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Erlenhain

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An einem dieser trostlosen Morgen trat Ticke vor die Hütte. Der Regen hatte aufgehört, aber nun hing Nebel über der Wiese und es war empfindlich kühl. Über Nacht war es Herbst geworden. Sed kam vorbei, offensichtlich auf dem Weg nach unten. Ticke hatte ihren Hummelpelz eng um ihre Schultern gezogen, aber Sed trug nur ein Hemd aus den Fäden der Seidenraupen und hatte eine scheußliche Gänsehaut.

„Was Neues von Ari?“, fragte er – unnötigerweise, wie sie beide heimlich fanden, denn hätte man etwas von Ari gehört, hätte es sofort der ganze Baum gewusst.

Ticke zuckte die Achseln. „Wo gehst du hin?“, fragte sie ohne großes Interesse.

„Sedna“, nuschelte er, schon im Abstieg begriffen.

Sedna! Warum hatte daran noch keiner gedacht? Oder hatten sie daran gedacht, aber ihr nichts erzählt?

Zur Morre Sedna ging man, wenn man selbst nicht weiterwusste. Etwa wenn man krank war und es wollte nicht von selbst besser werden, wenn etwas mit den Schmetterlingen nicht stimmte, oder wenn man wissen wollte, was die Zukunft so brachte.

„Warte, Sed, ich komme mit.“

Erstaunt hob er den Kopf, der sich jetzt ungefähr auf der Höhe ihrer Knie befand, denn er war schon weiter nach unten geklettert. Aber dann nickte er nur, und sie kletterte ihm nach. Als sie unten ankamen, fragte er doch:

„Warum willst du mit, wegen Ari?“

Noch so eine nutzlose Frage, dachten beide wieder. Ticke nickte nur. Sie gingen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Seds Schritte schienen Ticke sehr lang.

„Wann, zum Grummel, ist er bloß so gewachsen?“, dachte sie, während sie angestrengt versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Er war kaum älter als Ticke und solange sie denken konnte, waren sie immer gleich groß gewesen.

Unvermittelt blieb Sed stehen und wandte sich zu ihr um. Seine Augen waren braun – wie der Schmiersaft, hatte sie ihn früher immer geärgert – und sein Blick war sehr streng. „Oder erwachsen“, dachte Ticke. Ja, Sed versuchte erwachsen zu wirken, als er jetzt sagte:

„Sie haben Sedna schon gefragt.“

Ticke schwieg, also fuhr er fort: „Sie sagt, Ari ist in großer Gefahr, aber keiner kann ihr helfen. Niemand. Und sie ist sehr weit fort. Und sie wird wahrscheinlich nicht zurückkommen.“ Das Letzte hatte er ganz leise gesagt.

„Wann war das?“, hauchte Ticke.

„Vor acht Tagen.“

„Dann haben sie die Suche deshalb aufgegeben?“

„Danach haben sie gesagt, ’s nützt nix weiterzusuchen.“

Ticke fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie versuchte, sie wieder zurückzudrängen.

„Warum habt ihr uns das nicht gesagt?“

„Son weiß es.“

Aber Son hatte es ihr nicht gesagt, natürlich nicht. Nicht ihr, der Kleinen, die sich vor Regenwürmern fürchtete; die noch nie getroffen hatte, wenn sie einen Bogen in die Hand nahm. So jemandem sagte man besser nichts. Die Tränen schafften es jetzt höher hinauf, wahrscheinlich wurden ihre Augen wässrig, denn Sed sagte:

„Heul doch nicht gleich.“

Er bemühte sich, es sanft klingen zu lassen, das machte sie richtig wütend und sie begann wirklich zu weinen. Weil Sed nicht wusste, was er noch sagen sollte, drehte er sich um und stapfte weiter. Ticke folgte ihm schweigend und immer noch damit beschäftigt, ihre Tränen in den Griff zu bekommen.

Sedna lebte in den Ästen einer kleinen Erlenböschung, die am Rande der Wiese stand, dort, wo die Wiese in Sumpf überging. Ticke war noch nie da gewesen, denn niemand aus ihrer Familie hatte je Sednas Hilfe gebraucht, so schien es. Vielleicht half Sedna nur den Raupenhütern und mochte keine Jäger. Dann hatte sie sich vielleicht aber auch geirrt, was Ari anging.

