Читать книгу Mädchen und Spinnen - Caroline Willand - Страница 11

Die Sümpfe

Оглавление

Als die Sonne endlich aufging, waren sie schon tief in den Sümpfen. Ticke und Sed klammerten sich so gut es ging an den Rückenpanzer der Spinne. Sed hatte schon eine ganze Weile nicht mehr gesprochen. Ticke warf ihm ab und zu einen Blick von der Seite zu. Er war besorgniserregend bleich und presste die Lippen fest aufeinander. Ticke vermutete, dass das mit dem Spinnengift zusammenhing oder auch mit Üx’ Geruch, der sich jetzt, als die Sonne ihr warm auf den Rücken schien, besonders entfaltete.

Als die Sonne die Mittagshöhe erreicht hatte, blieb Üx stehen. Vor ihnen lag ein breiter Wassergraben, der den Sumpf der Länge nach durchschnitt. In beide Richtungen war kein Ende abzusehen. Der Wasserspiegel lag tief unter ihnen, das Wasser selbst war so dunkel wie die weiche, schlammige Sumpferde an den Rändern. Gewaltige, hellgrüne Schachtelhalme wuchsen diesseits und jenseits des Grabens. Dahinter erstreckte sich das flache Moor fast bis zum Horizont. Winzig klein und sehr weit weg konnte man die Umrisse von Bäumen erkennen. Sed wandte sich um und betrachtete die kurze Wegstrecke, die hinter ihnen lag. Er fragte sich, wie viel Tage es wohl dauern würde, bis sie die Bäume am Horizont erreicht hatten.

„Warum wollte die Morre nicht, dass du über die Sümpfe fliegst?“, fragte er Ticke.

Die zuckte die Achseln. „Weiß nicht, schien ihr wichtig, dass die dabei ist“ – sie deutete mit dem Ellenbogen auf Üx.

„Das ist doch Fliegenkacke“, sagte Sed maulend, „hier durch, da wäre ja eine Schnecke besser gewesen und überhaupt“, er war sich bewusst wie er klang und das verärgerte ihn noch mehr, „ich hab noch nie gehört, dass jemand das Sumpfland durchquert hat und wieder nach Hause gekommen ist. Im Gegenteil, kennst du nicht die Geschichte vom grünen Golkschlürfer, der hier wohnt, und die von den Anniken, den Sumpfmorren, den Kopfbeißern …“ Er redete sich in Schwung und begann sich besser zu fühlen.

Sein Ohm, der alte Sig, war auf dem ganzen Baum bekannt als der beste Geschichtenerzähler weit und breit und Sed war stets einer seiner eifrigsten Zuhörer, Mund und Ohren weit aufrissen vor lauter Staunen. Der alte Ohm hatte immer geschworen, das wären keine erfunden Geschichten. „Alles wahr, so wahr, wie ihr mich hier stehen seht!“, war der Spruch, den er abends am großen Herdfeuer vor und nach jeder Geschichte aufsagte.

Nur einmal, da hatte Son, Tickes und Aris großer Bruder, diesen Satz kommentiert mit: „Aber Ohm, du stehst doch eigentlich gar nicht!“ Oh großer Grummel, war der Ohm da tobig geworden, wollte nix mehr erzählen, kein Ameisenscheiße-kleines bisschen mehr, hatte Son angefaucht, ihn „Besserwisser“ und „Jägersbrut“ geheißen, aber Sed und ein paar andere Golke hatten doch lachen müssen, und Sed hatte im Geheimen gedacht, dass Son schon recht gehabt hatte.

Deshalb war er auch nicht ganz sicher, ob es die Anniken und Sumpfmorren wirklich gab, aber wie er jetzt so über das riesige Sumpfgebiet schaute, das vor ihnen lag und über dem die Spätsommerwärme die Luft flimmern ließ, kams ihm nicht so unwahrscheinlich vor.

