Читать книгу Mädchen und Spinnen - Caroline Willand - Страница 8

Platte

Оглавление

Als sie dieses Mal erwachte, war es Nacht. Sed kniete neben dem Lager, er hatte sie geweckt. „Steh auf, Sedna wartet.“

Mühsam rappelte Ticke sich auf und fuhr sich durch die Haare. Es dauerte, bis die ganze Erinnerung wieder da war, doch Sed hatte es eilig. Er ließ ihr nicht viel Zeit, genauer nachzufragen, drängte sie aufzustehen und mit ihm zu kommen. Sie traten vor Sednas Hütte, und er machte sich daran, die Strickleiter herunterzuklettern. Ticke wich zurück, ihr war nicht nach so einer nächtlichen Kletterpartie, am liebsten wäre sie wieder im Bett gewesen, doch Sed winkte ungeduldig über den Rand.

Hintereinander kletterten sie die endlose Leiter wieder nach unten. Schließlich hatten sie den Boden erreicht und Sed verschwand sofort in der Finsternis. Ticke dachte unwillkürlich darüber nach, was dort in der Dunkelheit alles lauern konnte, und blieb einen Moment wie gelähmt auf der Leiter stehen, aber dann folgte sie ihm.

Schemenhaft sah sie ihn vor sich. Als Ari verschwand, war der Mond voll gewesen, aber jetzt war nicht mehr viel von ihm übrig. Leise rief sie Sed, damit er langsamer ginge, aber er achtete zuerst nicht darauf. Doch plötzlich blieb er stehen, und Ticke holte ihn ein. Vor ihnen war nur Schwärze und es dauerte einen Moment, bis Ticke begriff, dass sie vor einer steinernen Wand standen. Sed legte eine Hand daran und begann an der Wand entlangzugehen, Ticke griff nach seiner freien Hand und ließ sich führen. So wanderten sie ein ganzes Stück an der Mauer entlang, bis sie an einer Stelle anlangten, wo ein Strauch dicht an der Wand wuchs.

„Klettern!“, war alles, was Sed sagte, und schon begann er, den Strauch zu erklimmen.

Ticke seufzte. Die kleinen Leute hatten scharfe Augen in der Dunkelheit. Ticke war keine Ausnahme. Im Dunkeln Klettern war etwas, das man einfach können musste, aber sie fragte sich, warum das ausgerechnet jetzt sein musste. Mit einem winzigen Seufzer griff sie nach dem untersten Zweig des Strauches.

Vom Strauch aus war es leicht, den höchsten Rand der Felswand zu erreichen.

Oben angekommen, versuchte Ticke zu erkennen, wo sie war. Das schwache Licht des abnehmenden Mondes ließ eine steinerne Ebene erahnen, die sich vor ihnen ausbreitete.

Sie hatte von diesem Ort gehört. Er hieß Platte. Es handelte sich um einen enormen, flachen Findling, vollkommen eingewachsen in Sträucher und in kleine und große Birkenschösslinge, die ihn umstanden. Die Rinde der größeren Birken leuchtete hell in der Dunkelheit. Weiter vorne war aber noch ein anderes, wärmeres Leuchten zu sehen – der Schein eines kleinen Feuers. „Die Morre“, sagte Sed und nickte in die Richtung des Scheins.

Am Feuer saß Sedna und hielt in der einen Hand einen runden Rahmen, während sie mit der anderen einen Faden darauf zu spannen schien. Sie nickte ihnen zu, beachtete sie sonst aber nicht weiter und so setzten sie sich, warteten und hörten zu, wie die Morre leise vor sich hin summte, während sie ruhig ihre Fäden aufzog.

Tickes Blick fiel auf einen kleinen Kessel, der ins Feuer gehängt war. Kessel waren selten. Jede Plattform hütete ihren Kessel, jede hatte einen. Die Kessel waren aus hartem Zeug gemacht, ganz schwarz waren sie, aber das lag vielleicht auch nur am Feuer der unendlichen Reihe von Jahreszeiten, während denen Suppe im Kessel gekocht hatte. Sedna hatte anscheinend ihren eigenen, kleinen Kessel, doch als die Morre schließlich zum Feuer ging und den Kessel holte, sah Ticke, dass darin keine Suppe war, aber doch ein Gebräu von ganz ähnlicher Farbe, nur viel dünner.

