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Der Baum

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Die Sonne schien auf Tickes Gesicht, es war heiß und sie konnte nicht mehr weiterschlafen. Sie blinzelte und sah Stäubchen im Licht durch den Raum tanzen. Eine Weile betrachtete sie die winzigen Punkte, doch dann fiel ihr nach und nach die Nacht wieder ein, abrupt setzte sie sich auf und sah sich in dem vertrauten Raum um. Sie war allein und saß in der Mitte auf dem breiten Bett, auf dem sie, Ari und Son sonst schliefen. Von der Decke hingen Bündel der verschiedensten Kräuter, Kamille, Spitzwegerich, Brennnesseln und Bilsenkraut, manches zum Kochen, anderes gegen Krankheiten. Ansonsten gab es nur wenig zu sehen, ein paar Körbe und Schüsseln, die alles enthielten, was die drei Geschwister besaßen. Sie kletterte aus dem Bett und trat durch die Tür hinaus ins gleißende Sonnenlicht.

Draußen auf der Plattform stand Son und unterhielt sich mit der Nachbarin Kala, die im Kessel rührte, aus dem es hörbar blubberte und brodelte. Schimpfend rieb sich Kala die Hand, etwas Heißes war herausgespritzt und hatte sie verbrannt. Suppe. Es gab nur diese eine Suppe, immer diese eine, was man am Tage daraus schöpfte, wurde am Abend wieder neu dazugefügt. Auf ihrer Plattform war es Kalas Arbeit, immer wieder neues Wasser aufzugießen, noch rohe, geschnittene Wurzeln, essbare Kräuter, Raupen und Schmetterlingseier hinzuzufügen und zu rühren. Seit Ticke denken konnte, machte das Kala, und vor ihr hatte eine andere Kala die Suppe gerührt und vor ihr wieder eine andere und doch war es immer dieselbe Suppe, braun und dick wie Moorschlamm, hin und wieder trieb etwas noch nicht völlig Verkochtes vom Vortag darin.

Son sah Ticke und winkte sie zu sich. Ohne ein „Guten Morgen“ oder sonst eine freundliche brüderliche Bemerkung fragte er scharf: „Wo ist deine Schwester?“ Ticke zuckte verwirrt die Schultern. Son kannte seine Schwestern, er zog Ticke zur Seite, damit Kala ihr Gespräch nicht belauschen konnte, und wiederholte seine Frage leiser, aber mit noch mehr Schärfe in der Stimme: „Wo ist Ari?“

„Son …“ Ticke schlug die Augen nieder, sie wusste, das würde schrecklichen Ärger geben. „Son, sie ist heute Nacht ausgeritten. Gemüseeule.“

Sons Gesicht zuckte. Aris Eskapaden waren ein ständiger Stachel für seine sonst so unerschütterliche Ruhe. Neugierig hatte sich die dicke Kala näher an sie herangeschoben. Ticke beschloss, sich erst einmal aus dem Staub zu machen.

Den größten Teil des Tages verbrachte sie in ihrer Astgabel. Es war die höchste Stelle, die sie erreichen konnte, hoch oben in der Krone des Baumes. Wenn sie zwischen den Ästen nach unten guckte, sah sie unter sich die Raupenweiden, Nester und Kokons. Sie fühlte den harten runden Ast in ihrem Rücken und genoss die Sommerbrise, die an den Blättern zauste und manchmal an ihrem Sitz rüttelte. Ticke liebte die Baumkrone. Hier oben war es so, als gäbe es keinen Boden, niemand anderen, als wäre sie mitten im Himmel. Stimmen drangen zur ihr herauf.

Sie schaute zwischen den Ästen nach unten und sah die Köpfe der Raupenhüter unter sich, die einander Hütekommandos zuriefen, die wie kurze Lieder klangen. Den Raupenhütern hatte Ticke schon oft geholfen; hatte die Schmetterlings- und Faltereier sortiert und die Raupen mit Grünem versorgt. Sie hatte ihr Ohr an die raue Schale der Schmetterlingspuppen gelegt, auf die feinen Geräusche der Beine und Fühler im Inneren der Puppe gewartet, um gegen Sed und Seli wetten zu können, welche der Puppen sich als Erste öffnen würde. Die Raupenhüter kannten selbstverständlich die Eier eines jeden Schmetterlings.