Ticke aber hatte andere Sorgen als alte Märchen der Schmetterlingsleute. Sie überlegte, wie sie wohl über den Graben kommen sollten. Er war nicht allzu breit, aber durch mussten sie und wer wusste schon, wie tief er war. Sie versuchte mit Hilfe des Bandes festzustellen, wie die Spinne Üx darüber dachte, aber wenn die Spinne dazu eine Meinung hatte, dann weigerte sie sich, ihre Gedanken preiszugeben. „Wir müssen aber rüber!“, sagte Ticke laut.

Sowohl Üx als auch Sed seufzten innerlich bei diesen Worten. Ticke zwang Üx vorwärts, den Rand des Grabens hinunter ins Wasser. Spinnen lieben das Wasser nicht und Üx war keine Ausnahme. Wüste Schimpfworte in sich hinein grummelnd, streckte sie vorsichtig ihre vorderen Beine aus und sank im Grabenschlick sofort ein gutes Stück ein.

„So gehts nicht!“ Ticke lenkte die Spinne wieder zurück ans Ufer. Sie sahen sich hilflos an und keiner der beiden hatte eine Idee.

Doch der Zufall kam ihnen zur Hilfe. Ein leichter Wind war aufgekommen, er wehte Herbstlaub vor sich her und einige bereits vergilbte Blätter landeten vor ihnen auf dem Wasser und trieben nun unbemannt und ausreichend groß auf dem Graben dahin. Ticke überlegte nicht lange, sondern befahl der Spinne mit ihren langen Beinen ein Blatt näher heranzuziehen.

„Ein Boot!“, staunte Sed.

Und wirklich, da sie nicht mehr wogen als zwei Ameisen, wurde das Blatt von ihrem Gewicht kaum nach unten gedrückt, als sie ihre Rucksäcke daraufhoben und sich dann selbst hinaufzogen. Die gerippte Oberfläche war trocken und sie saßen bequem.

„Viel gemütlicher als der stinkige Rücken von diesem Ekel!“ Sed nickte mit dem Kinn zu Üx hinüber.

Doch als die Spinne versuchte, ihren massigen Leib auf das Blatt zu ziehen, wurde es am Rand nach unten gedrückt und das Wasser des Grabens lief hinein.

„Zum Drummel, wir sinken!“ Ticke, die mit Wasser nichts anfangen konnte, wurde ziemlich blass und versuchte, den nassen Stellen auf ihrem Boot auszuweichen, was das Schwanken noch verstärkte. Doch schließlich gelang es der Spinne, sich ganz auf das Blatt zu ziehen, und es erwies sich tatsächlich als stabil genug, um ihnen allen als Boot zu dienen.

Zuerst drehte sich ihr Blattboot nur um die eigene Achse und es schien schon, als sei das keine Idee gewesen, die sie weiterbrachte, aber dann erfasst die Brise das Blatt und es nahm rasch Fahrt auf. Der Wind blies um ihre Ohren, zauste Seds Locken und ließ Tickes lange Zöpfe flattern. Sie genossen es, wie schnell und leicht ihr Blattboot auf der Wasseroberfläche dahintrieb. Hin und wieder drehte es sich, kam dann aber immer wieder auf Kurs. Das Wasser, sehr klar, wenn nichts den Morast aufwühlte, kräuselte sich leicht im auffrischenden Wind. Sie wurden den Graben entlanggetrieben, das andere Ufer war bereits sehr nah, aber sie konnten nicht landen.

„Wir müssten das Ding irgendwie lenken.“ Sed blickte sich besorgt um. Dann hellte sich seine Miene auf, als er ein Blatt mit einem dünnen Zweiglein daran so nah an ihnen vorbeitreiben sah, dass er es zu fassen kriegte. Er zog es heran, holte sein Messer aus der Tasche, schnitt den Zweig ab. „Mal sehen, ob ich das hier steuern kann“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Ticke.

