Читать книгу Mädchen und Spinnen - Caroline Willand - Страница 12

Gefangen

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Früh, bevor es richtig hell wurde, zogen sie weiter. Diesmal gingen Ticke und Sed zu Fuß. So wurde ihnen wärmer und der Boden war immer noch sehr weich; es hätte die Spinne große Anstrengung gekostet, sie beide weiter zu tragen, und keiner der drei war böse über die neue Lösung.

Manchmal war Üx ein gutes Stück vor ihnen, manchmal fiel sie zurück. Vor allem Sed achtete darauf, immer einen gewissen Abstand zwischen sich und der Spinne zu halten.

Es war ungemütlich klamm und noch immer sprachen sie kaum ein Wort. Bei jedem Schritt gurgelte der sumpfige Boden unter ihnen. Sie zogen durch einen Wald dürrer Halme, die im bleichen Morgenlicht grau und unheimlich wirkten. Sie sahen kein lebendes Wesen. Einmal meinte Ticke einen kurzen Blick auf etwas Schwarzes erhascht zu haben, das aber ebenso schnell wieder verschwunden war. Schließlich ging die Sonne für einen kurzen Moment auf, doch gleich darauf verschwand sie in dichten Nebelschwaden, die wie aus dem Nichts plötzlich aufwallten. Jetzt musste man seine Augen anstrengen, um noch die Umrisse vor sich zu erkennen. Sie konnten die Spinne nur noch erahnen, schwarz und unförmig wirkte sie.

Gegen Mittag riss der Nebel auf und gab den Blick auf einen wolkenverhangenen Himmel frei. Sie hielten an und aßen von den Vorräten der Morre. Es war nicht sehr gemütlich und bald zogen sie weiter.

Fünf Tage und Nächte vergingen auf diese Weise. Die Sümpfe schienen kein Ende zu nehmen. Wenn die Sicht klar war, konnten sie die winzigen Bäume am Horizont sehen, aber sie wollten nicht näher kommen. Ihre Essenvorräte neigten sich dem Ende zu, aber wenigstens hatten sie genügend Wasser, das die Feuchtigkeit auf den Gräsern hinterließ. Sie sprachen wenig, denn die Sümpfe bedrückten sie beide. Aber es schien Ticke manchmal, als würde Sed von Stunde zu Stunde trauriger. Sie vermied es, ihn mit Fragen zu quälen, denn auf die kleinsten Andeutungen reagierte er gereizt, aber er zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück, ohne dass sie wusste, was sie dagegen tun sollte.

Üx dagegen schien es gut zu gehen. Weder das Grau ihrer Umgebung noch der Hunger konnten ihr etwas anhaben, denn Spinnen zehren lange davon, wenn sie sich einmal richtig satt gefressen haben. Allerdings wurde es immer kühler und die Spinne damit langsamer. Auch Ticke und Sed froren die ganze Zeit. Sie hatten mehrmals versucht, wenigstens abends ein Feuer zu entfachen, aber alles hier war zu feucht, um zu brennen, und so mussten sie es notgedrungen wieder aufgeben.

Am Nachmittag des fünften Tages schien es ihnen, als wäre ihr Ziel, die Schemen der Bäume, dort, wo der Rand der Sümpfe sein sollte, endlich näher gerückt. Sie schöpften etwas Hoffnung und Sed brach sogar ab und zu sein Schweigen. Aber als sie die Bäume am Mittag des sechsten Tages schließlich erreicht hatten, sahen sie, dass sich dahinter weiter das Sumpfland ausbreitete und die Bäume nur eine Insel irgendwo inmitten des flachen Moores waren.

Sie zogen weiter. Trotz der Enttäuschung, dass die Bäume nicht das Ende des Sumpfes darstellten, wollte doch keiner von ihnen wirklich umkehren. Obwohl Üx, hätte sie die freie Wahl gehabt, sicher nichts dagegen gehabt hätte zu bleiben. Aber als der Nebel über den Sümpfen aufriss, glaubte Ticke, dass sie hinten am Horizont etwas erkennen konnte.

Der nächste Tag war einer jener goldenen Herbsttage, an denen die kürzer gewordenen Sonnenstrahlen noch einmal für einige Stunden den Sommer zurückholen, und doch war alles anders, zu heiß in der Sonne und zu kühl im Schatten, zu hoch und zu blau der Himmel, zu herrlich war alles, ein kurzer unwirklicher Stillstand vor dem kommenden Ende.

Gegen Mittag war die Hitze so stark, dass keiner von ihnen mehr weiterkonnte. Schweißperlen tropften von Seds Stirn und Tickes Gesicht glühte vor Mittagshitze und Sonnenbrand. Üx, die in der Wärme schneller und geschickter war, hatte den ganzen Morgen ein erstaunliches Tempo vorgelegt und die beiden anderen mitgezogen, aber jetzt war auch die Spinne ermattet. Sie fanden einen trockenen Grashügel, auf dem auch einige Blätter wuchsen. Ticke zog sich sofort in den Schatten zurück und trank gierig aus ihrer Flasche. Sed tat es ihr nach.

Während des ersten Teils ihrer Reise hatten sie nur wenige lebende Wesen gesehen, aber nun schienen die Sümpfe in der Wärme aufzuleben. Es wimmelte, brummte und summte überall. Mücken schossen im Zickzack durch die Luft, Käfer, Ameisen und Grashüpfer liefen höchst beschäftigt hin und her. Dicke Brummer flogen vorbei, Hummeln, aber auch viele Bienen und Wespen. Eine Schwebfliege stand lange bewegungslos vor ihnen in der Luft, während ihre Flügel so schnell vibrierten, dass die Augen sie nicht erfassen konnten. Sed und Ticke machten sich gegenseitig auf Schmetterlinge und Falter aufmerksam, viele von ihnen hatten sie noch nie zuvor gesehen, manche bunt gemustert, andere nur so groß wie einer ihrer Arme, weiß und fröhlich.

