem anderen Teil des Kerkers zu hören.

Ticke hauchte in Seds Ohr: „Was glaubst du, war das?“

Stumm und unsichtbar zuckte er mit den Schultern.

Mädchen und Spinnen

Подняться наверх