Jetzt rückte das andere Ufer näher und sie atmeten innerlich auf. Sed stieß Ticke mit dem Ellenbogen in die Seite. „Das klappt ja wie’s Eierlegen.“

Ticke wollte schon etwas Zustimmendes erwidern, doch da fiel ihr Blick auf zwei seltsame Buckel, die weiter hinten aus dem Wasser ragten und rasch näher kamen. Eine kleinere, dritte Erhebung schien vor ihnen zu schwimmen, doch gerade als Ticke Sed darauf aufmerksam machen wollte, tauchten die Buckel unter.

Ein großer dunkler Schatten schoss unter Wasser auf sie zu. Ticke packte Seds Arm, doch in eben diesem Moment tauchte etwas Riesenhaftes mit einem lauten Platschen aus dem Wasser; etwas schoss direkt auf Üx zu. Es war lang und bräunlich. Das Ding verfehlte die Spinne um Haaresbreite, doch die war so erschrocken, dass sie einen Schritt zurückwich und über die Blattkante ins Wasser stürzte. Sie versuchte sich zwar sofort wieder nach oben zu ziehen, aber mit ihren wasserschweren Beinen rutschte sie immer wieder ab und brachte dabei ihr Blatt gefährlich aus dem Gleichgewicht.

Und plötzlich tauchten auch die seltsamen Kugeln wieder auf, sie waren nun viel näher und schienen direkt auf die wehrlose Spinne zuzuhalten. Jetzt erkannte Ticke, dass es Augen waren, große schwarze Pupillen mit goldfarbenem Hintergrund. Sie presste sich die Faust in den Mund um nicht zu schreien.

„Sch“, zischte Sed, beinahe tonlos, „nicht bewegen, ’n Grüner, ’n Frosch, das lange braune Ding war seine Zunge, die ist am gefährlichsten!“ Sehr langsam zog Sed etwas aus seiner Tasche, das Ding leuchtete kurz in seiner Hand auf, als er vollkommen ruhig ausholte, zielte, es zischte durch die Luft und traf mit einem klatschenden Ton genau zwischen die unheimlichen gewölbten Augen. Augenblicklich waren sie verschwunden.

Doch ihnen blieb keine Zeit aufzuatmen. Ob nun ihr Angreifer Wellen verursacht hatte oder ob es an Üx’ letztem verzweifelten Versuch lag, sich wieder aufs Blatt zu ziehen, jedenfalls war das der Moment, in dem ihr Blatt vollkommen überflutet wurde und endgültig sank.

Ticke, die nicht schwimmen konnte, ging sofort unter, kam dann wild um sich schlagend wieder an die Oberfläche, verzweifelt schnappte sie nach Luft, um sofort wieder zu versinken.

Sed konnte zwar schwimmen, aber er konnte es nicht sehr gut. Er versuchte, Ticke zu packen und gleichzeitig nicht an den Frosch zu denken, dem sie jetzt hilflos ausgeliefert waren, während die Spinne, bemüht sich ebenfalls über Wasser zu halten, mit ihren riesigen Beinen das Wasser um sie herum aufwühlte.

Sed packte einen Arm Tickes und hielt fest, Wasser lief ihm in Mund und Nase und er war sich sicher, dass sie ertrinken würden; blind tastete er nach Halt, nach dem Blatt, nach irgendetwas. Seine andere Hand erwischte ebenfalls etwas, es war ein Spinnenbein. Die Spinne fühlte, wie sie durch das Gewicht der beiden Golke in die Tiefe gezogen wurde und versuchte sie abzuschütteln. Dabei traf sie Ticke mit einem ihrer anderen Beine hart am Kopf. Unwillkürlich ließ Sed seine Freundin los und voll Entsetzen sah er, wie sie in der Tiefe verschwand.

Doch im selben Augenblick hörten die wilden Bewegungen der Spinnenbeine auf, stattdessen versank Üx ebenfalls, nur um einen Augenblick später verzweifelt um sich schlagend wieder aufzutauchen, die noch immer reglose Ticke mit den Beinen vor sich her an die Wasseroberfläche schiebend und stoßend.