Bis zum Sumpf war es noch ein gutes Stück, und als Ticke und Sed schließlich bei den Erlen ankamen, hatte sich der Morgennebel aufgelöst und die frühen Sonnenstrahlen sogen den Tau auf. Sed, dem die schniefende Ticke noch immer etwas unangenehm war – vor allem weil er sich so hilflos fühlte – begann, die Erle hinaufzuklettern. Ticke wollte ihm folgen, merkte aber erst jetzt, dass sie keine Steig- und Handschuhe dabei hatte. Ohne die spitzen Dornen an den Steigschuhen hatte sie keine Möglichkeit, den astlosen Stamm hinaufzukommen. Also musste sie unten warten und hoffen, dass Sed der Morre von ihrer Anwesenheit erzählte. Sie fragte sich allerdings, wozu das jetzt noch gut sein sollte.

Seufzend setzte sie sich auf den Boden, um sofort wieder aufzuspringen, denn hier, am Rand der Sumpfwiese war die Erde schon sehr feucht. Sie ging um den Erlenhain herum und sah auf das Moor hinaus. Dorthin gingen die Schmetterlingsleute nicht gerne. Alles war nass und klamm hier. Je weiter man sich hineinwagte, desto größer war die Gefahr, einfach einzusinken und stecken zu bleiben. Man konnte krank werden, wenn man vom Wasser der Sümpfe trank, viele Blumen waren giftig; manche auch auf andere Weise gefährlich: Sonnentau und Fettkraut, die versuchten einen festzuhalten, und Moskitos, Millionen Moskitos. Schmetterlingsleute wurden zwar nur selten gestochen, denn es war nicht so einfach für die Moskitos, die oft so groß wie Ticke selbst waren, unbemerkt zuzustechen. Aber schlief man beispielsweise oder steckte gerade im Schlamm fest und konnte nicht wegrennen, war ein Stich lebensgefährlich. Man schwoll am ganzen Körper an. Zum Glück konnten die Moskitos nicht anders, als laut zu summen, wenn sie sich näherten, sodass man ihnen normalerweise leicht ausweichen konnte. Allerdings summte hier mehr oder weniger alles. Zuhause auf der Wiese war es an einem Sonnentag schon ziemlich laut, aber das war noch nichts gegen diesen Ort. Es klang, als würden die Geräusche all der vielen Mücken, Fliegen und Käfer, die langsam aufgewacht waren, zu einem einzigen dumpfen Brummen verschmelzen.

Nur ein Geräusch war anders. Ticke hatte erst nicht darauf geachtet, aber jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden, hörte sie es ganz deutlich. „Ahhhh, ahhhh …“ Eine Art Stöhnen. Sie blickte sich um, konnte aber nichts entdecken. „Ahhh …“ Da war es wieder, wo kam das nur her? Sie umrundete den Erlenhain noch weiter, das Stöhnen wurde lauter, aber sie wusste immer noch nicht, woher es stammte. Sie trat in den Schatten der Bäume ein, hier war es noch kühl und feucht, doch die Sonne war eben dabei, auch in die letzten dunklen Winkel zu dringen. „Aaaahhh“, hörte sie, dieses Mal ganz deutlich. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl zwischen die Blätter, tausend kleine Tautropfen blitzen auf.

„Ahhh!“, schrie dieses Mal Ticke, denn auf Augenhöhe, direkt vor ihr, hing ein riesiges Spinnennetz. Sie hatte es vollkommen übersehen. „Wäre der Sonnenstrahl nicht gewesen, ich wäre genau hineingelaufen!“, dachte Ticke entsetzt. Wunderschön sah das glitzernde Netz mit seinen beinahe durchsichtigen Seidenfäden aus, ein Meisterwerk der Webkunst. Die es gewebt hatte, hatte schon viele Netze gesponnen, denn sie war alt und klug und meistens hungrig.

