Читать книгу Mädchen und Spinnen - Caroline Willand - Страница 9
Das Band
ОглавлениеSedna erhob sich mühsam. Entweder ihr Alter machte ihr zu schaffen, oder das Spinnengift saß ihr doch noch in den Knochen. Sie schlurfte zu Ticke hin und nahm ihr Gesicht fest in ihre beiden Hände. Ihre dunklen Augen brannten und ihr Blick bohrte sich in Tickes, so fest, dass Ticke meinte, es gäbe nichts in ihr oder an ihr, das Sedna nicht sehen konnte, nichts konnte sie wirklich vor der Alten verstecken, bis in den hintersten Winkel ihres Herzens drang deren Blick. Dann ließ Sedna Ticke los, schüttelte den Kopf und grinste.
„Komm her, ich geb’ dir einen Schöpfer aus dem Kessel. Du musst so viel davon trinken wie möglich – wird dir vermutlich nicht besonders schmecken, aber denk dran, je mehr du trinkst, desto fester wird das Band. Danach wird dir unwohl werden. Leg dich hier vor den Kessel. Dann werden ’n paar Dinge geschehen. ’s sind Träume, und doch auch wieder nicht. Das nennt man das Wachsen, weil das Band dann wächst. Du wirst dein Reittier treffen, aber du darfst dich auf keinen Fall fürchten, schwing dich drauf und reite.“
Ticke nickte gehorsam. Sed, der die ganze Zeit stumm und aufmerksam daneben gesessen hatte, nickte ihr zu. Sie verstand, dass er eigentlich „viel Glück“ sagen wollte oder sie vielleicht sogar umarmt hätte, aber da er jetzt fast erwachsen war, ging so etwas natürlich nicht mehr.
Sedna hatte die hölzerne Schöpfkelle mit dem braunen, schleimartigen Sud aus dem Kessel gefüllt und reichte sie Ticke, die schaudernd den grauenvollen Gestank roch. Aber sie hatte in den letzten Stunden mehrmals nicht besonders appetitliche Gebräue von Sedna getrunken und alle waren ihr gut bekommen. Ticke dachte fest an ein Pfauenauge mit wunderschön gezeichneten Flügeln, dann führte sie mutig die Kelle zum Mund und nahm einen so großen Schluck wie möglich.
Ihr Plan war es gewesen, so schnell so viel davon herunterzustürzen, dass der Ekel zeitlich einfach nicht schritthalten konnte, aber die Scheußlichkeit des Tranks vereitelte das. Noch im Schlucken musste sie würgen, doch Sedna packte die Kelle und schüttete ihr den Rest einfach in den Mund, sodass sie glaubte, ersticken zu müssen. Da hatte Sedna schon wieder eine neue Kelle gefüllt und als Ticke keuchend nach Luft rang, völlig vertieft in dem Kampf, das Zeug unten zu behalten, schüttete die Alte die zweite Ladung einfach hinterher. Ihr wurde schlagartig übel.
Grauenhaft übel.
Einmal hatte Ticke ein verfaultes Schmetterei erwischt, und eine scheußliche Nacht lang war sich keiner sicher gewesen, ob sie es schaffen würde. Das war bisher die schlimmste Krankheit, an die sich Ticke erinnern konnte, aber im direkten Vergleich war das faule Schmetterei nichts gewesen gegen das, was Sednas Gebräu jetzt mit ihr anstellte.
Kalter Schweiß lief ihr in Strömen über den Rücken, Würgekrämpfe schüttelten sie, als hätte sie eine Riesenhand gepackt, aber nichts von dem, was sie getrunken hatte, wollte wieder nach oben kommen.
Sed war aufgesprungen, um seiner Freundin zu helfen, wenn er auch keine Ahnung hatte, wie, aber die alte Morre hielt ihn zurück. „Kannst nix tun, kannst gar nix tun, gar nix“, murmelte sie.
Ticke war in die Knie gegangen, fiel auf den Boden und wand sich von Krämpfen geschüttelt. Doch dann hörte es auf, das Gesicht der Kleinen, eben noch völlig verzerrt, löste sich, es schien fast, als schliefe sie, und auch Sed beruhigte sich etwas, aber die Morre ließ Ticke nicht aus den Augen, voller Spannung schien sie auf etwas zu warten und achtete nicht auf Sed, der andauernd fragte, ob die Sache jetzt endlich vorbei sei.