Arvid-mit-dem-Ring war es, der Ticke das meiste über die Eier beibrachte. Er tat es größtenteils deshalb, weil seine eigenen Kinder, Sed und Seli, keine Lust hatten, ihm zuzuhören. Sie wollten lieber Jäger sein, vor allem Sed. Manchmal saßen Ticke und er abends in der Astgabel, wenn sich Sed wieder einmal davongemacht hatte, um sich vor dem Raupeneintreiben zu drücken. Und dann beschlossen sie, wie so oft, zu tauschen: du wirst Jäger für mich, ich eine Raupenhüterin.

Aber das waren Dummheiten, dachte Ticke jetzt. Arvid mochte sie, aber er würde es niemals erlauben, dass eines seiner Kinder Jäger werden würde. Jagen, das war etwas, dem die meisten aus dem Schmetterlingsvolk misstrauten. Natürlich, jeder freute sich über einen fetten Mäuseschinken oder gar ein Amselbein, jeder deckte sich gerne im Winter mit Fellen und Federbetten zu, aber das Jagen selbst … es war nichts Schlechtes, aber es hatte zu viel mit dem Tod zu tun und das nicht nur für die Gejagten. Jäger starben leicht, so wie es mit ihren Eltern geschehen war.

Wie anders war es dagegen mit den Schmetterlingen. Sie waren Eier, dann wurden sie zu Raupen, dann zu Schmetterlingen, zu Nachtfaltern oder was auch immer und legten neue Eier. Natürlich wurde auch hier gestorben, ein großer Teil der Raupen und Eier landete in den Töpfen, aber dieser Vorgang hatte etwas Gemächliches, irgendwie Unvermeidliches. Jäger waren wichtig, aber sie standen immer nur mit einem Fuß auf dem Ast, wie man hier im Baum sagte.

Ticke, Ari und Son waren Jäger, oder wenigstens Son war Jäger und Ari auch, wenn sie auch noch sehr jung war. Aber Ticke zweifelte sehr daran, dass aus ihr je eine Jägerin werden könnte. Der nächtliche Zusammenstoß mit der Maus hatte ihr nur einmal mehr gezeigt, dass sich auch jetzt, nachdem sie schon beinahe ausgewachsen war, nichts geändert hatte.

Jetzt waren die Stimmen unter ihr verstummt und sie war froh darüber, denn die Geräusche erinnerten sie an alles, was sie zu tun versprochen hatte. Wahrscheinlich waren die Hüter mit ihrer Herde in die äußeren, sonnigeren Zweige des Baumes gezogen. Ticke stellte sich Selis Schmollgesicht vor, wie sie über den abscheulichen Geruch des Schmiersaftes schimpfte. Dabei roch der Schmiersaft gar nicht so scheußlich. Die Raupen liebten den Geruch jedenfalls, sie konnten gar nicht schnell genug hinter seinem Träger herkriechen. Die Raupenhüter trugen alle breite Gürtel, an denen eine Vielzahl kleiner Fläschchen baumelte, jedes einzelne enthielt Saft mit einem anderen Geruch, so konnten sie die Herde dazu bringen, sich fortzubewegen, zusammenzubleiben oder sich von gefährlichen Stellen fernzuhalten.

Der Wind hatte zugenommen, sodass Ticke sich gut festhalten musste, um nicht aus ihrer Astgabel geweht zu werden. Wie dunkelblau, wie tief der Himmel war! Wie fliegen war das hier oben im Baum, so schön, besser konnte auch ein Ritt nicht sein.