Ticke wusste nichts davon, aber der Anblick des Netzes genügte, damit sie zurückwich. Doch da war wieder das Stöhnen. Wo kam es nur her? Sie wusste es plötzlich, noch bevor sie es sah. Am Rand des Netzes spannte sich eine einzelne Leine zwischen zwei Erlenzweiglein. Daran baumelte ein dickes Bündel, dicht mit Spinnengarn eingesponnen. Und daraus ragte ein ziemlich schmutziger Fuß. Ticke schauderte. Spinnen waren nicht ganz so gefährlich wie Mäuse, Füchse oder Vögel, aber die Art, wie sie mit ihrer Beute umgingen, war einfach schrecklich.

„Gefressen werden“, dachte Ticke, „ist eine Sache, aber von einer Spinne und vorher noch tagelang an der Vorratsleine hängen?“ „Hallo!“, rief sie zögernd nach oben, nicht ohne sich dabei misstrauisch nach allen Seiten umzusehen. Die meisten Spinnen verließen sich nur auf ihre Netze, aber nicht alle. Das Bündel an der Leine wackelte mit den Zehen und stöhnte. Ticke durchforstete ihr Gedächtnis nach allem, was sie von Spinnen und Befreiungsaktionen wusste. Kalas Mann, der ebenso dicke Pippo, war von einer Kreuzspinne gefangen worden und konnte erst nach zwei Tagen gerettet werden, obwohl man wusste, wo er hing. Mehrere Männer mussten die Spinne ablenken, damit Pippo heruntergeholt werden konnte. Immerhin, er wurde gerettet, auch wenn er kurz darauf starb, weil er von seinem Lieblingsfalter stürzte.

Sollte sie erst auf Sed warten? Gemeinsam wäre es viel besser, und unter gewöhnlichen Umständen hätte Ticke das auch ganz bestimmt getan, aber das arme Bündel stöhnte und ächzte schrecklich und die Spinne war nirgends zu entdecken. Zwar war sie möglicherweise nicht weit entfernt und lauerte auf neue Beute, aber so aufmerksam sich Ticke auch umsah, sie konnte keine Spur von der Netzbauerin entdecken.

Noch immer aufgebracht darüber, dass man sie nicht für groß genug gehalten hatte, ihr von Sednas Voraussage zu erzählen, dachte sie an all das Staunen, das es ihr zweifellos eintragen würde, wenn es ihr gelänge, die Vorratskammer der Spinne auf eigene Faust zu plündern. Und noch ein Gedanke kam ihr: „Wie, wenn das hier Aris Fuß war?“ Auf einmal schien alles sonnenklar, Ari war verschwunden, hier hing sie und Ticke würde sie retten. Sie vergaß dabei natürlich vollkommen, dass Ari niemals zehn Tage lang im Spinnennetz überlebt hätte. Mit solchen Kleinigkeiten hielt sie sich nicht auf, sie war bereits eine der kleinen Erlen, an denen die Vorratsleine aufgespannt war, hinaufgeklettert.

Der Stamm war noch sehr dünn, sodass sie keine Steigschuhe brauchte, aber oben angekommen, stand sie vor einem neuen Problem, denn wie sollte sie das Bündel herunterholen? Das Beste schien ihr, einfach die Leine zu kappen, aber dann würde das arme Bündel einfach auf dem Boden fallen. Allerdings waren unten Sumpf und moosiger Bewuchs, die den Aufprall abfedern würden – nicht allzu schlimm also. Sie zog an der Leine, aber die war natürlich viel zu haltbar. Spinnenseide war sehr beliebt bei den Schmetterlingsleuten, denn sie hielt alles aus, man konnte sie immer und überall brauchen, deshalb schnitt, wer sich traute, auch an jedem Netz herum.

Schnitt – jetzt fiel es ihr ein: Son hatte gesagt, die Spinnenseide risse einem die Haut auf, klebrig und komisch, wie sie war. Aber sie hatte Aris Glasscherbe dabei. Vorsichtig zog sie das kleine, braune Ding aus der Tasche, sie hatte es, nach Aris und Sons Vorbild, in ein Stückchen Leder eingeschlagen. Nach einigen Anläufen gelang es ihr, die Webe entzwei zu sägen, und das Bündel fiel und prallte auf dem Moos auf, gefolgt von einem schmerzerfüllten Wimmern. Wenigstens bewies dies, dass der oder die Gefangene der Spinne zwar nicht froh über den Fall war, es aber überlebt hatte.

Mädchen und Spinnen

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