Aber gerade da stieß Ticke einen schauerlichen Schrei aus. Hoch und dünn, plötzlich riss er ab, als hätte ihre Stimme vor Entsetzen versagt. Ihre Arme und Beine zuckten wild, als wolle sie laufen, sie warf den Kopf zur Seite und wirkte ganz wie jemand, der in einem furchtbaren Albtraum gefangen ist.
Sed war entsetzt. Er flehte Sedna an, Ticke wieder zu wecken. Das hier konnte doch nicht richtig sein.
Sed selbst hatte noch kein Band geknüpft, aber er war schon zweimal bei einer Zeremonie dabei gewesen, einmal bei seinem Freund Lor und dann bei Tibi, der auf der ersten Ebene lebte, und es war nie so schrecklich gewesen. Der Sud schmeckte wohl immer scheußlich, Lor hatte auch fürchterlich gewürgt, aber kein Vergleich mit Ticke. Und ganz schnell waren sie ruhig geworden, hatten sich entspannt und dann war es auch schon vorbei gewesen, sie waren wieder aufgewacht und ab dann stolze Reiter gewesen.
Aber hier lag Ticke und schrie und wehrte sich und rannte vor einer unsichtbaren Gefahr davon, obwohl sie schlief. Sed überlegte, ob das der Grund war, warum Jäger keine Bande knüpften. Vielleicht vertrugen sie es nicht.
Als das Würgen nachgelassen hatte, war eine große Müdigkeit über Ticke gekommen. Wärme und Schwere durchfluteten sie. Sie glaubte, eingeschlafen zu sein, allerdings verlor sie nicht vollkommen das Bewusstsein und sie bemerkte mit trägem Erstaunen, dass sie sehen konnte, obwohl sie fühlte, dass ihre Augen geschlossen waren. Was sie sah, war aber nur Nebel, der sie vollkommen umschloss. Sie dachte an Sednas Worte über Träume, die keine waren, und ließ ihre Blicke umherschweifen in der Hoffnung, ihren Schmetterling zu Gesicht zu bekommen, doch der Nebel war so dicht, dass sie gerade noch ihre Hand vor sich wahrnehmen konnte.
Sie tat ein paar vorsichtige Schritte geradeaus und es schien ihr, als lichtete sich ihr Blickfeld etwas. Nach weiteren Schritten konnte sie schemenhafte Umrisse erkennen und über sich ein Fleckchen klaren Himmels, wo hoch und weit fort ein paar winzige Sterne leuchteten. Ihrer Umgebung nach zu urteilen, war sie noch immer auf Platte, aber von der alten Morre, Sed und dem Kessel fehlte jede Spur. Die Nacht schien heller als zuvor und vor ihr lag die steinerne Weite von Platte. Ganz am Rande ihres Horizonts, dort, wo Platte endete, sah sie Umrisse, die vermutlich die jungen Birken waren, die den Findling überall umstanden. Mehr gab es nicht zu sehen.
Was sollte sie nur hier auf dieser trostlosen Ebene alleine anfangen? Ratlos fuhr sich Ticke durch die Haare, wie sie es immer tat, wenn sie nicht weiter wusste. Etwas kitzelte sie und ohne nachzudenken, kratzte sie sich. Wieder spürte sie das Kitzeln, diesmal an ihrem Hals und sie fühlte sich unangenehm an die Szene mit der Spinne erinnert, die wohl erst einige Stunden zurücklag, ihr aber zum Glück vorkam, als hätte sie in einem anderen Leben stattgefunden.
Doch als sie wieder unwillkürlich an ihren Hals griff und etwas Tastendes, Dickes dort erwischte, war ihr Körper oder das, was im Traum ihr Körper war, schneller als ihr Denken; sie wirbelte herum. Und plötzlich fand sie sich mitten in einem Albtraum wieder. Die Spinne war genauso monströs, genauso unfassbar hässlich und furchterregend, wie sie sie in Erinnerung hatte. Die riesige braune Erlenkreuzspinne – sie stand direkt hinter ihr und schien Ticke dieses Mal noch wütender und hungriger. Und hier gab es keinen Ast, von dem sie sich durch einen Fall in die Tiefe retten konnte, dieses Mal gab es niemanden, der ihr helfen würde.