Sed seufzte bei dem Gedanken, endlich wieder einmal zu fliegen, die Sümpfe von hoch oben zu sehen und sie dann hinter sich zu lassen. „Vor heut Abend wären wir durch!“, sagte er vorwurfsvoll zu Ticke, die auf einem Stück Hartgebackenem kaute, das den letzten Teil ihres derzeitigen Reiseproviants darstellte. Sie zuckte die Schultern.

Aber er ließ noch nicht locker: „Mit ein bisschen Glück finden wir Ari gleich und morgen, spätestens übermorgen, bist du wieder zu Hause.“ Wo er allerdings morgen oder übermorgen sein wollte, darüber sagte er nichts, vielleicht hatte er es aber auch nur für einen Augenblick vergessen, sein Geheimnis, denn er verstummte ganz plötzlich.

Ticke fühlte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Sie steckte den Kopf unter dem Blatt hervor, um Ausschau nach Üx zu halten, konnte die Spinne aber nicht entdecken. Sie sagte sich, dass Üx wohl kaum in Gefahr war, sonst hätte sie es durch das Band bestimmt gemerkt. Dann reckte sie sich und riss den Mund zu einem tiefen Gähnen auf. Sed gab ein grunzendes Geräusch von sich, seine Augen waren geschlossen, kein Zweifel, er schnarchte schon. Das allgegenwärtige Summen und Brummen in der Luft wirkte wie ein Schlaflied, es war sinnlos, dagegen anzukämpfen, und wenige Minuten später war auch Ticke in den Schlaf hinübergeglitten.

Schon geraume Zeit über war das Brummen in Tickes Ohren angeschwollen, bis es eine Lautstärke erreicht hatte, die es unmöglich machte, es weiter zu ignorieren.

Sie öffnete ein müdes Auge, starrte in das bodenlose Blau über sich und machte sich gerade daran, auch das zweite Auge zu öffnen, da stieß sie etwas Hartes fest in die Seite und eine laute, herrische Stimme, der man anhörte, dass Widerrede hier nicht am Platz war, ließ sie zusammenzucken. Erschrocken rappelte sich Sed neben ihr auf.

Im Kreis um ihr Lager standen mindestens fünf unglaublich große Männer, sie trugen seltsame schwarze Kleidung und ebensolche Kopfbedeckungen, die es unmöglich machten, ihre Gesichter zu erkennen. Alle hatten Schwerter und Speere in den Händen, die sie drohend auf Ticke und den genauso verschlafenen Sed richteten. Der Größte in der Mitte, der eine Art Helm auf dem Kopf trug, auf dem Ticke mit Schaudern einen Schlangenkopf mit aufgerissenem Maul erkannte, brüllte Unverständliches.

Ticke versuchte, durch das Band die Spinne zu sich zu rufen, aber diese musste sich weit von ihnen entfernt haben, denn sie nahm kaum etwas von ihr wahr. Die schwarzen Männer packten die beiden Schlaftrunkenen und rissen sie auf die Füße. Der Schlangenmann, der ihr Anführer zu sein schien, zog etwas aus seiner Gürteltasche, das einer Pfeife ähnelte, und schien kräftig hineinzublasen. Doch es war kein Ton zu hören. Noch verwirrt vom Schlaf blickte Ticke sich um. Die anderen Männer waren verstummt, sie schienen auf etwas zu warten, aber nichts geschah.

Doch dann: Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein ganzer Schwarm Libellen vor ihnen auf. Die großen, geflügelten Insekten flogen in perfekter Formation, ohne dass mehr zu hören war als ein feines Sirren. Direkt vor den Männern bildeten sie eine Phalanx, hingen kurz reglos in der Luft, wie um die Männer zu begrüßen, und setzten dann zur Landung an. Sie bewegten sich vollkommen im Gleichklang. Einmal gelandet erstarrten sie, das Flirren der durchsichtigen Flügel hörte auf und sie schienen zu warten.

Sed stand der Mund vor Staunen weit offen und auch Ticke war so fasziniert, dass sie für einen Augenblick alles vergaß. Die schlanken Körper der eleganten Tiere schimmerten im Sonnenlicht wie wertvolles Geschmeide.

Einer der Männer packte Ticke roh an der Schulter, sie versuchte sich zu wehren, aber er schwang sich auf den blauglänzenden Rücken einer Libelle und zog sie mit sich. Der Mann mit dem Schlangenkopf zwang Sed vor sich auf die Größte der Libellen. Sie war beinahe doppelt so groß wie die Anderen und seltsam grünlich gestreift. Dann erhob sich der ganze Schwarm wieder wie ein einziges Lebewesen in die Luft.

In diesem Moment schrie Ticke auf, denn auf dem Boden, der bereits ein ganzes Stück unter ihnen lag, brach eine enorme, unförmige Gestalt aus dem Dickicht aus Sumpfgras und Moos. Es war Üx und sie rannte so schnell sie konnte, sie musste Tickes Befehl, zu ihrer Rettung herbeizueilen, endlich gehört haben, aber es war zu spät. Ticke wand sich und versuchte, sich gegen den schwarzen Mann hinter sich zur Wehr zu setzen, aber seine einzige Reaktion bestand in einer so kräftigen Ohrfeige, dass sie ums Haar das Bewusstsein verloren hätte. Das Letzte, was Ticke sah, war Üx, die ihnen nachstarrte. Sie stiegen höher und höher hinauf in den blauen Himmel.

Mädchen und Spinnen

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