Plötzlich sah Sed Tickes vom Wasser geschwärzten Lederschuh vor sich. Er packte zu und bekam den Fuß zu fassen. Und die Spinne – später fiel ihm das nicht leicht zu glauben – die Spinne half ihm, trotz ihrer eigenen Nöte, indem sie ihre Reiterin von unten hochschob.

Dennoch wäre es sicher schlecht für die drei Reisegefährten ausgegangen, wären sie bei ihrem Kampf gegen das Ertrinken nicht unversehens näher an das Ufer herangekommen. Hier war das Wasser viel flacher, und zu seinem Erstaunen spürte Sed plötzlich Grund unter seinen Füßen. Er hielt Ticke so fest er konnte und es gelang ihm, sie ins flachere Wasser und schließlich an Land zu ziehen. Sie war bleich und sah aus wie tot.

Er schüttelte sie. „Atme, Ticke, bitte, atme!“ Doch Ticke bewegte sich kein bisschen. Er versuchte zu erkennen, ob sich ihr Brustkorb hob und senkte, aber in seiner Aufregung war das unmöglich. Er stieß alle Flüche aus, die er kannte, die übelsten und die verbotensten. Sie konnte doch nicht tot sein! So schnell starb man doch nicht! Tausend Sumpfmorren, das ging doch nicht! Er spürte, wie ihm die Tränen kamen und verzweifelt sah er sich nach möglicher Hilfe um.

Sein Blick fiel auf die große Spinne, die sich ebenfalls ans Ufer gerettet hatte, und ihm wurde klar, dass sie ihn schon die ganze Zeit über mit ihren acht Augen fixierte. Sie hatte Ticke doch geholfen, vielleicht konnte sie noch mehr tun. Hoffnung keimte in ihm auf, als sie ihre langen Beine klicken ließ.

Doch da griff die Kreuzspinne so plötzlich an, dass er nicht einmal fluchen konnte. Sie packte ihn mit ihren vorderen Beinen und riss ihn hoch. Instinktiv wollte er sich festhalten, seine Hand krallte sich an das Einzige in Reichweite, einen von Tickes nassen Zöpfen. Dann sah er die giftigen Klauen der Spinne über sich und Sed wurde schlagartig klar, dass es jetzt vorbei war mit Sed Raupenhüter.

„Schon“, ging ihm noch durch den Kopf, aber da ließ die Spinne ihn ebenso plötzlich fallen wie sie ihn gepackt hatte. Er landete auf dem Boden.

„Lasst das doch!“, hörte er eine müde Stimme hinter sich.

Tickes Stimme war das. Sie saß da und rieb sich die Stirn. Er war so erleichtert, sie am Leben zu sehen, dass er sie umarmte.

„Du zitterst ja“, sagte Ticke erstaunt und Sed bemerkte erst jetzt, dass sein ganzer Körper bebte. Schnell löste er sich von ihr.

„Die da wollte mich fressen!“ Anklagend deutete er auf die Spinne.

Ticke sah zu Üx hinüber. Sie sagte kein Wort, aber Sed hoffte, dass Ticke ihr durch das Band schwer den Marsch blies. „Du Ungeheuer!“, fauchte er die Spinne an, aber deren viele Augen schienen ihm betont in alle Richtungen außer in seine zu schauen.

Wie drei, anstelle einer einzigen nassen Spinne, krochen sie die matschige Böschung ganz nach oben, wo sie sich sofort zu Boden fallen ließen. Alle drei waren sie nach ihrem Abenteuer vollkommen erschöpft, keiner von ihnen konnte noch einen klaren Gedanken fassen.

Es war bereits später Nachmittag, aber die Sonne schien noch warm und freundlich auf die drei herunter, die hier mitten im Sumpf lagen und schneller eingeschlafen waren, als es an einem solchen Ort ratsam erschien.