Sie wollte schreien, aber brachte nichts als ein hohes, verzweifeltes Quietschen zustande, dann versagte ihre Stimme; sie drehte sich um und rannte. Schneller als der schnellste Schmetterling fliegt, so schnell wie ein abgeschossener Kiesel aus Seds Steinschleuder rannte sie, rannte und rannte. Und ihr nach kam die Kreuzspinne, die sie mit ihren seltsamen, ruckenden Spinnenbewegungen verfolgte, schneller und ausdauernder, als Ticke es jemals sein konnte. Wäre jemand Zeuge dieser Verfolgungsjagd geworden, so hätte sich ihm ein eindrucksvolles Bild gezeigt, das winzige Mädchen, das sich im klaren Nachtlicht auf der steinernen Ebene ein schreckliches Wettrennen mit der vielfach größeren Spinne lieferte.
Ticke, die kaum noch Luft bekam, konnte die Spinne hinter sich hören. Sie gab Töne von sich, ihr Knacken und Zischen, „ich krieg dich, ich erwisch dich, gleich hab ich dich!“, stieß die Spinne hinter ihr hervor. Trotz ihrer Angst und der Tatsache, dass sie jeden Moment vor Erschöpfung und Atemnot umkippen würde, wunderte Ticke sich, denn sie verstand die Spinne so klar und deutlich, als wäre sie eine der Ihren.
„Du darfst auf keinen Fall Angst haben“, klang ihr auf einmal Sednas Stimme im Ohr. Sie versuchte, noch schneller zu rennen, aber schon spürte sie, wie ihre Kraft nachließ. Die Spinne war jetzt direkt hinter ihr und Ticke wusste, dass sie jeden Moment verloren war. Keine Angst haben. Die einzige Möglichkeit.
Ohne Nachzudenken schlug Ticke einen Haken, auf den die Spinne nicht vorbereitet gewesen war, änderte ihren Kurs, nutzte den neu entstanden Abstand als Anlauf, sie rannte auf die Spinne zu und … sprang.
Ein zweites Mal an einem Tag sprang sie. Zwischen den Beinen durch, packte den Rückenschild der Spinne und zog sich nach oben, dorthin, wo das weiße Kreuz leuchtete, das jeden vor der lauernden Gefahr warnte, damit er schleunigst das Weite suchen konnte. Die Spinne war außer sich vor Wut. Sie versuchte Ticke abzuschütteln, sprang in die Luft, warf sich hin und her und es war ein Wunder, dass Ticke nicht heruntergeschleudert wurde. „Aufhören!“, schrie sie verzweifelt. „Aufhören, aufhören!“
Zu ihrem vollkommenen Erstaunen blieb die Spinne einfach stehen. Blieb stehen und bewegte sich überhaupt nicht mehr. Auch Ticke war wie erstarrt. Zuerst schien es ihr nur eine besondere Finte der Spinne, vielleicht war das eine neue Taktik. Aber nichts geschah, die Spinne bewegte sich so wenig, als sei sie gar nicht lebendig.
Dies ermöglichte Ticke, die Lage zu überdenken: Das hier war nicht die Wirklichkeit, sondern eine komische Art von Traum, soweit sie Sedna verstanden hatte. Sie war in diesem Traum, um ihr Reittier zu treffen, ihren Reitschmetterling mit den schönen samtigen Flügeln. Nur, dass sie ihn nicht getroffen hatte. Stattdessen war ihr dieses Ungeheuer begegnet. Schlagartig begann sie wieder zu zittern. Ihr dämmert, was das zu bedeuten hatte. Das konnte die alte Morre ihr doch nicht wirklich angetan haben! Doch so sehr sie sich gegen den Gedanken wehrte, es half nichts.
„Früher ritt man auf den verschiedensten Tieren“, das waren die Worte der Morre gewesen. Und all dieses „es wird nicht angenehm“, „du darfst dich nicht fürchten“. Ticke konnte sich dem nicht länger verschließen und es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob sie recht hatte.
Die Spinne bewegte sich nach wie vor nicht. Vorsichtig betrachtete Ticke den gepanzerten Rücken. Sie selbst saß genau auf dem weißen Kreuz, die braunen geknickten Beine des Viehs ragten hoch über den Rückenschild rechts und links von ihr empor. Sie musste sich zwingen nicht zu würgen.
Der muffige Gestank, den sie schon bei ihrem ersten Ritt kennengelernt hatte, tat sein Übriges. Es half nichts. Mit zittriger Stimme, sie klang so winzig, wie sie sich fühlte, hörte sie sich selbst sagen: „Hallo, Spinne!“
Zuerst geschah nichts, doch dann bewegte das Tier seine vordersten Beine, was seltsam unschlüssig wirkte.