Sie dachte an Ari, wie sie der Gemüseeule ihre Hacken in die Seite gestoßen hatte und ihren Jubelschrei, doch da meldete sich auch wieder ihr schlechtes Gewissen. Hoffentlich war ihre Schwester schon wieder zurück, Son hatte so sorgenvoll gewirkt heute Morgen. Und Kala würde auch sauer sein. Aber das war Ticke mehr oder weniger gleichgültig. Was ging es sie an, wenn die dicke Nachbarin ein Auge auf Son geworfen hatte und deshalb wie eine aufgescheuchte Hummel um ihn herum brummte, immer bereit das Kommando in ihrem elternlosen Haushalt zu übernehmen? Und selbstverständlich gab sie nur Anweisungen und Ticke und Ari sollten sie dann ausführen. Bei diesem Gedanken schnaufte Ticke empört und musste gleich darauf kichern. „Ich klinge schon selbst wie Kala!“ Sie beschloss, wieder nach unten zu klettern und nachzusehen. Mittlerweile hatte sie auch Hunger, sie würde Kala helfen müssen, aber das ließ sich nicht ändern.

Die fünf großen Plattformen im Baum, auf denen die Schmetterlingsleute lebten, lagen gut versteckt. Die unterste war die größte und nach oben hin waren die Plattformen immer ein bisschen kleiner. Dazwischen durchzogen Körbe und Nester das Geäst, die meisten getarnt mit frischen Blättern. Jede Plattform war ein stabiles Geflecht aus Ästen, die Häuser darauf waren vielfältig, kleine Hütten und nestartige runde Gebilde, Laubhäuschen und Jurten aus Moos und Ästen. Eine kleine Stadt, versteckt hoch oben im Baum. Alt war sie, hatte Son ihr erzählt, keiner wusste, wie viele Jahreszeiten diese Stadt schon gesehen hatte.

Ticke, Son und Ari wohnten auf der zweiten Ebene.

Die Sonne sank schon, als Ticke dort ankam. Kala stand noch – oder schon wieder – an ihrem Kessel und rührte. Der entrüstete Ausdruck war noch immer nicht aus ihrem Gesicht gewichen. Als sie Ticke sah, wirkte sie einen Moment lang sehr erfreut, aber Ticke dachte beklommen, dass diese Freude daher rührte, endlich jemanden zu haben, bei dem Kala ihre Entrüstung loswerden konnte. „Aha, da bist du also, wo warst du?“

Ticke musste jedoch nicht antworten, denn das war nur der Auftakt für die flammende Rede, die Kala anscheinend den ganzen Tag über eingeübt hatte. Es ging in der Hauptsache darum, dass der arme, hilflose Son von seinen nichtsnutzigen Schwestern ausgenutzt und hintergangen wurde. Unnütze und faule Esserinnen, das waren sie; und wäre Son nicht ein so geschickter Jäger, hätte man ihre Familie sicher schon längst vom Baum verstoßen. Immer wütender wurde Kala, und dadurch geriet ihr voluminöser Busen immer mehr in Schwingung. Ticke konnte nicht anders, als fasziniert darauf zu starren. Das Wogen hatte etwas Hypnotisches, das durch ihren Tag in der Astgabel mit seinem sanften Schaukeln etwas seltsam Vertrautes, ja, Beruhigendes bekam, das so gar nicht zum Zorn der Nachbarin passte.

Kala hatte anscheinend bemerkt, dass Ticke ihr nur ungenügend zuhörte, denn wie eine wütende Hornisse schoss sie jetzt auf Ticke zu und packte sie am Ohrläppchen. Ticke schrie auf, mehr erbost als vor Schmerzen, und versuchte sich zu befreien. Doch je mehr sie sich wehrte, desto fester zog Kala und desto lauter schrie Ticke. So dauerte es nicht lange, bis sich ein Ring aus neugierigen Zuschauern um die beiden Streitenden gebildet hatte, denn die Bewohner der Plattform freuten sich über jede Abwechslung. Einige feuerten Kala an, aber die meisten waren auf Tickes Seite, denn Kala mischte sich zu offensichtlich in Sachen ein, die sie nichts angingen.