Sed träumte. Er wanderte herum und suchte. Um ihn waren Mauern, sehr viele und sehr alte Mauern, verfallen, überwachsen und versteckt mitten im Schilf. Er wusste, dass er schon sehr lange suchte und wenn er das, was er suchte, nicht bald fand, würde es zu spät sein. All das wusste er mit dieser Sicherheit, mit der man Dinge in Geschichten und Träumen einfach weiß.

Auch Ticke träumte. Sie träumte, sie wäre wieder ein kleines Golk und saß auf dem Rücken ihrer Mutter, die Beine um deren Hüfte geschlungen. Ari war auch dabei, sie schrie, weil sie mit einem Bogen schießen wollte, aber nicht durfte. Sie schrie und schrie und ihr Schrei gellte Ticke so in den Ohren, dass sie sie sich zuhalten musste, aber es nützte nichts, das Schreien wurde immer lauter und Ticke konnte es nicht länger aushalten, sie konnte es nicht länger ertragen …

… sie riss die Augen auf. Anscheinend war die einzige Möglichkeit, dem gellenden Schrei zu entkommen, einfach aufzuwachen. Über ihr wölbte sich noch immer der Himmel, aber er war nun nicht mehr von abgründigem Nachmittagsblau, sondern sanfter, abendlicher. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wo sie war.

Nach und nach kam alles wieder, langsam, wie um ihr nicht zu viel auf einmal zuzumuten. Sie setzte sich auf. Sed lag neben ihr, er schlief, aber sein Gesicht sah verkniffen aus, als sei es anstrengend zu schlafen. Die Spinne war nirgends zu entdecken, doch Ticke konnte ihre Nähe spüren. Ihre satte und zufriedene Nähe. Das Jagdglück war der Spinne hold gewesen. Vielleicht würde sie Sed erst einmal in Ruhe lassen. Auch Ticke hatte Hunger.

Die Morre hatte ihr Trockenfleisch, Hartgebackenes und getrocknete Beeren eingepackt, aber das alles war in ihrem Rucksack gewesen und der war bei der Überquerung des Grabens verloren gegangen. Und mit ihm all das andere Notwendige, von dem Sedna gesagt hatte, dass man es auf Reisen unbedingt brauchte. Nichts von allem hatte Ticke überhaupt gewusst, was oder wozu es gut war, aber jetzt war es ohnehin verloren.

Sie erhob sich und stand auf wackeligen Beinen. Immerhin hatte die Sonne sie getrocknet. Doch sie hatte sie auch ausgedörrt und nun quälte sie Durst. Wasser gab es hier überall, aber das Sumpfwasser durfte man nicht trinken, das wusste jeder. Von Sumpfwasser bekam man Fieber und böse Träume. Sie dachte kurz an ihren Traum mit der schreienden Ari zurück. „Ein bisschen Sumpfwasser habe ich wohl schon geschluckt heute“, dachte sie und versuchte zu grinsen, aber es gelang ihr nicht, denn nachdem sie einmal darauf aufmerksam geworden war, quälte sie der Durst zu sehr.

Sie ging zum Rand des Grabens und blickte hinunter aufs Wasser. Für Sumpfwasser schien es ihr sehr klar, vielleicht sogar trinkbar. Sollte sie das Risiko eingehen? Vielleicht wäre es besser, zu warten, was Sed sagte, möglicherweise hatte er eine Idee.

Doch während sie noch aufs Wasser starrte und überlegte, fiel ihr plötzlich etwas Großes auf, das ein gutes Stück weit weg am selben Ufer lag. Das Ding bewegte sich nicht, hatte aber etwas Vertrautes an sich. Neugierig ging sie hinunter ans Wasser. Der Frosch kam ihr wieder in den Sinn, aber weit und breit war nichts Beunruhigendes zu entdecken. Sie näherte sich dem Ding und stieß einen Jubelschrei aus: kein Zweifel, ihr Rucksack. Er war an Land gespült worden. Sicher war alles nass, aber vielleicht ließ sich das eine oder andere doch noch benutzen.