Ticke sagte: „Ich bin Ticke.“
Die Bewegungen nahmen zu, die Spinne machte einen winzigen Schritt nach vorne, dann wieder zurück.
Was konnte sie noch sagen? Was hätte sie zu ihrem Schmetterling gesagt: Wir sind Freunde, danke, dass du mich trägst?
Das konnte sie auf gar keinen Fall. Der Gedanke war absurd. Aber etwas in ihr hoffte nach wie vor, sie könnte sich geirrt haben. Wenn die Spinne sie wirklich trug, wohin sie wollte, dann, nur dann könnte sie sicher sein, dass die alte Morre ihr das tatsächlich angetan hatte. Fester als beabsichtigt schlug sie der Spinne ihre linke Ferse in den Rückpanzer. Konnte diese durch die dicke, gepanzerte Schicht Ticke überhaupt spüren? Sie streckte ihr Bein weiter nach unten, darauf bedacht, auf keinen Fall eines der grauenvollen Beine zu berühren, und drückte der Spinne den Fuß in die Seite. Das Ungeheuer machte so einen Satz, dass Ticke um ein Haar von ihrem Rücken gefallen wäre, blieb dann aber wieder stocksteif stehen.
Dafür konnte sie nun etwas Seltsames fühlen. Die Wahrnehmung war so fremd und überwältigend; sie hätte sich niemals träumen lassen, dass es so etwas gab. Ticke spürte die Spinne. Nicht ihren Rücken oder sonst irgendetwas, das sie mit den Händen berühren hätte können, es war die Spinne selbst, und sie war genauso verwirrt über Ticke wie diese über sie. Außerdem war sie zornig, sehr zornig über das, was ihr da geschah, was immer es auch war.
Für eine Spinne war sie alt und auf ihre Weise sehr klug und sie nahm es ganz und gar nicht hin, dass Ticke nicht nur frech ihren Körper besetzt hatte, sondern nun auch noch Verbindung mit ihren Gefühlen aufnahm. Aber so sehr sie sich auch innerlich wehrte gegen die unbekannte Fessel, die das Band für sie darstellte, sie würde nichts dagegen tun können. Denn die alte Morre hatte sie in ihren Netzen gefangen, ganz wie sie es selbst getan hatte. Sie hatte das Band so gut und fest geknüpft, dass es bereits nicht mehr zu lösen war. Ticke und die Spinne waren untrennbar verbunden. Das war Sednas Rache. Die stolze, alte Erlenkreuzspinne vom Rand der Sümpfe musste nun einem kleinen, fremden Golk dienen.
Wild nach Luft schnappend, riss Ticke die Augen auf und blickte direkt in das Gesicht von Sedna, die sich über sie gebeugt hatte und sie besorgt betrachtete. Der weiße Zopf der Morre hing ihr dabei über die Schulter und streifte beinahe Tickes Wange. Ticke setzte sich auf. Das kleine Feuer war fast niedergebrannt, Sed war nirgends zu erblicken. Die Morre reichte ihr eine Schale, die Ticke beinahe weggestoßen hätte, aber der Geschmack in ihrem Mund war zu grauenvoll. Sie leerte die Schale, denn sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Diesmal war es Wasser.
So durcheinander und wütend, wie sie war, wagte Ticke doch nicht, die Morre anzuschreien, denn diese flößte ihr noch immer zu viel Respekt ein.
Doch Sedna wirkte beinahe schuldbewusst. Sehr leise sagte sie: „Du wirst es nicht verstehen. Nicht jetzt. Doch manchmal ist das, was am Schlimmsten scheint, der beste Weg.“
Ticke antwortete nicht.
„Niemand anderes als du kann deiner Schwester helfen, wenn das überhaupt noch jemand kann. Aber allein wäre das nicht möglich gewesen.“
Ticke schüttelte sich, der Geruch der Spinne hing ihr noch immer in der Nase, schien fest in ihren Kleidern zu hängen und weckte die noch so frische Erinnerung wieder. „Denkst du, ich ziehe einfach los, auf dem Rücken dieses … dieses … dieser … oh!“
Auf einmal spürte sie die Tränen, ein inneres Schluchzen schüttelte sie plötzlich, aber es konnte nicht nach außen dringen, es war zu stark. Was war nur alles geschehen in den letzten Stunden? Es war alles so viel gewesen, so schnell, und jetzt war sie gebunden. Sie fragte sich, ob sie Fieber hatte, es fühlte sich an wie Schüttelfrost, so sehr bebte sie. Da legte die Morre ihre alten Arme um sie, und in diesem Moment brach das Weinen aus ihr heraus.