Sein Geruch stach in der Nase und erinnerte an Moder und alte Tümpel. Gedankenverloren schnupperte Sedna, dann, vollkommen unvermittelt, wandte sie sich Sed zu. „Junge, was macht man bei den Schmetterlingsleuten, wenn man einen ausgewachsenen Falter sein Eigen nennen will?“

Sed blickte erstaunt, zögernd sagte er: „Man … man reitet ihn?“

Sedna ließ ihr fröhliches Kichern hören. „Jawoll, so ist es. Nach den Gesetzen der Schmetterlingsleute klettert man einfach auf den Rücken des Tieres, das man sich zu eigen machen will. Wenn mans schafft, so lange oben zu bleiben, dass man in der Zeit einmal das Reitlied singen kann, dann ist der Falter dein. Aber früher, als ich noch eine kleine Larve war – damals ritt man nicht nur Schmetterlinge und Falter, damals ritt man alles, was man sich traute. Käfer, Bienen, Würmer, egal. Wir haben an Schnecken geübt“ – die Stimme der Alten klang jetzt versonnen – „Schnecken waren natürlich nicht schnell, gut fürn Anfang, aber pfui Rabenei, der Glitsch ging kaum noch runter, hinterher.“

Sed und Ticke staunten. Schneckenreiten? Und Würmer? „Bäh“, sagte Ticke, und Sed konnte ihr nur zustimmen.

„Aber nicht alles, was man ritt, machte man sich auch wirklich zu eigen, das war damals so wie heute“, erzählte Sedna weiter, „dazu braucht es ’n bisschen mehr. Warum sollte man sich auch alles Mögliche zu eigen machen? Du!“ – mit langem, spitzen Zeigefinger deutete sie auf Sed, als wolle sie ihn aufspießen, „du, Raupenzüchterssohn, was muss geschehen, damit man ein Tier ganz sein Eigen nennen kann?“

Sed wollte nicht, dass Ticke es merkte, aber er hatte ziemlichen Respekt vor der alten Morre und wie ein Blitz kam seine Antwort, die seine Eltern ihm so oft eingebläut hatten, dass er keinen weiteren Gedanken verschwenden musste: „Soll ein Tier ganz dein Eigen werden, dann knüpf ein Band und so trägt es dich, wohin du willst, solang du willst, denn du bist ein Teil von ihm geworden und es ein Teil von dir.“

„Und?“, fragte die Alte weiter.

Sed warf ihr einen hilflosen Blick zu, sagte aber nichts mehr.

„Und?“ Sednas Stimme hatte nun einen schärferen Klang.

Sed wirkte noch unsicherer: „Was soll ich sagen?“

„Na, wie das Band entsteht? Wie knüpft mans?“

„Aber … aber ist das nicht geheim?“

Ticke hatte das bisherige Gespräch interessiert verfolgt, aber während ihr die Sache mit dem eigenen Reittier natürlich bekannt war, so wurde ihr jetzt zum ersten Mal bewusst, dass das nicht alles war. Sie war erstaunt, denn sie wusste einiges über die Schmetterlingszucht, und dass es hier Geheimnisse geben sollte, deren Existenz sie bisher noch nicht einmal geahnt hatte, wäre ihr bis zu diesem Tag unmöglich erschienen. Aber Sednas dunkle Augen hielten Sed fest und dieser wand sich wie ein Regenwurm, sagte aber nichts als hmm und äh.

Nie zuvor hatte Ticke sich große Gedanken über die engen Verbindungen gemacht, die einige der Schmetterlingsleute mit ihren Tieren eingingen. Jeder von ihnen, ob Mann, Frau oder Golk hatte einen Liebling, aber das blieb nicht zwingend so. Tiere starben oder man sah einen anderen, noch prächtigeren Falter, und es war nichts weiter dabei, seinem bisherigen Liebling Lebewohl zu sagen und zu wechseln. Natürlich war es schwer, ein Tier daran zu gewöhnen, einen zu tragen und sich mit ihm vertraut zu machen, deshalb wechselte man nicht leichtsinnig; dennoch, irgendwie geheimnisvoll war die Sache Ticke bisher nie erschienen.