Ticke wollte ihren kostbaren Fund schon zurück zu Sed tragen, da sah sie noch etwas, das anscheinend an Land gespült worden war. Es glänzte im Schlamm, in den es so tief eingesunken war, dass Ticke es beinahe übersehen hätte. Sie griff danach und zog das schmutzige Ding heraus. Es war nicht groß, aber es lag schwer und glatt in ihrer Hand: eine Kugel, massiv und wunderschön. Eine Kugel ganz aus Gold.

Ticke kannte sie. Jeder auf dem Baum kannte sie. Diese Kugel gehörte Szonna. Szonna war die Tochter des ersten Raupenhüters und ihr waren wahrscheinlich mehr Wintergedichte gewidmet worden, als der Baum im Sommer Blätter trug, denn sie war wunderschön. Allerdings war sie auch genauso eingebildet. Ari hasste sie mitsamt ihrer goldenen Kugel.

Ticke war starr vor Staunen. Sie konnte sich natürlich irren, vielleicht gab es ja noch so ein goldenes Ding,

Aber dann fiel ihr das ein, was in Seds Hand aufgeblitzt war, vorhin, als er sie vor dem Grünen gerettet hatte.

Als Ticke die Böschung heraufkam, langsam, den nassen Rucksack über der Schulter und den goldenen Ball in einer Hand, fand sie Sed auf dem Boden sitzend. Er sah verwirrt aus, suchend, denn der Traum von vorhin klang noch immer in ihm nach, aber davon wusste Ticke natürlich nichts.

„Hej“, sagte sie, „guck, was angespült wurde.“ Und sie hob den Rucksack hoch, doch er beachtete ihn gar nicht. Er starrte auf ihre andere Hand; die Hand mit dem goldenen Ball.

„Ja, das auch“, sagte sie leiser.

Sein Blick war abwehrend, sie konnte sehen, dass er nicht darüber sprechen wollte, wie und warum Szonnas goldene Kugel hier in die Sümpfe gelangt war. Unschlüssig, ob sie ihn trotzdem danach fragen oder einfach darüber hinweggehen sollte, kam Ticke näher. Er wich ihren Blicken aus und betrachtete seine Zehen.

Sie stellte den Rucksack vor ihn auf den Boden, kniete sich daneben und begann ihn auszupacken. Erstaunt stellte sie fest, dass fast kein Wasser eingedrungen war, ihre Sachen waren nur etwas feucht, ansonsten aber unversehrt. Sie zog die lederne Trinkflasche heraus. Bei ihrem Anblick übermannte sie der Durst heftig, sie trank ein paar tiefe Schlucke, reichte sie dann aber an Sed weiter, der sicher ebenso durstig war wie sie.

Sed, der noch immer seine Füße anstarrte, hob den Kopf, nahm die Flasche und trank auch. Aber nach zwei Schlucken setzte er die Flasche wieder ab. „Wir dürfen nicht so viel trinken, das ist alles, was wir haben, bis der Tau fällt.“

Ticke nickte langsam. „Wo ist deine Flasche?“, fragte sie.

Sofort kehrte sein Blick zurück zu seinen Füßen. Sie war erstaunt, sie hatte natürlich gewusst, dass das eine sinnlose Frage war, sie konnte ja sehen, dass er keine Flasche hatte, schon als sie heute früh aufgebrochen waren, hatte sie es gesehen, hatte es da aber noch nicht wirklich wahrgenommen, zu viel anderes war ihr durch den Kopf gegangen. Aber natürlich hatte jeder, der den Baum verließ, eine Sache mit Sicherheit dabei, seine lederne Flasche.

Sie erinnerte sich daran, ihre am Gürtel getragen zu haben, wenn auch nur noch zwei Fingerbreit Wasser darin gewesen war, als sie irgendwann in der fernen Vergangenheit – so schien es ihr; auch wenn es nur gestern Morgen gewesen war – mit Sed aufgebrochen war, um die Morre zu besuchen. Und Sed hatte damals seine ebenfalls bei sich getragen, auch daran erinnerte sie sich jetzt ganz deutlich. Ihre Flasche hatte die Morre gefüllt, als sie ihr den Rucksack packte, während Ticke schlief, müde vom Knüpfen des unheimlichen Bandes.