Sie schluchzte lange und heftig, während die Alte sie in eine Decke wickelte, und so saßen sie eine lange Zeit, bis es Ticke schließlich komisch vorkam und ihr wieder einfiel, dass sie eigentlich zornig war auf die Alte, aber dem Zorn fehlte nach alldem die Leidenschaft, sie hob lediglich den Kopf und wollte ein Stück abrücken. Sedna ließ sie los, um das Feuer wieder zu schüren; sie legte auch einige Zweige und Holzstücke nach.
Schließlich begann sie mit ihrer leisen Stimme: „Du weißt, dass die Leute zu mir kommen, wenn sie wissen wollen, was die Zukunft bringt. Wenn sie eine Frage haben, die ihnen sonst niemand beantworten kann. All das. Sie sind zu mir gekommen, wegen deiner Schwester, natürlich. Ich legte mich hin, ging im Traum auf die Suche nach ihr und ich sah den Ort, wo sie gefangen ist. Deshalb sagte ich ihnen, dass Ari weit fort sei und niemand ihr helfen könne, und sie haben die Suche abgebrochen. Das war das, was ich damals sah.
Aber als du heute morgen kamst und mein Leben gerettet hast, ging ich noch mal im Traum aus und ich fragte um Rat bei denen, die den Morren in der Traumwelt helfen, und sie haben mir geantwortet und ließen mich den Raum dessen, was kommt, betreten. Deshalb hab ich das Band – so eine schreckliche Sache, wie es dir vielleicht erscheint – deshalb habe ich es für dich geknüpft.
Ich gebe zu, dass mich die Chance, es dabei auch der alten Spinnenmorre heimzuzahlen, nicht traurig macht. Aber das, Räupchen, war nicht der Grund. Du liebst deine Schwester. Mit diesem Reittier kannst du bis zu dem Ort reisen, wo Ari gefangen ist, und vielleicht kannst du sie mit Hilfe der Spinne sogar retten.“
Sie verstummte und legte noch mehr Holz nach. Das Feuer brannte hoch, doch die Flammen spiegelten sich nicht in den dunklen Mooraugen der Morre.
Ticke wartete, aber nichts war zu hören als das leise Knistern der Zweige im Feuer. Sie fragte sich, wo Sed war. Wahrscheinlich war er zum Baum zurückgekehrt. Ihr fiel ein, dass sie in all der Aufregung überhaupt nie gefragt hatte, was er eigentlich von Sedna gewollt hatte. Arvid-mit-dem-Ring und Aglaia, seine Eltern, waren bestimmt schon in Sorge um Sed gewesen. Ticke dachte an Son und an ihr Bett mit dem Mäusefell. Hundert Winter hätte sie dort jetzt durchschlafen können.
„Ich glaub, ich gehe erst mal zurück zum Baum“, sagte sie leise. „Nach Hause. Vielleicht kommt Son dann mit und hilft mir.“
„Nee, Räupchen, das würde ich dir nicht raten. So wie du riechst und mit dem Band an dir, würden sie dich dort nicht in Ruhe lassen. Da könnte dir auch Son nicht helfen. Und bei der Suche nach deiner Schwester kann er nix für dich tun. ’s hilft nichts. Nur du kannst es tun und du musst es von hier aus tun und es muss jetzt sein.“
Die Alte sah das Entsetzen in Tickes Blick und fügte hinzu: „Nicht ganz genau jetzt, bis morgen kannst du dich ausruhen, aber zurück kannst du nicht!“
„Aber …“
„Es hilft nichts“, wiederholte die Alte und wiegte ihren Kopf hin und her.
Da war er wieder, der Zorn. Ticke war beinahe verblüfft, wie plötzlich und heftig er in ihr aufloderte. Ari hätte es niemals zugelassen, dass jemand sie so in die Enge trieb. Plötzlich musste Ticke an den Jähzorn ihrer Schwester denken, unter dem sie selbst oft genug gelitten hatte. All die vielen Male, bei denen Ari sich für echte und eingebildete Kränkungen mit Inbrunst gerächt hatte, anscheinend ohne jemals auch nur einen Gedanken an die möglichen Folgen für sich und andere zu verschwenden. Gleiches mit Gleichem zu vergelten war das Mindestmaß, lieber gab sie das Doppelte zurück. Ari hätte die Spinne zur Hilfe gerufen und Sedna wieder an die Vorratsleine hängen lassen.