„Sofort aufhören!“ Son stieß die Zuschauer zur Seite und drängte sich zu den Streitenden durch. „Kala! Ticke!“

Betreten ließ die Nachbarin Tickes Ohr los, wurde erst blass, dann rot. Unter anderen Umständen hätte Ticke vielleicht sogar Mitleid gehabt.

Son schimpfte noch immer vor sich hin, als die Sonne schon längst untergegangen war. Er schimpfe, weil er sich Sorgen mache, sagte er. Aber Ticke konnte sehen, dass er in Wirklichkeit Angst hatte, so oft er auch wiederholte, dass Ari nichts wirklich Schlimmes passiert sein konnte. Sie war so stark. Und schlau. Sie würde zurückkommen. Eine Gemüseeule, wie gefährlich war das denn schon? Selbst Ticke hätte eine Gemüseeule reiten können, ein Neugeborenes hätte eine Gemüseeule reiten können, aber wo, zum Grummel, war Ari dann?

Sons Angst erschreckte Ticke, denn wenn ihr Bruder ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte, dann stand es übel. Er war nicht umsonst ein guter Jäger, Gefühle waren für ihn wie Wetterboten, sie kündigten Sonne an, Regen und manchmal Sturm.

Während er unruhig die Plattform auf und ab schritt, saß Ticke auf dem Bett und hielt ihre Knie umschlungen, während ihr Blick an der Türöffnung hing. Sie wartete. Sie wartete so sehr, dass es schmerzte; so sehr, dass es sich so anfühlte, als könne Ari gar nicht anders, als im nächsten Moment dort zu erscheinen. Sie konnte ihre Schwester beinahe sehen, wie sie dort stand, die braunen Haare zerzaust. Aber da war niemand, nur die paar Sterne, die allmählich sichtbar wurden.

In dieser Nacht schliefen Son und Ticke kaum, obwohl sie schon ins Bett gingen, bevor der Mond richtig am Himmel stand. Son lag vollkommen still, so bewegungslos, wie es nur Jäger können, doch Ticke begann sich hin und her zu wälzen, und damit schreckte sie schließlich auch Son auf. Sie dachte an eine andere, ähnliche Nacht im vorletzten Sommer, die Nacht, in der ihre Eltern nicht wieder gekommen waren. Son hatte seine Schwestern in den Armen gehalten. Ticke lag links, wo sein Herz gegen ihr Ohr pochte, und sie hatte die ganze Zeit geweint, während Ari, die auf der rechten Seite lag, schimpfte, dass Tickes Tränen ihr in die Nase liefen.

Im Bett tastete Ticke jetzt nach Sons Hand und hielt seinen Daumen in ihrer Faust und schließlich, während draußen dunkle Regenwolken aufzogen, schlief sie ein.

Es regnete zehn Tage lang. Alles war klamm, die Nässe drang durch die Decke und die Wände. Das Geräusch des Regens auf den Blättern des Baumes verschmolz zu einem niemals endenden Rauschen. Ari war nicht zurückgekehrt. Sie hatten sie gesucht. Beinahe alle, von jeder Ebene waren sie gekommen, um bei der Suche zu helfen. Arvid und seine Brüder waren ausgeflogen, lange kreisten sie auf Taubenschwänzchen und Admiralen über der Wiese. Sie legten Duftköder aus, die Gemüseeulen aus den entlegensten Winkeln der Wiese anlockten, aber von Ari fehlte jede Spur.

Ticke blieb die meiste Zeit im Bett. Sie hatte leichtes Fieber bekommen, und so wickelte sie das alte Mäusefell so fest wie möglich um sich, zog sich das Ende über den Kopf und versuchte, nichts zu sehen und zu hören. Doch schließlich ertrug sie es nicht länger und ging mit den anderen Suchenden hinaus auf die Wiese. Und es war Ticke, die als Einzige etwas von Ari fand; das kleine braune Glasmesser, eine Stück weit von den Lupinen entfernt.

Am dritten Tag hatten sie die Suche aufgegeben. Nur Son nicht, der suchte noch immer. Wenn die Dunkelheit kam, kehrte er zum Baum zurück, nass, sprachlos und verzweifelt.

Mädchen und Spinnen

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