Aber wo war Seds Flasche geblieben? Ticke wurde bewusst, dass diese Frage mit einer ganzen Menge anderer, mehr oder weniger schwieriger Fragen verbunden war, etwa: Was hast du heute Morgen nahe der Erlenböschung gemacht, als du mit Üx zusammengetroffen bist? Wieso hast du den Baum ohne Flasche verlassen? Oder die schwierigste Frage von allen: Warum trugst du Szonnas Ball bei dir? All das waren berechtigte Fragen, aber sie spürte, dass Sed sie ihr nicht beantworten wollte. Sie fühlte sich sehr ungemütlich, denn ohne dass sie diese Fragen wirklich gestellt hatte, hingen sie da in der Luft zwischen ihnen und würden auch nicht einfach verschwinden, sondern weiter da hängen, bis sie sie gestellt und er sie beantwortete hatte, das wusste sie, obwohl sie jetzt einfach begann den Rucksack weiter auszupacken und die einzelnen Dinge zwischen ihnen beiden auf dem Boden auszubreiten.

Sie reichte ihm etwas vom Hartgebackenen der Morre, aß selbst etwas, auch ein bisschen von allem anderen aus ihren Vorräten, aber seltsam – trotz all der Anstrengungen des Tages hatte keiner von ihnen großen Hunger.

Doch dann fiel Ticke ein, dass es auch noch etwas anderes gab, über das sie nachdenken musste. Sie stand auf und ging ein paar Schritte weg vom schweigend vor sich hin kauenden Sed. Über das Band fühlte sie nach der Spinne, obwohl es nicht wirklich nötig war, denn jetzt konnte sie Üx auch mit bloßem Auge erkennen.

Etwas entfernt standen einige Sumpfgräser und die Spinne hatte die Zeit genutzt, um ein Netz zu bauen. Zwei Fliegen, die ihr unvorsichtigerweise in die Falle gegangen waren, hingen bereits eingewickelt darin. Üx ging es gut, das konnte Ticke spüren. Etwas schüchtern zog sie an der unsichtbaren Verbindung. Die Aufmerksamkeit der Spinne wandte sich ihr so ruckartig zu, dass sie beinahe erschrocken zurückgewichen wäre. Sie versuchte, die Gefühle der Spinne zu entziffern. Nun, da sie satt war, war sie nicht mehr so sehr voll Zorn und Empörung.

„Hallo, Üx!“, sagte sie. Die große Spinne reagierte nicht, aber Ticke spürte ihre wachsam lauernde Aufmerksamkeit. Sie fühlte, wie sich die kleinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten. All die Aufregungen bei der Überquerung des Wassergrabens hatten sie vergessen lassen, was für ein unheimliches und gefährliches Tier die Spinne noch immer war. Sie wusste nicht mehr, was sie eigentlich hatte sagen wollen, vielleicht: Danke, dass du mich vorhin vor dem Ertrinken gerettet hast, oder etwas in der Art, aber stattdessen drehte sie sich um und ging zurück zu Sed.

Er beachtete sie noch immer nicht. Ticke seufzte schwer. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, und das hätte sie auch schon längst getan, wäre sie noch daheim bei den Schmetterlingsleuten gewesen. Aber seit sie auf dieser Fahrt waren, war alles anders geworden.

Sed saß hier, betrübt und irgendwie ängstlich und es war an ihr zu sagen, wie es weitergehen sollte. Also durfte sie jetzt nicht weinen. Mit einem Blick auf die sinkende Sonne sagte sie: „Wir bleiben heute Nacht am besten hier.“

Er nickte stumm.

Mädchen und Spinnen

Подняться наверх