Trotz ihrer Erschöpfung und Verwirrung musste Ticke über diese Vorstellung innerlich ein bisschen grinsen. Natürlich kam das nicht in Frage, aber die Erinnerung an ihre Schwester wärmte sie und flößte ihr plötzlichen Mut ein. Immer hatte sie den Kopf geschüttelt über Aris Waghalsigkeit, aber auf eine seltsame Art hatte diese Ticke auch Sicherheit gegeben. Und nun war Ari gefangen und Ticke allein konnte etwas tun. Sie spürte, wie sehr ihr ihre Schwester fehlte, und auf einmal erlosch ihr Zorn und jedes Zögern, jedes weitere Warten schien ihr unmöglich.
Langsam nickte sie. Sedna hatte währenddessen keine Miene verzogen, aber sie hatte die Gefühle der Kleinen mühelos an deren Gesicht ablesen können und musste nun ihrerseits innerlich lächeln, als Ticke jetzt versuchte aufzustehen und dabei murmelte:
„Warum also noch warten? Ich gehe am besten gleich …“, sprachs und saß schon wieder auf ihrem Hintern, denn ihre Beine waren noch viel zu weich und zitterig, um sie tragen zu können.
Nun grinste die Morre wirklich. „Bleib noch, Räupchen, schlaf dich aus. Morgen, wenn noch der Nebel über dem Sumpf liegt, kannst du aufbrechen. Aber heute sollst du dich stärken und ruhen. Das ist wichtig vor so einer Reise. Man muss immer dafür sorgen, dass die Kraft reicht, sonst braucht man gar nicht loszugehen.“
Sie wickelte die Decke so fest um Tickes Schultern, dass diese sich kaum noch bewegen konnte. Dann stand sie auf und verließ den Schein des Feuers, nur um gleich darauf mit einem Korb in der Hand zurückzukehren. Sie packte ihn aus und drückte Ticke ein Fladenbrot in die eine und eine seltsame Masse in die andere Hand, an der Ticke ziemlich angeekelt schnupperte.
„Käse“, sagte Sedna.
Ticke zuckte die Achseln über das seltsame Wort, aber Sedna lachte:
„Kennt keiner von den Baumleuten, aber schmeckt gut, probier, er ist aus Milch.“
Ticke schnupperte noch einmal: „Milch?“
„Hasenmilch, in diesem Fall. ’s gibt bessere Sorten zum Käsemachen, Eichhorn zum Beispiel, aber ’s is nicht immer so leicht, dranzukommen.“
Vorsichtig versuchte Ticke ein Stückchen. Obwohl er so stank, schmeckte der Käse nicht ganz so schlimm. Sie merkte plötzlich, wie hungrig sie war. Ohne weiter nachzufragen, stopfte sie sich das ganze Stück in den Mund und biss dazu noch ein großes Stück von ihrem Fladen ab. Im Nu hatte sie alles verspeist, aber Sedna hatte den Korb vor ihr abgestellt.
Die Alte hatte ihr den Rücken zugedreht und saß schon wieder vor ihrem Kessel. Über ihre Schulter hinweg sagte sie zu Ticke: „Bedien dich, Räupchen, iss ruhig so viel du kannst.“
Ticke fand noch weitere Fladen und noch mehr Käse. Während sie noch kaute, brachte ihr Sedna eine tiefe Schale, die sie vorher im Kessel gefüllt hatte. Ticke schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte endgültig genug von Sednas Gebräuen, aber die Morre versicherte ihr, dass es dieses Mal wirklich nur Suppe sei.
„Sie wird dir gut schmecken, Räupchen, richtig gut.“
Schließlich nahm Ticke auch die Suppe, und nach dem ersten Schluck konnte sie nicht mehr aufhören, noch nie zuvor hatte sie etwas so Herrliches probiert. Sedna freute sich über den Appetit der Kleinen und füllte ihre Schale noch zweimal nach.
Schließlich fühlte Ticke, dass auch nicht mehr das kleinste bisschen in ihrem Bauch Platz hatte und ihre Augenlider schwerer und schwerer wurden. Das Letzte, das sie hörte, bevor sie in einen tiefen traumlosen Schlaf fiel, war das leise Summen der Morre, die neben ihr saß und die Sterne betrachtete.