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Gemüseeule

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Die Gemüseeule flatterte träge zwischen den Lupinen, deren Silhouetten schwarz und spitz in den Nachthimmel ragten. Über der Wiese lag die Ruhe einer Sommernacht, erfüllt von winzigen Geräuschen. Am Himmel hing der Augustvollmond. Eine kleine Wolke zog langsam an ihm vorbei.

Ari war schnell, wie immer. Sie hatte die Spitze der höchsten Lupine erreicht, bevor die Gemüseeule weitertrudeln konnte. Das geflochtene Seil diente ihr als Lasso. Einen Augenblick schätzte sie den Abstand und das gemächliche Tempo der Eule ein, wartete auf den richtigen Moment, und dann zappelte die Gemüseeule in ihrer Schlinge. Der dicke Falter war erstaunlich stark, aber das konnte Ari unter diesen Umständen nur recht sein. Sie befestigte mit ihrer freien Hand das verbliebene Seilende, indem sie es sich um die Taille schlang und mit einem doppelten Morrensteg verknotete. Morrenstege erforderten eine Menge Geschick – das sollte ihr erst einmal einer vom Baum nachmachen, noch dazu mit nur einer freien Hand! Sie summte zufrieden die ersten Takte des Reitliedes. Dann sprang sie. Von ihrem Gewicht wurde die Gemüseeule zwar ruckartig ein ganzes Stück nach unten gezogen, aber sie schwebte immer noch hoch genug über dem Boden.

Ari begann das Seil hinaufzuklettern. Man konnte sehen, dass sie jede Bewegung genoss.

Ticke stand unten und hatte den Kopf so weit in den Nacken gelegt, dass er schmerzte. Ihr Blick hing an den plumpen Umrissen der Gemüseeule und an Ari. Jetzt hatte Ari ihren Platz gefunden, sie klammerte sich am Rücken ihres Reittieres fest und stieß ein Triumphgeheul aus, das über die schlafende Wiese gellte. So spektakulär fand Ticke die Gemüseeule auch wieder nicht.

Bis zum Baum war es nicht besonders weit, aber die nächtliche Wiese war gefährlich.

Ticke seufzte, als sie sich zu Fuß auf den Nachhauseweg machte. Wer wusste schon, wohin es Ari heute Nacht verschlagen würde. Nur mit dem richtigen Duft konnte man versuchen, die Flugrichtung eines Reittiers zu beeinflussen. Ticke fröstelte.

Vor ihr türmte sich eine dunkle Wand auf. Es handelte sich um dieselbe Böschung, die sie vorhin mit Ari hinuntergestiegen war. Sie folgte dem kaum sichtbaren Pfad, der in spitzen Kehren den Erdwall hinaufführte. Oben stand der Baum, ihr Zuhause, hier würde sie in Sicherheit sein. Aber so weit war sie noch nicht. Ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie dem Loch kam. Schließlich blieb sie stehen und wappnete sich. Sie war wohl schon hundert Mal hier vorbeigekommen und trotzdem war es immer noch schlimm. In dem Loch hatte vor langer Zeit einmal eine Maus gelebt – zwar keine Spitzmaus, nur eine gewöhnliche Feldmaus, die ihr Bruder Son mit Hilfe der Anderen in einer Treibjagd eines nachts erlegt hatte. Viele Wochen lang hatten sie im nächsten Winter vom Fleisch der Maus gegessen. Ticke erinnerte sich an die großen Schinken, die ihre Mutter zum Räuchern in den Kamin gehängt hatte. Das Fell diente Son als Winterdecke. Seither war das Loch verlassen, vielleicht ahnten die Mäuse, dass ihnen hier kein ruhiges Leben möglich sein würde. „Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder eine einzieht!“ , sagte Ari immer und zupfte an der Sehne ihres Bogens. Ein selbst erjagtes Mäusefell war etwas, von dem Ari schon seit Langem träumte. Der Gedanke, drinnen, in der undurchdringlichen Schwärze des Loches, könnte etwas sein, etwas, das auf sie, Ticke, lauerte; sie aus schwarzen Knopfaugen beobachtete …

„Es wird nix passieren, das Loch ist verlassen“, redete Ticke sich mit Sons Worten gut zu. „Sei einfach schnell.“ Und Ticke war schnell. Wenn es sein musste, sogar schneller als Ari. Sogar schneller als Son. Aber nur, wenn sie Angst hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass Ari nie Angst hatte. Und Son natürlich auch nicht.

Tickes Start war gut, aber dann kam das Loch. Gerade als sie genau davor war, hörte sie etwas und geriet ins Stolpern. Ein Stein lag auf ihrem Weg – normalerweise hätte sie ihn nicht übersehen, so aber stieß sie sich hart am Schienbein, taumelte und fiel hin.

In diesem Augenblick geschah es. Ticke sah nur einen dicken Schatten auf sich zu sausen. Doch noch ehe er sie erreicht hatte, kam von irgendwo weit oben etwas noch sehr viel Größeres und schleuderte den Schatten zur Seite. Ticke wollte schreien, aber ihre Stimmbänder weigerten sich, nur ein heiseres Keuchen kam heraus. Die schwarzen Umrisse eines Käuzchens verdeckten den Vollmond. Sie hörte ein hohes, wütendes Quieken, und dann verschwand der Schatten mit seiner Beute in die Richtung, aus der Ticke gekommen war.

Wenn Ticke später versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie in dieser Nacht nach Hause auf den Baum zu gekommen war, gelang es ihr nicht, aber irgendwie musste sie es geschafft haben, sich die Böschung hinaufzuschleppen, sie musste ihre Plattform gefunden haben, ihr Haus, und sich ins Bett gelegt haben. Aber eine Dunkelheit, die sie an die Schwärze des Loches erinnerte, war alles, was sie in ihrem Gedächtnis fand, wenn sie an dieses Ereignis dachte.

Mädchen und Spinnen

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