Sed selbst hatte bis vor Kurzem fast nur Moli mit den zartgelben Flügeln geritten, doch jetzt war sein Reittier ein junger, ungewöhnlich starker Admiral, den er Dork nannte, das Wort der Schmetterlingsleute für Donner. Ticke fand das ziemlich angeberisch, doch Sed liebte Dork und war nie müde, die Stärke, Schönheit und Ausdauer seines Reitschmetters zu preisen. Ihr Gedankengang wurde von Sedna unterbrochen, die sich jetzt direkt an Ticke wandte:

„Ein echtes, ein wirkliches Band zu knüpfen ist eine besondere Sache, Räupchen. ’s is’ kompliziert und für immer, und die Schmetterlingsleute sprechen nicht drüber, denn es ist Trix. Heutzutage macht mans nicht so oft, denn ein Band lässt sich nur schwer wieder lösen, meist gar nicht mehr. Und es bringt Verpflichtungen, aber es kann ungemein hilfreich sein. Wie schon gesagt“ – Sedna betrachtete den Webrahmen in ihren Händen und machte eine kleine Pause …

„Wie schon gesagt“, nahm sie gleich darauf den Faden wieder auf, „man ritt früher jede Art Reittier und man knüpfte auch Bänder zu anderen Tieren, jede Art von Tier, aber es ist eine schwierige Sache. Du bist keine Raupenzüchterin, aber du hast mich aus einer schlimmen Lage gerettet, und deshalb werd’ ich für dich ein Band knüpfen. Es wird allerdings nicht unbedingt eine Sache sein, die dich immer glücklich machen wird. Aber das Band kann dir helfen; ’s kann dir helfen, deine Schwester zu finden.“

Ticke starrte Sedna an. Ari finden? Selbst losgehen und ihre Schwester retten? Natürlich wollte sie das, irgendwie. Sie hatte den Gedanken bisher nur nie wirklich gedacht, denn was hätte sie, fast noch ein Golk, auch tun können, wenn noch nicht mal die erfahrensten Männer auf ihren Reitschmetterlingen eine Spur von Ari finden konnten?

Aber nun wollte Sedna ihr ein eigenes Reittier geben und egal was es mit diesem Band-Geheimnis auf sich hatte, auf alle Fälle würde sie, Ticke, einen eigenen Schmetter haben. Immer hatte sie sich ein Pfauenauge gewünscht, so wunderschön, stark und sanft wie Egg, die Seds Vater, Arvid, gehörte. Alle Golke träumten von einem eigenen Schmetter oder Nachter, eine Freundin oder einen Freund zu haben, der sie hoch über die Wiese tragen würde, durch Sturzflüge und Abenteuer. Alle Golke.

Nur, dass die Golke der Jäger diesen Traum, der sich nie erfüllen würde, nur heimlich träumten und irgendwann aufgaben. Oder man machte es wie Ari und kaperte freie Schmetterlinge, um wenigstens kurz in den Genuss eines Fluges zu kommen.

„Aber das eigentliche, das wirklich Wichtige daran“, dachte Ticke, „ist nicht das Fliegen, so schön es bestimmt ist, sondern die Verbindung zwischen Schmetterling und Reiter. Das Band“, dachte sie, und zum ersten Mal wurde ihr in aller Deutlichkeit bewusst, was vielleicht schon immer offensichtlich gewesen war; das Band konnte mehr sein als das normale Verhältnis zwischen Tier und Reiter, sogar mehr als Zuneigung und Freundschaft. Das Band konnte stärker sein als all das.

Und nun, nachdem sie sich seit langer Zeit damit abgefunden hatte, niemals einen eigenen Schmetter zu haben – meistens zumindest – nun sollte sie, Ticke, das Jägergolk, ein eigenes Reittier haben, ganz für sich. Und auf ihr – denn sie hoffte sehr, es würde ein Weibchen sein – auf ihr könnte sie über der Wiese kreisen und vielleicht würde es ihr dann gelingen, die ersehnte Spur zu finden und ihre Schwester aus der fürchterlichen Klemme zu befreien, in der sie wohl stecken musste. Wie würden alle staunen. Niemand könnte sich dann darüber aufregen, dass Jäger nun doch ausnahmsweise einmal flogen. Und niemand würde mehr dieses scheußliche Mitleid im Blick haben, wenn er sie betrachtete.

Ihre Träumereien hatten sie allerdings so abgelenkt, dass sie einiges von Sednas Erklärungen verpasst haben musste, denn jetzt sagte diese gerade: „… musst dir der Gefahr bewusst sein, ’s wird nicht angenehm, das Knüpfen.“

Aber Ticke war sich sicher, zu allem bereit zu sein. Ein eigenes Reittier war jede Anstrengung wert.

Mädchen und Spinnen

Подняться наверх